Donnerstag, 4. August 2016

Locarno: Alles in Bewegung

Im Tessin gibt es zwei Formen sommerlichen Abendwetters: Entweder, es ist brütend heiß oder es gibt einen kühlen Wolkenbruch nach dem anderen. Beide Phänomene gehören zum Filmfestival von Locarno dazu, und wenn die Piazza Grande mit ihren 8000 Zusehern vom Regen überrascht wird, läuft die Projektion dennoch unbeirrt weiter. Kino ist uns eine Pflicht, soll das wohl bedeuten.
"Mister Universo" (Foto: Festival Locarno)
Locarno, das Filmfestival in den Alpen der italienischen Schweiz, das heute, Mittwoch, eröffnet wird, ist schon seit jeher bekannt für seine kompromisslose Annäherung an das Medium Film. Hier hat das Kunstkino eine Bastion wie auf keinem anderen A-Festival der Welt. Locarno stehe für „ein Kino, das die Realität entschlüsselt und überhöht. Ein Kino, das keine Angst hat, sich groß zu fühlen, auch wenn es kleine Geschichten erzählt. Ein Kino, das uns davonträgt wie der Wind“. So definiert es Carlo Chatrian, seit nunmehr drei Jahren der künstlerische Leiter der Filmschau. Chatrian, ein bekennender Cinephiler, ein Filmkunst-Fan, begreift das Kino als emotionale Erfahrung und Bereicherung des Kunstbetriebs. Er widmet die 69. Ausgabe des Festivals den gerade verstorbenen Filmemachern Abbas Kiarostami und Michael Cimino. Letzterem überreichte er erst im Vorjahr den Ehrenleoparden.
Genau diese beiden Künstler stünden eben für das von Chatrian beschworene Kino der Emotionen. Das soll es auch im heurigen Programm zu sehen geben. „Es steht ganz im Zeichen des ursprünglichen Geistes des Festivals, der weniger bekannten Filmografien und aufstrebenden Filmschaffenden viel Platz einräumt und Locarno zu einem Festival der Avantgarde macht: politisch und poetisch, visionär und nonkonformistisch zugleich“, sagt Chatrian.
Und so finden sich im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden viele unbekannte Namen, die es zu entdecken gilt. Es gib Arbeiten aus entlegenen Regionen des Weltkinos, etwa aus Ägypten, Thailand, Bulgarien oder Rumänien. „Die Figuren in dieser Wettbewerbsauswahl sind ständig in Bewegung“, verrät Chatrian. „Wie von einem inneren Wind angetrieben“. Matias Piñeiros Shakespeare-Betrachtung „Hermia & Helena“ aus den USA eilt schon der Ruf voraus, ein Meisterwerk zu sein. „Marija“ von Michael Koch zeigt eine rastlose Protagonistin, João Pedro Rodrigues‘ „Ornithologe“ ist hingegen wider Willen in Bewegung. In „Scarred Hearts“ des Rumänen Radu Jude sind die Protagonisten zwar ans Spitalsbett gefesselt, aber die Betten haben Rollen und bewegen sich mitsamt ihrer Patienten.
Perspektivenwechsel
„Bewegung ist ein Zeichen, dass wir das Leben aus einer anderen Perspektive betrachten wollen“, so Chatrian, der im Wettbewerb insgesamt 17 Weltpremieren zeigt. Darunter auch das neue Werk des österreichischen Filmemacher-Paares Tizza Covi und Rainer Frimmel, die es in „Mister Universo“ einmal mehr in die Welt des Zirkus verschlägt. Ein  junger Löwendompteur bricht aus seinem Alltag aus und reist quer durch Italien, um einen ehemaligen Mister Universum aufzusuchen, der ihm einst seinen verloren gegangenen Talisman geschenkt hatte.
Noch experimentierfreudiger geht es in den Reihen „Cineasti del presente“ und „Pardi di domani“ zu, wo Chatrian Filme jenseits gängiger Erzählkonventionen versammelt. Für das breite Publikum auf der Piazza Grande bietet Locarno hingegen auch Mainstream-Kost: Heuer ist hier unter anderem „Jason Bourne“ mit Matt Damon zu sehen. Aber auch der Cannes-Sieger „I, Daniel Blake“ wird in Anwesenheit von Regisseur Ken Loach aufgeführt.

Locarno bekommt in den letzten Jahren auch immer stärker den Ruf, besonders die alten Legenden des Kinos zu feiern. In diesem Jahr bekommt der 85-jährige Mario Adorf den Ehrenleoparden fürs Lebenswerk, der 90-jährige Roger Corman wird mit einer Hommage geehrt und die Italienerin Stefania Sandrelli bekommt den Leopard Club Award für ihre Leistung in 55 Karrierejahren.  

Matthias Greuling

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