Dienstag, 30. August 2016

Venedig 2016: Wir bitten zum Tanz

Der Lido von Venedig präsentiert sich zum Start der 73. Filmfestspiele so aufpoliert wie lange nicht.

"La La Land" (Foto: Biennale di Venezia)
Früher musste auf den Boden achten, wer über den Lido von Venedig zur nächsten Vorführung hastete, denn allerorten entbehrte das Trottoir einer ebenmäßigen Ausgestaltung, weil sich die Natur mit all ihrem Wurzelwerk längst zurückgeholt hatte, was der Menschen vor langer Zeit ebnete. Nicht wenige Journalisten-Kollegen beendeten ihr venezianisches Filmfestival darob im „Ospedale“ im Sestiere Castello, wo manche mit Prellungen, andere mit komplizierten Brüchen eingeliefert worden sind. Auf dem Lido waren die Straßen in einem derartig schlechten Zustand, dass bei einem Wolkenbruch binnen Minuten 30 Zentimeter tiefe Straßenseen den Verkehr lahmlegten. 
Das ist alles Geschichte, denn solche Straßen gibt es hier nicht mehr. Die Stadtgemeinde Venedig hat sich ein Herz gefasst und den maroden Lido zurechtgeputzt, mit neuem, teurem Stein in Zartbeige für die Fußgeher und einer planen, pechschwarzen Asphaltdecke für die wichtigsten Straßen. Die Busse der Actv sparen sich auf diese Weise vermutlich die bisher jährlich zu tauschenden Stoßdämpfer. Die Restaurants an der Gran Viale Santa Maria Elisabetta, der Lebensader der Insel, haben den Umbau genutzt, um selbst frischen Wind in ihre Deko und Bestuhlungen zu bringen. Fußgänger könnten sogar vertieft in ihre Programmhefte zum Palazzo del Cinéma schlurfen, da würden sie über nix mehr stolpern. Höchstens über die Sicherheitsabsperrungen rund um das Festivalgelände, die selbst nach 9/11 nicht so drastisch waren wie heuer.
Nach dem Anschlag von Nizza im Juli will man hier nichts dem Zufall überlassen und hat beim Festivalpalast und dem Casino Straßensperren aus Beton zur Verlangsamung von Fahrzeugen eingerichtet. Solche Maßnahmen, wo Fahrzeuge ein langsames Zickzack fahren müssen, kennt man von Straßen vor gefährdeten Botschaften oder bei Checkpoints in Kriegsgebieten - bei Filmfestivals sind sie neu - jedoch sitzt den Veranstaltern derartiger Großereignisse die Angst im Nacken, jemand könnte mit einem LKW wieder Dutzende Menschen niederfahren. Der Superintendent von Venedig hat die Parole ausgegeben: „Alle Menschen, die den Bereich des Filmfestivals betreten, müssen bereits im Vorfeld kontrolliert worden sein“. Das wird bedeuten: Lange Wartezeiten mit genauer Metalldetektor-Kontrolle. Noch sind hier allerdings bisher immer jegliche Sicherheitsmaßnahmen nach ein paar Tagen der Hypernervosität auf typisch italienische Weise gelockert worden. Repräsentieren war dann immer wichtiger als agieren. Am Ende glänzten die Uniformen der Carabinieri meist noch strahlender als die Stars am roten Teppich. Aber wer weiß, hat sich das alles vielleicht doch geändert.
Der Star-Faktor bleibt für die Filmschau in der Lagunenstadt jedenfalls neben der Filmkunst wohl die wichtigste Legitimation - schließlich ist Venedig das älteste Filmfestival der Welt und kämpft seit Jahren um seine Bedeutung gegenüber des zeitgleich stattfindenden Festivals von Toronto, das mehr und mehr (US-)Prominenz anzieht, ganz einfach, weil es für diese günstiger liegt. Venedig ist dagegen geradezu wie aus der Zeit gefallen, wenn es um Geschwindigkeit geht. Die 40 Minuten vom Bahnhof zum Lido im Express-Vaporetto sind halt verdammt lange, weshalb die meisten Venezianer (und auch schon die Mehrheit der Touristen) scheinbar gar nicht mehr aus dem Fenster sehen, sondern lieber am Smartphone stöbern. Aber die Fotomotive hier, die sind halt im Vergleich zu Toronto noch immer unschlagbar.
Jury-Präsident Sam Mendes im Gespräch (Foto: Sartena)

