Sonntag, 22. Mai 2016

Ken Loach gewinnt seine zweite Goldene Palme

Da sieht man wieder, wie weit Kritiker- und Jury-Meinungen auseinander liegen können: Beim 69. Filmfestival von Cannes hat fast keiner der in den letzten zwei Wochen von der Weltpresse favorisierten Filme einen Preis gewonnen, oder sagen wir: Den Preis gewonnen, den man ihm zugestanden hätte. Die Jury rund um Regisseur George Miller, der unter anderem Vanessa Paradis, Mads Mikkelsen, Valeria Golino und Kirsten Dunst angehörten, zeichnete am Sonntag Abend in Cannes den Briten Ken Loach für dessen Sozialdrama "I, Daniel Blake" mit der Goldenen Palme aus - völlig überraschend, nachdem Loach niemand für den Hauptpreis des Festivals auf dem Radar hatte. Loach hat damit als achter Regisseur - nach Kollegen wie Michael Haneke, den Dardenne-Brüdern, Francis Ford Coppola oder Emir Kusturica - bereits zwei Palmen gewonnen, zuletzt 2006 für "The Wind that Shakes the Barley".
Siegerfilm "I, Daniel Blake" von Ken Loach. (Foto: Festival de Cannes)

Weshalb überraschend? Loach hat immerhin ein sozialpolitisch relevantes Drama mit nach Cannes gebracht, das durchaus preiswürdig ist. Es geht um den Mittsechziger Daniel Blake, gespielt von Dave Johns, der im England der Gegenwart kaum mehr "value" hat für die Gesellschaft. Nach einem Herzinfarkt ist er nach 40 "Beitragsjahren" plötzlich ein Risiko für den Staat. Zwei Monate Genesung gewährt man ihm, aber die Ämter geben ihm keine Ruhe mehr mit ihren Formularen. Es ist ein auswegloser Kampf: Blake scheitert am britischen Sozialwesen, weil er nicht mehr ins Räderwerk passt: "Ich bin keine Sozialversicherungsnummer, auch kein Betrüger, erst recht kein Hund. Ich bin ein Bürger", sagt er einmal. Aber da war noch was: Der Kapitalismus hat von sozialer Gerechtigkeit keine Ahnung, deshalb, geht für Blake alles schief, was nur schief gehen kann. Es geht um das "System", in dem wir alle leben, und das in Großbritannien nicht anders zu laufen scheint als bei uns: Es geht um das Überleben des Stärkeren, wie in der Urzeit. Gratulation an die Errungenschaften des Sozialismus. Sie scheinen vergessen. "Die Welt, in der wir leben, ist in einer gefährlichen Situation, weil die Ideen, die wir ‚neoliberal' nennen, zu einer Katastrophe führen", so Loach. "Eine andere Welt ist möglich und sogar notwendig", zeigte er sich in seiner auf Französisch gehaltenen Ansprache überzeugt.

Dass der 79-jährige Loach hier noch einmal den Hauptpreis holt, hatte niemand gedacht, was seinen Film natürlich keineswegs irrelevant macht: Es kann auch als politischer Kommentar der Jury gewertet werden, dass hier Kino mit einer sozialpolitischen Message prämiert wird.

Dasselbe hätte freilich für "Toni Erdmann" der deutschen Regisseurin Maren Ade gegolten, die in ihrem Drama mit Sandra Hüller und Peter Simonischek den Mechanismus des Kapitalismus auf mindestens ebenso eindringliche Weise wie Loach aufgedröselt hätte. Jedoch sind die dargestellten sozialen Schichten andere: Während Ade über eine junge deutsche Business-Frau in Rumänien berichtet, die persönlich an der Kälte ihres Jobs in der Wirtschaft zerbricht, ist es bei Loach ein viel älteres Opfer der sozialen Marktwirtschaft, die scheinbar keine Würde kennt.

Würde. Das ist überhaupt so ein Wort, dass man in diesem Jahr auf Cannes und seine Filme anwenden kann. Allzu oft ging es im Wettbewerb auch um Würde und die damit verbundenen persönlichen Befindlichkeiten der Filmfiguren. Wie in "Juste la Fin du Monde" des Kanadiers Xavier Dolan, der hier den Großen Preis der Jury holte - nach dem "Preis der Jury" 2014 für sein eigentliches Chef d’Œu¬v¬re "Mommy". Diesmal ist Dolan weit weniger radikal in der formalen Ausformung seiner Geschichte: Ein sterbenskranker junger Mann kehrt nach 12 Jahren zu seiner Familie zurück und erklärt sein bevorstehendes Ableben. Der Film weist dafür mehr französische Stars auf als der Vorgänger: Diesmal sind Marion Cotillard, Léa Seydoux, Vincent Cassel und Nathalie Baye dabei - immer ein guter Trumpf bei einem französischen Filmfestival.

"The Salesman" des iranischen Oscar-Preisträgers Asghar Farhadi ("A Separation") wurde neben Loach zum zweiten großen Gewinner des Abends. Während Regisseur Farhadi selbst für das Drehbuch zu seinem vielschichtigen, entrischen Drama gewürdigt wurde, konnte sich Darsteller Shahab Hosseini über den Preis als bester Schauspieler freuen. Bei den Damen triumphierte - anders als von der Presse vorhergesagt Sandra Hüller für "Toni Erdmann" - die 52-jährige Philippinerin Jaclyn Jose, die in dem Korruptionsdrama "Ma' Rosa" von Brillante Mendoza mit großer Verve eine Gemischtwarenhändlerin aus Manila mit Drogen-Nebenverdient spielt. Eine verdiente Auszeichnung, obwohl es mit Isabelle Huppert, Sonia Braga, Adèle Haenel und natürlich Sandra Hüller hier eine so starke Konkurrenz gab wie selten.

Der Regiepreis wurde diesmal geteilt und ging sowohl an den Franzosen Olivier Assayas für dessen Luxus-Drama "Personal Shopper" mit Kristen Stewart, als auch an den Rumänen Cristian Mungiu für "Bacalaureat". Mungiu hatte in Cannes bereits 2007 die Goldene Palme gewonnen. Der Preis der Jury für Andrea Arnolds "American Honey" komplettiert den Reigen der wichtigsten Auszeichnungen an der Croisette. Die meisten von ihnen kamen überraschend. Die Jury und die Presse lagen meilenweit auseinander. Veröffentlichte und nicht veröffentlichte Meinung divergieren eben oft sehr stark, das zeigen ja auch andere Entscheidungen dieser Tage.

Matthias Greuling, Cannes

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