Damit das so bleibt, musste auch ein wenig an der Infrastruktur geschraubt werden - und dabei ist man zur Überraschung aller endlich in der Lage gewesen, das seit bald einem Jahrzehnt klaffende Asbest-Loch neben dem Casino zuzuschütten, wo man eigentlich einen Neubau des angegrauten Palazzo del Cinema aus der Mussolini-Ära geplant hatte. Daraus wurde nichts, die Kosten explodierten, die Asbest-Grube blieb notdürftig abgedeckt für viele Jahre geöffnet. 
Jetzt steht an ihrem Platz die „Area Giardino“, also ein Garten mit einem roten Kubus in der Mitte, einem neuen Kinosaal. Der „Sala del Giardino“ fasst 446 Sitzplätze und erhöht die Festivalkapazität an Kinosessel auf 5832. Paulo Baratta, der Präsident der Biennale, deren Teil das Filmfestival ist, hat „diesen Tag schon sehr lange herbeigesehnt“, und dem ist nichts hinzuzufügen. 
All das sind aufmunternde Lebenszeichen vom Festival von Venedig, das sich in den letzten Jahren vermehrt der Kritik aussetzen musste, in Schönheit erstarrt dem Untergang geweiht zu sein. 
Doch man reißt sich am Riemen und probt den Gefälligkeits-Aufstand. Denn auch im Filmprogramm der 73. Festspiele ist so etwas wie ein Ruck zu spüren, das gilt sowohl für die populären Star-Filme, die das Festival mit eben jenen Fotomotiven so weltberühmt gemacht haben, wie auch für die Filmkunst. Vorbei scheint die Zeit, in der man seinen Film „lieber zur Berlinale oder nach Cannes“ eingereicht hat.
Bei den publikumsträchtigen Filmen stechen etliche Prestige-Projekte der Studios hervor, die bald schon auch im Oscarrennen mitmischen dürften. Etwa der Eröffnungsfilm, das Musical „La La Land“ von Damien Chazelle („Whiplash“), in dem Emma Stone und Ryan Gosling im Tanzschritt eine Hommage an das goldene Zeitalter des Hollywood-Musicals wagen. Für Venedigs Festivalchef Alberto Barbera ist „La La Land“ ein „Neubeginn des Musical-Genres“, weshalb er dieses Starvehikel auch im Wettbewerb um den Goldenen Löwen zeigt. Außer Konkurrenz dürfte Antoine Fuquas Remake von „Die glorreichen Sieben“ zu den Highlights gehören, ebenso wie Mel Gibsons Kriegsdrama „Hacksaw Ridge“ mit Teresa Palmer und Andrew Garfield. In den Wettbewerb hat Barbera zudem weitere klingende Namen eingeladen: Francois Ozon zeigt sein Drama „Frantz“, das vom Ersten Weltkrieg erzählt, Modeschöpfer Tom Ford bringt seine zweite Regiearbeit, den Künstler-Thriller „Nocturnal Animals“, mit, und Wim Wenders vertieft einmal mehr seine seit 1996 währende Kollaboration mit Peter Handke als Drehbuchautor und verfilmte das gemeinsam geschaffene Werk „Die schönen Tage von Aranjuez“, nach „Pina“ Wenders’ zweiter Film in 3D.
Die Dichte hochkarätiger Werke nimmt im Festivalverlauf nicht wie früher ab, als hier alle ab dem Montag nach dem ersten Wochenende nach Toronto abhauten. Heuer bleibt das Niveau konstant hoch. Die neuen Filme von Denis Villeneuve („Arrival“), Andrei Konchalovsky („Paradise“) oder Terrence Malick („Voyage of Time: Life’s Journey) stehen auf dem Programm, besonders gespannt wartet man auf das US-Debüt des Chilenen Pablo Trapero, der mit „Jackie“ ein Bio-Pic über Jackie Kennedy gedreht hat, mit Natalie Portman in der Titelrolle.

Auch Österreich ist vertreten, wenngleich nicht im Wettbewerb: Ulrich Seidls Doku „Safari“ über Jagdtouristen in Afrika läuft außer Konkurrenz, Ronny Trocker bringt seinen Spielfilm „Die Einsiedler“ in die Reihe „Orizzonti“ mit, ebenso wie Michael Palm seinen Essay „Cinema Futures“. Der passt wie die Faust aufs Auge dieser runderneuerten „Mostra del cinéma“ auf dem blank polierten Lido: Geht es darin doch um nichts weniger als um die Zukunft des Kinos im Zeitalter der digitalen Revolution. Alles analoge muss dem Digitalen Platz machen, und das birgt Chancen, aber auch Gefahren. Ein bisschen wehmütig denkt man da an die Farben der Musicals aus der Technicolor-Ära zurück, an die uns „La La Land“ erinnern will. An all die Projektionen, bei denen das Filmmaterial gerissenen ist, oder an die leicht vibrierenden Bildstände der 35mm-Projektion, an die Kratzer, an das Unperfekte. An die Wurzeln, die das Trottoir empor drückten. Man erinnert sich, wie gerne man mit dem Auto durch die 30 Zentimeter tiefen Regenlachen auf dem Lido gefahren wäre. Aber diese Form der Unterbodenwäsche hat man sich dann doch nie getraut. 

Matthias Greuling, Venedig

(Auch in der Wiener Zeitung erschienen)

Freitag, 12. August 2016

Locarno: Zum Finale ein paar Favoriten

Das Filmfestival von Locarno ist für sein künstlerisch hochwertiges (und darob manchmal auch sperriges) Wettbewerbsprogramm bekannt. Auch die 69. Ausgabe der Filmschau im Tessin macht da keine Ausnahme: Festivalleiter Carlo Chatrian zeigt abseits der Piazza Grande, die für die populäreren Filme reserviert ist, Filmkunst auf höchstem Niveau. Zugleich ist auch der Anteil von Filmen, die von Frauen gemacht wurden, überdurchschnittlich hoch. Kein anderes A-Festival der Welt zeigt so viele Regiearbeiten von Frauen wie dieses.
"Inimi cicatrizate" des Rumänen Radu Jude (Foto: Festival Locarno)

Qualitätsmerkmal ist das per se noch keines, aber da hat Locarno ohnehin längst den Diskurs erreicht, in dem Kritiker laut über zu viel oder zu wenig Anspruch klagen, je nachdem, für welches Medium sie arbeiten.
Im Hauptbewerb um den Goldenen Leoparden, der heute, Samstag, in Locarno verliehen wird, sind jedenfalls spröde, zugleich auch kurzweilige, humorvolle Arbeiten mit Tiefgang zu finden. So hat die Argentinierin Milagros Mumenthaler mit "La idea de un lago" beschrieben, wie Persönliches oft von größeren Zusammenhängen bestimmt wird. Eine schwangere Fotografin will vor der Geburt ihres Kindes mit der eigenen Kindheit abschließen und ein Fotoalbum zusammenstellen. Darin ist auch die einzige Aufnahme ihres Vaters zu finden, der seit Beginn der Militärdiktatur spurlos verschwunden ist. Der Vater auf dem Foto, das an einem See aufgenommen wurde, ist Projektionsfläche und Sehnsuchtspunkt gleichermaßen. Mumenthaler lässt ihre Figuren keine Traurigkeit empfinden, aber doch einiges an Wehmut.
Wehmütig sollte auch der erst 29-jährige Knochentuberkulose-Patient aus "Inimi cicatrizate" des Rumänen Radu Jude sein. Der liegt nämlich einkaserniert in einem Sanatorium an der Schwarzmeerküste darnieder, fest einbandagiert und ans Bett gefesselt. Die Zeit des Siechtums bis zum absehbaren Ende wird hier aber nicht mit Trübsal gefüllt, sondern mit Lebenslust kompensiert, bei der auch die Liebe zu einer Patientin eine Rolle spielt. Radu Jude verleiht dem auf dem autobiografischen Roman "Vernarbte Herzen" des rumänischen Schriftstellers Max Blecher basierenden Film eine sympathisch-groteske Note, die "Inimi cicatrizate" zu einem der Favoriten macht.
Ebenso humorvoll und ein Stück weit grotesk ist "Mister Universo" des österreichischen Filmerpaares Tizza Covi und Rainer Frimmel. Ein Zirkusdompteur geht auf die Suche nach seinem verlorenen Talisman und bereist dafür halb Italien, bis er den ehemaligen Mister Universum ausfindig macht, der ihm den Glücksbringer einst geschenkt hat. Unterwegs schildern Covi und Frimmel in gewohnt dokumentarischen, aber nie zu distanzierten Bildern, wie der Dompteur zwischen Bangen und Hoffnungslosigkeit pendelt, denn Aberglaube ist ein gewichtiger Faktor im Zirkus. Die Welt außerhalb des Zirkuszelts ist ein Italien der Stadtränder und Peripherien, der Armut und des Chaos, und doch ist "Mister Universo" ein zutiefst optimistischer Film: Und zwar einer, der sich wundersamen Phänomenen verschreibt und wo sogar das Wasser bergauf fließen kann.
Aberglauben und Humor gibt es auch in "O Ornitólogo" des Portugiesen João Pedro Rodrigues über einen Vogelkundler, dessen Reise in die Wildnis auf ganz famos humorvolle Weise auch eine Reise zu sich selbst wird.

Matthias Greuling, Locarno


Montag, 8. August 2016

Roger Corman: "Bei uns sah man jeden Dollar vom Budget auf der Leinwand"

In Locarno hat man nach Mario Adorf und Harvey Keitel noch einer weiteren Filmlegende den roten Teppich ausgerollt und einen Ehrenleoparden überreicht: Roger Corman, inzwischen 90 Jahre alt, wurde in den 60er und 70er Jahren als Regisseur mit seinem Exploitationkino und seinen B-Movies berühmt, und hat später als Produzent die Karrieren von Größen wie Jack Nicholson, Martin Scorsese, Jonathan Demme oder auch James Cameron entscheidend vorangebracht. Insgesamt inszenierte er 56 Filme, von "Five Guns West" bis zu "Bloody Mama", und produzierte über 400.
Roger Corman in Locarno (Foto: Katharina Sartena)
Corman empfängt uns zum Gespräch in einem Hotel in Locarno, er ist erstaunlich gut in Form, spricht zwar sehr leise, aber präzise und hellwach. "Wenn man so will, war ich aus heutiger Sicht ein Wegbereiter für viele Entwicklungen im Hollywood-Kino", sagt Corman. "In einem meiner Western gab es zum Beispiel einmal einen weiblichen Sheriff. Das war völlig ungewöhnlich zur damaligen Zeit, aber ich habe immer nach der Maxime besetzt, wer der oder die beste für den Job ist. Und wenn das nun mal eine Frau war - schließlich machen sie mehr als 50 Prozent der Bevölkerung aus - dann besetzte ich eben eine Frau als Sheriff. Wir haben darum kein großes Aufhebens gemacht, denn ich finde das ganz normal".
Außerdem hat Corman das, was später als eine neue Filmgattung in die Geschichte eingehen würde, vorweggenommen. "Als ich viele meiner Filme drehte, gab es den Begriff ‚Blockbuster‘ noch gar nicht", erinnert sich Corman. "Dennoch hatten einige meiner Filme bereits die Ingredienzien, die es dafür brauchte. Als Steven Spielberg 1975 ‚Der weiße Hai‘ herausbrachte, war das Genre geboren, und viele Kritiker schrieben, der Film wäre wie ein Roger-Corman-Film, nur mit ordentlich Geld".
"Der weiße Hai" habe gezeigt, dass Hollywood doch lernfähig sei, meint Corman. "Man ist plötzlich draufgekommen, wie man richtige Kassenschlager produziert. George Lucas hat das zwei Jahre später mit ‚Star Wars‘ nochmals perfektioniert", so Corman.
"Ich frage mich, wo das Geld versickert"
Doch das seither einsetzende budgetäre Wettrüsten in der Filmbranche stößt einem bescheidenen Mann wie Corman sauer auf: "Wir haben damals unsere Filme schnell und günstig gedreht, und man konnte auf der Leinwand jeden Cent sehen, den wir ausgegeben haben", so Corman. Das sei heute mit astronomischen Budgets jenseits der 200 Millionen Dollar kaum mehr der Fall. "Als James Cameron ‚Titanic‘ drehte, der bis damals teuerste Film aller Zeiten, konnte man sehen, wofür das ganze Geld draufging. Aber wenn ich mir heute eine der unzähligen Comicverfilmungen ansehe, frage ich mich oft, wo das Geld geblieben ist. Wahrscheinlich ist es in Form von Darsteller-Gagen versickert".
2010 verlieh man ihm einen Ehrenoscar, "was mich damals wirklich sehr gefreut hat", so Corman. "Es war eine Form von Anerkennung, die ich bis dahin nicht kannte". Sein Werk hat die Zeit gut überstanden, das hat auch die Academy erkannt, und vor allem auch den Umstand, wie prägend sich Cormans Karriere auf andere Künstler ausgewirkt hat.
"Im Gegensatz zu damals hat sich das Filmemachen heute radikal verändert. Und zwar auf zwei Arten", berichtet Corman. "Erstens: Man kann heute so billig wie noch nie einen Film in Kinoqualität herstellen. Die Kameras sind sehr günstig, ganz im Gegensatz zu damals, als das Filmmaterial und das Kopierwerk einen Gutteil des Budgets verschlangen. Zweitens: Heute ist es jedoch ungleich schwieriger geworden, die Filme auch herauszubringen. Zu meiner Zeit bekam jeder meiner Filme einen anständigen Kinostart. Das ist heute gar nicht mehr möglich", sagt Corman. Dazu sei die Anzahl der produzierten Filme einfach "zu groß".
Die Lösung liegt in neuen Formen der Rezeption: "Von Netflix bis Amazon gibt es eine Menge neuer Vertriebsmöglichkeiten, das wird mit Sicherheit noch wachsen", meint Corman. "Aber am Ende geht doch nichts über ein kollektives Filmerlebnis in einem Kino".

Matthias Greuling, Locarno

Sonntag, 7. August 2016

Wie Harvey Keitel seinen Kühlschrank vor Tarantino schützte

"Meine besten Rollen sind die, bei denen ich dieses gewisse Bauchgefühl schon beim Lesen verspürt habe", sagt Harvey Keitel. Der 77-jährige New Yorker Schauspieler, der beim Filmfestival von Locarno gerade einen Ehren-Leoparden fürs Lebenswerk erhielt, muss in unserem Gespräch nicht lange nachdenken, welche Filme das waren. "Mit Scorsese drehte ich 1967 schon seinen Abschlussfilm von der Filmschule, ‚Who’s That Knoking on My Door‘", erinnert sich Keitel. "Damals hatten wir kein Geld und drehten in Scorseses Elternhaus. Sein Vater war vielleicht erstaunt, als er von der Arbeit heimkam, und ich lag gerade für eine Szene mit einem Mädchen im Bett. In seinem Bett!"
Harvey Keitel in Locarno (Foto: Katharina Sartena)
Das starke Bauchgefühl für Scorseses Talent hatte Keitel dann spätestens bei "Taxi Driver" verspürt. "Ein grandioser Film, er reflektiert das New York, in dem ich aufwuchs. Die Stimmung erzeugt bei mir bis heute Gänsehaut". Noch so ein Film, der Keitel gepackt hat, was Jane Campions "Das Piano". Und natürlich: Seine Auftritte in den Filmen von Quentin Tarantino, vor allem in dessen Erstling "Reservoir Dogs" (1992). "Ich bekam das Script über Umwege in die Hände und wusste sofort: Dieser Mann hat Talent. Wir verstanden uns auf Anhieb, nur musste ich bei unseren Meetings meist meinen Kühlschrank bewachen, weil Tarantino damals überhaupt keine Kohle hatte und mir regelmäßig den Kühlschrank leer aß", lacht Keitel.
Der in Brooklyn geborene und bis heute dort lebende Schauspieler hat mit vielen großen Regisseuren gearbeitet und dabei auch jede Menge Kult-Charaktere erschaffen. "Man weiß leider vorher nie, in welche Sphären so eine Kultfigur aufsteigen kann", berichtet er. Immer schon war Keitels Karriere eine Art Hybrid zwischen Hollywood-Kunst und europäischem Arthaus. "Meinen ersten Film in Europa drehte ich mit Bertrand Tavernier, an der Seite von Romy Schneider"; erinnert er sich an "Death Watch - Der gekaufte Tod" von 1980. Besonderen Stellenwert misst er seinem "Bad Lieutenant" bei, als den ihn Abel Ferrara 1992 inszenierte. "Zunächst landete Abels Script direkt in der Mülltonne, denn es waren nur 23 Seiten voller großer Buchstaben, die rein gar nichts über den Sinn aussagten. Aber ich habe das Script dann aus dem Müll gefischt, um die Story fertig zu lesen. Zum Glück, denn erst am Ende begriff ich, was das für eine tolle Story war".
Es ist daher auch kein Zufall, dass es Ferrara höchstpersönlich war, der Keitel in Locarno den Ehrenleoparden überreichte.
Für alle, die es Harvey Keitel gleichtun möchten und eine Karriere in Hollywood anstreben, hat er einen ernst gemeinten Rat: "Geht nicht nach Hollywood und bettelt dort, in ihre Kreise aufgenommen zu werden", sagt er. "Denn Hollywood wird zu Euch kommen, sobald ihr Euer eigenes Ding dreht. Habt Selbstvertrauen und macht etwas Einzigartiges, dann wird Hollywood ganz von selbst vor der Türe stehen. Und ganz nebenbei könnt Ihr Hollywood so auch ein Stückchen besser machen und es erziehen, indem ihr Eure Kunst dorthin bringt, anstatt sich anzubiedern".

Matthias Greuling, Locarno


Freitag, 5. August 2016

Locarno feiert Jane Birkin

Es sind vielleicht zehn Filme, wenn überhaupt. Zehn Filme von insgesamt 88 in ihrer Filmografie, die Jane Birkin als wirklich gelungen empfindet. Mit dabei sind jene drei, die sie mit Jacques Rivette gedreht hat, natürlich "Blow Up" (1966) von Antonioni, mit dem sie berühmt wurde, aber auch "La fille prodigue" (1981) von Jacques Doillon, mit dem Birkin eine gemeinsame Tochter, die Sängerin Lou Doillon hat. Auch Charlotte Gainsbourg ist eine ihrer Töchter, sie entstammt ihrer Beziehung mit Serge Gainsbourg, die elf Jahre hielt und während der Jane unzählige Lieder aufnahm, darunter das bekannteste des Duos, "Je t’aime… moi non plus". Ihre älteste Tochter, die Fotografin Kate Berry - aus Birkins Ehe mit dem Komponisten John Barry - starb 2013 nach einem Fenstersturz aus ihrer Wohnung im vierten Stock. Selbstmord-Spekulationen stehen bis heute im Raum.
Jane Birkin (Foto: Katharina Sartena)

Im Dezember 2016 wird Jane Birkin 70 Jahre alt, sie ist eine vom Schicksal gezeichnete Frau, die auch einen schmerzhaften Krankenhausaufenthalt hinter sich hat, erzählt sie. Aber sie strahlt großen Optimismus aus, Gefühl und Freude, viel Güte, und auch Schmerz. Ihre Stimme versagt bei jedem zweiten Satz, Frau Birkin ist derzeit nicht bei Kräften.

Im Gespräch aber holt sie weit aus, wenn es darum geht, alte Erinnerungen zu teilen. Die Chansons, die Filme, und der ganze Stolz: Die Töchter. "Charlotte ist eine Schauspielerin durch und durch, sie würde alles wagen vor der Kamera", sagt sie. "Ich kenne niemanden, der derart weit für seine Kunst gehen würde". Gemeint sind damit auch die drei fordernden Auftritte von Gainsbourg in Lars von Triers Filmen.

"Was Charlotte im Film ist, ist Lou in der Musik. Sie investiert ihre ganze Kraft da hinein. Und auch Kate war so energisch in der Fotografie. Sie war ein großes Talent, denn in ihren Bildern holte sie das Innerste aus den Menschen heraus, die sie fotografierte".

Jane Birkin hat den Tod ihrer Tochter nicht überwunden, das kann man sehen. Aber sie lebt weiter, weil es gar nicht anders geht. In Locarno überreicht man ihr den Goldenen Ehrenleoparden fürs Lebenswerk, und das hat immer den Beigeschmack eines Abschieds, so, als wäre der Künstler schon fertig mit dem, was er zu sagen hat. "Ich sehe das anders", sagt Jane Birkin. "Denn schließlich ist das mein erster Preis überhaupt". Der erste Preis? Das kann nicht sein. "Doch, das ist so. Es sei denn, ich habe etwas Entscheidendes vergessen".

Wir recherchieren nach, und es stimmt: Drei Mal war sie für den César nominiert, das französische Pendant zum Oscar, aber geklappt hat es nie. Dafür hat Tochter Charlotte diesen Preis schon zwei Mal gewonnen. Und den Schauspielerpreis in Cannes, für Lars von Triers "Antichrist". "Was für ein Talent sie ist! In dem Film musste sie ihrem Mann einen Schraubstock durch die Wade drehen und sein bestes Stück misshandeln. Eine fordernde Rolle", scherzt sie voller Stolz für ihre Tochter.

So viel Lob Jane Birkin für ihre Kinder übrig hat, so viel Selbstkritik gibt es auch: "Ich kann mich selbst nie auf der Leinwand anschauen. Einerseits, weil ich meine Stimme beim Sprechen nicht hören will, andererseits, weil ich ständig nur die Fehler sehe", sagt Birkin. So kam es, dass sie kaum eine Filmpremiere in ihrem Leben wirklich durchgesessen hat. "Mir fehlte immer schon der Mut, mich selbst anzusehen. Ich bin auf die Bühne, habe die Leute begrüßt und bin dann wieder hinten raus". Sich selbst nicht ansehen zu können, eine Berufskrankheit von Schauspielern? "Ja, das glaube ich schon", sagt Jane Birkin. "Aber ganz abgesehen davon: Niemand sitzt eine Premiere durch. Man geht nach der Begrüßung. Unter uns gesagt: Das machen alle Schauspieler so".
Matthias Greuling, Locarno

Donnerstag, 4. August 2016

Bill Pullman: Der Mann aus der zweiten Reihe


„Die Mädchen kriegten immer die anderen“, sagt Bill Pullman. In Locarno überreichte man dem Schauspieler einen Ehrenleoparden.

Er hat nie den Part des Verführers gespielt, sondern immer eher den Tollpatsch aus der zweiten Reihe. Er war ein unglaublich tapferer US-Präsident in „Independence Day“, und durchschritt für David Lynchs „Lost Highway“ das schwärzeste Schwarz der Filmgeschichte. Schauspieler Bill Pullman, inzwischen 62, ist das, was man in Hollywood einen Mann aus der zweiten Reihe nennt. Schauspieler, die man aufgrund ihrer Popularität gerne besetzt, denen man aber nie zutraute, einen Film ganz alleine zu tragen.
Bill Pullman in Locarno (Foto: K. Sartena)
„Meine Karriere verlief toll, ich kann mich nicht beklagen“, sagt Pullman, der den Ruf hat, ohnehin die noble Zurückhaltung zu lieben und sich darob nie in den Vordergrund zu spielen. Mit „Independence Day 2“ ist er derzeit in den Kinos, und das Festival von Locarno hat wohl auch deshalb (und wegen einer 35mm-Vorführung von „Lost Highway“) beschlossen, diesen Mann aus der zweiten Reihe einmal in die erste zu stellen.
„Ich war immer der zweite Mann neben dem, der das Mädchen gekriegt hat. Egal in welchem Film. Egal, ob es Jodie Foster in ‚Sommersby‘ war, Meg Ryan in ‚Schlaflos in Seattle‘ oder Nicole Kidman in ‚Malice‘, wo ich zwar ihren Ehemann spielte, aber sie eigentlich gar nicht wollte“. Erst in „Während du schliefst“ gelang Pullman die Eroberung des Herzens von Sandra Bullock. „Aber auch nur, weil der eigentliche Liebhaber von ihr den ganzen Film über im Koma lag. Das war geradezu ein leichtes Spiel“, amüsiert sich Pullman beim Publikumsgespräch in Locarno. 
Pullman sei nie der Typ für romantische Komödien gewesen und wurde genau deshalb des öfteren in ebensolchen besetzt. „Ich war in den 90ern der Anti-Typ für Rom-Coms, ein Element, das damals sehr beliebt war im Kino. Man brauchte ihn, um den ‚Leading Man‘ so richtig strahlen zu lassen“.
Mit „Independence Day“ brannte sich Pullman ins kollektive Gedächtnis der Blockbuster-Gemeinde. „Ein Film, der damals genau zur rechten Zeit kam. Ich spielte einen Präsidenten, der eigentlich keine Ahnung hatte, was er tat. Wer hat schon Erfahrung im Kampf mit Aliens?“, lacht Pullman. Zugleich sei der Film als Ensemble-Stück nicht nur ein grandioser Actionfilm gewesen, sondern auch ein zeitkritischer Kommentar, findet Pullman. „Wir haben hier die Vision des Deutschen Roland Emmerich realisiert, wie er unser Amerika sah. Das war absolut bemerkenswert, und ich fand es toll, dass es nun eine Fortsetzung gegeben hat“.
Bill Pullman in Locarno (Foto: K. Sartena)
Zugleich war Pullman ab Mitte der 90er Jahre auch Liebkind einiger von Amerikas Regiegrößen. Lawrence Kasdan drehte mit ihm „Wyatt Earp“, und David Lynch wollte ihn für „Lost Highway“. „Damals irrte ich für eine Szene durch völlige Dunkelheit“, erzählt Pullman. „Ich weiß noch, wie wichtig David dieses Schwarz auf der Leinwand war. Man sollte einfach gar nichts sehen. Erst später erfuhr ich, dass man mich filmte, nachdem man die Optik von der Kamera entfernt hatte, um den Schwarzeindruck zu verstärken. Ich wäre selbst bei Licht gar nicht zu sehen gewesen, aber Lynch wollte, dass ich meine Performance trotz Schwarz und trotz der fehlenden Optik so ernst spiele wie immer. David Lynch ist einer der größten, wirklich“. 
Dass man ihn in Locarno ausführlich gewürdigt hat, treibt dem bescheidenen Pullman dann doch die Röte ins Gesicht. „Ich war eigentlich nie darauf aus, dass es einen großen Rummel um meine Person gibt“, sagt er, und man merkt ihm an: So ein toller Preis wie der Ehrenleopard ist das bisschen Rummel durchaus wert. 

Matthias Greuling, Locarno

Locarno zwischen Bondgirl und Blockbuster

Mit dem Genrefilm „The Girl With All the Gifts“ von Colm McCarthy hat das 69. Filmfestival von Locarno begonnen - und damit eine Zombie-Invasion über die Piazza Grande gebracht. Der postapokalyptische Film zeigt Welt, in der die Menschen durch eine mysteriöse Krankheit zu Menschenfressern werden. Ein hochintelligentes Mädchen lässt die Hoffnung aufkeimen, dass am Ende doch alle gut ausgeht.
Festival-Präsident Marco Solari (rechts) und der künstlerische Leiter von Locarno, Carlo Chatrian, bei der Eröffnung der Filmschau (Foto: K. Sartena)

Gemma Arterton, ehemals Bond-Girl aus „Ein Quantum Trost“, spielt eine der Hauptrollen in dem Film, „aber ich war mir gar nicht bewusst, dass es sich hier um einen Genrefilm handelt. Zombies, Untote - beim Lesen des Drehbuchs klang das alles nicht so dramatisch“. Ist es aber, wie die 8000 Zuschauer auf der Piazza Grande nun wissen. Arterton will sich künftig jedenfalls mehr der ernsthaften Filmkunst widmen: „Ich habe kleine Arthaus-Filme immer schon mehr gemocht als große Blockbuster“, sagt sie im Gespräch mit der „Wiener Zeitung“ in Locarno. „Man hat dann mehr das Gefühl, etwas Familiäres zu schaffen. Und man kennt bei kleineren Filmteams wenigstens die Namen der Crew. Das ist bei großen Produktionen mit mehreren hundert Mitarbeitern nahezu unmöglich“.
Solche Großproduktionen sind nicht unbedingt das Spezialgebiet des Filmfestifvals von Locarno, und trotzdem gibt es hier immer wieder potenzielle Kassenschlager im Programm. In diesem Jahr wird zum Beispiel „Jason Bourne“ auf der Piazza Grande zu sehen sein, der fünfte Teil der Bourne-Reihe mit Matt Damon, erneut inszeniert von Paul Greengrass. „Ich mag Action-Filme sehr gerne“, gesteht Locarno-Festival-Leiter Carlo Chatrian. Der Cinephile ist eigentlich ein Verfechter der Filmkunst, doch gegen gute Action hat auch er nichts. „Ich zeige gerne Filme wie ‚Jason Bourne‘ auf der Piazza, denn sie sind wirklich mitreißend“, so Chatrian. „Es hängt natürlich davon ab, wann ein Film im Kino startet, und wie das Studio ihn vermarktet. Im Fall von ‚Bourne‘ hatten wir Glück, denn er läuft im August an und so ist Locarno ein perfekter Start für den Film“.
Dass das Filmfestival immer schon ein Ort der Neuentdeckungen war, ist sein Markenzeichen; dass hier auch einige Stars erwartet werden - etwa Harvey Keitel oder Jane Birkin - ist ebenso Usus.
Nicht zum Alltag der Filmschau gehört es allerdings, dass sich deren Macher auch politisch äußern - nämlich außerhalb des Filmprogramms und der Filmauswahl. So geschehen heuer im Fall von Festival-Präsident Marco Solari, der sich wohlwollend gegenüber des Verhüllungsverbots äußerte, das im Tessin seit 1. Juli in Kraft ist. 
„Wenn Leute zu uns kommen, sollen sie sich an unsere Regeln halten“, sagte Solari dem Schweizer Boulevard-Blatt „Blick“. In der Schweiz zeige man das Gesicht und gebe anderen die Hand, wird Solari zitiert. Das Ganze freilich vor dem Hintergrund, dass der Kanton Tessin schon im Jahr 1830 „die erste liberale Verfassung Europas“ hatte. 

Insgesamt sind in Locarno bis 13. August rund 250 Filme zu sehen, davon 17 im internationalen Wettbewerb um den Goldenen Leoparden.
Matthias Greuling

Locarno: Alles in Bewegung

Im Tessin gibt es zwei Formen sommerlichen Abendwetters: Entweder, es ist brütend heiß oder es gibt einen kühlen Wolkenbruch nach dem anderen. Beide Phänomene gehören zum Filmfestival von Locarno dazu, und wenn die Piazza Grande mit ihren 8000 Zusehern vom Regen überrascht wird, läuft die Projektion dennoch unbeirrt weiter. Kino ist uns eine Pflicht, soll das wohl bedeuten.
"Mister Universo" (Foto: Festival Locarno)
Locarno, das Filmfestival in den Alpen der italienischen Schweiz, das heute, Mittwoch, eröffnet wird, ist schon seit jeher bekannt für seine kompromisslose Annäherung an das Medium Film. Hier hat das Kunstkino eine Bastion wie auf keinem anderen A-Festival der Welt. Locarno stehe für „ein Kino, das die Realität entschlüsselt und überhöht. Ein Kino, das keine Angst hat, sich groß zu fühlen, auch wenn es kleine Geschichten erzählt. Ein Kino, das uns davonträgt wie der Wind“. So definiert es Carlo Chatrian, seit nunmehr drei Jahren der künstlerische Leiter der Filmschau. Chatrian, ein bekennender Cinephiler, ein Filmkunst-Fan, begreift das Kino als emotionale Erfahrung und Bereicherung des Kunstbetriebs. Er widmet die 69. Ausgabe des Festivals den gerade verstorbenen Filmemachern Abbas Kiarostami und Michael Cimino. Letzterem überreichte er erst im Vorjahr den Ehrenleoparden.
Genau diese beiden Künstler stünden eben für das von Chatrian beschworene Kino der Emotionen. Das soll es auch im heurigen Programm zu sehen geben. „Es steht ganz im Zeichen des ursprünglichen Geistes des Festivals, der weniger bekannten Filmografien und aufstrebenden Filmschaffenden viel Platz einräumt und Locarno zu einem Festival der Avantgarde macht: politisch und poetisch, visionär und nonkonformistisch zugleich“, sagt Chatrian.
Und so finden sich im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden viele unbekannte Namen, die es zu entdecken gilt. Es gib Arbeiten aus entlegenen Regionen des Weltkinos, etwa aus Ägypten, Thailand, Bulgarien oder Rumänien. „Die Figuren in dieser Wettbewerbsauswahl sind ständig in Bewegung“, verrät Chatrian. „Wie von einem inneren Wind angetrieben“. Matias Piñeiros Shakespeare-Betrachtung „Hermia & Helena“ aus den USA eilt schon der Ruf voraus, ein Meisterwerk zu sein. „Marija“ von Michael Koch zeigt eine rastlose Protagonistin, João Pedro Rodrigues‘ „Ornithologe“ ist hingegen wider Willen in Bewegung. In „Scarred Hearts“ des Rumänen Radu Jude sind die Protagonisten zwar ans Spitalsbett gefesselt, aber die Betten haben Rollen und bewegen sich mitsamt ihrer Patienten.
Perspektivenwechsel
„Bewegung ist ein Zeichen, dass wir das Leben aus einer anderen Perspektive betrachten wollen“, so Chatrian, der im Wettbewerb insgesamt 17 Weltpremieren zeigt. Darunter auch das neue Werk des österreichischen Filmemacher-Paares Tizza Covi und Rainer Frimmel, die es in „Mister Universo“ einmal mehr in die Welt des Zirkus verschlägt. Ein  junger Löwendompteur bricht aus seinem Alltag aus und reist quer durch Italien, um einen ehemaligen Mister Universum aufzusuchen, der ihm einst seinen verloren gegangenen Talisman geschenkt hatte.
Noch experimentierfreudiger geht es in den Reihen „Cineasti del presente“ und „Pardi di domani“ zu, wo Chatrian Filme jenseits gängiger Erzählkonventionen versammelt. Für das breite Publikum auf der Piazza Grande bietet Locarno hingegen auch Mainstream-Kost: Heuer ist hier unter anderem „Jason Bourne“ mit Matt Damon zu sehen. Aber auch der Cannes-Sieger „I, Daniel Blake“ wird in Anwesenheit von Regisseur Ken Loach aufgeführt.

Locarno bekommt in den letzten Jahren auch immer stärker den Ruf, besonders die alten Legenden des Kinos zu feiern. In diesem Jahr bekommt der 85-jährige Mario Adorf den Ehrenleoparden fürs Lebenswerk, der 90-jährige Roger Corman wird mit einer Hommage geehrt und die Italienerin Stefania Sandrelli bekommt den Leopard Club Award für ihre Leistung in 55 Karrierejahren.  

Matthias Greuling