Freitag, 22. Mai 2015

"Love" in Cannes: Viel Sex um Nichts

Gleich zu Beginn von Gaspar Noés neuem Film "Love" - ein schlichter Titel für eine noch schlichtere Liebesgeschichte mit viel Sex - gibt es auf der Leinwand echten Sex zu sehen. Mit Penis, Vulva und Ejakulation. Bilder, die selbst im Arthaus-Kino nicht alltäglich sind, weil sie als pornografisch gelten. Doch dem französischen Regisseur Gaspar Noé sind solche Genregrenzen fremd, im Gegenteil: Er hat sichtlich Spaß an der Provokation, wenngleich sie diesmal eher lauwarm ausfällt. Eine Gesellschaft, die lange schon überreizt ist von Sex in der Werbung und massenhaft Pornografie im Internet, kann Noés Geschichte kaum auf- oder erregen.
"Love" von Gaspar Noé (Foto: Festival de Cannes)
Noé erzählt von einem Amerikaner in Paris, der hier Film studiert und sich in eine junge Frau verliebt, doch die Liaison weitet sich - typisch französisch eben - auch noch auf die ebenfalls junge Nachbarin des Pärchens aus, und die wird dann schwanger. Großes Drama, denn die "Neue" im Bett ist nicht die große Liebe. Karl Glusman und Aomi Muyock spielen das nach Liebe dürstende Pärchen einigermaßen lustvoll (bei den Sexszenen) beziehungsweise lasch (bei den restlichen Szenen). Noé setzt bei dieser Ménage-à-trois voll auf den Schauwert. Dass junge Körper schön sein können, wissen die Cannes-Besucher ja schon aus Paolo Sorrentinos "Youth", und könnten Michael Caine und Harvey Keitel aus ihrem Swimmingpool im Schweizer Pensionisten-Chalet hinüber spechteln in die Pariser Studentenwohnung, sie würden es vermutlich tun.
Filmplakat zu "Love"

Dennoch: Der Skandal blieb aus, und Gaspar Noé, der hier in Cannes wie ein Superstar von seinen Fans empfangen wurde, musste sich am Ende mit freundlichem Applaus zufrieden geben. "Love" ist - anders als seine bisherigen Arbeiten - kaum geeignet für einen Skandal. "Irreversible" hatte 2002 wegen einer unglaublich brutalen Vergewaltigungsszene in Cannes für einen Skandal gesorgt, zuletzt war Noé 2009 mit dem Drogenfilm "Enter the Void" hier. "Love" ist zu weiten Teilen adrett gefilmtes Sexkino, bei dem es keine großen Eklats gibt. Dass der Film in 3D gedreht wurde, fügt dem Thema kaum Tiefe hinzu, es sei denn, man findet eine Ejakulation spannend, die mitten ins Publikum geht. Anlass für die ganze Story ist jedenfalls ein geplatztes Kondom - und das ist wohl auch die Message des Films: Man muss sich einfach schützen beim Sex. Diese Haltung ehrt Noé, aber sie passt so gar nicht zu seinem Image als Provokateur.
Was am Ende bleibt, ist jedenfalls die Einsicht, dass Cannes ohne Sex nicht funktionieren würde. Pornografische Szenen sind längst im filmischen Mainstream und im Kunstfilm angekommen, sie erregen nur mehr selten wirklich Unmut. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb die "Hot D'Or"-Awards, das Äquivalent der Pornobranche zur Goldenen Palme, nur bis 2001 hier in Cannes verliehen wurden: Weil Sex irgendwann alle Genregrenzen überwunden hatte, noch lange vor Gaspar Noé.

Matthias Greuling, Cannes

Donnerstag, 21. Mai 2015

Sorrentino verzaubert Cannes mit "Youth"

Als Paolo Sorrentino vor zwei Jahren den Oscar für seinen Film "La grande bellezza" erhielt, da hat man dem Italiener gerne nachgesehen, dass er damit die Welt von Fellini und dem hysterischen italienischen Kino für immer zu Grabe getragen hatte, indem er hier ein vergangenes, glamouröses Zeitalter sich selbst feiern ließ, längst eingedenk des eigenen Scheiterns, das aber zumindest grandios. Hier stand Rom, die ewige Stadt, genauso im Mittelpunkt wie seine Bewohner; doch die, die bei Fellini noch tanzten und lachten, sie waren hier schon mehr verrottet als lebendig, oder in Schönheit gestorben. La grande bellezza eben.
Jane Fonda, Michael Caine, Harvey Keitel (Foto: Katharina Sartena)
Spätestens mit seinem neuen Film ist klar, dass Sorrentino der Thematik noch viel mehr hinzuzufügen hat, und zwar einiges, was über die engen Grenzen seiner Heimat weit hinaus strahlt, tief hinein ins Herz Europas, und auch tief hinein in eine lang vergangene Blütezeit, als gelungene James-Bond-Filme grundsätzlich in der Schweiz spielten, die filmischen Kunstwerke aber aus Frankreich, Schweden, vielleicht noch aus dem britischen Raum stammten. Sorrentino nennt sein Traktat über die Vergänglichkeit schlicht "Youth", weil es von ebendieser handelt; oder zumindest vom Verlust derselben. Es gibt in diesem Film sehr viele schöne Bilder, auch schöne Körper und noch viel schönere Kontraste, und es gibt hier Einstellungen, die mit nur einer Sekunde klar machen, wie die Dinge wirklich liegen: Der dazugehörige Satz lautet "Youth is wasted on the young, before they know it's come and gone". Der Zuschauer kann das hier in jeder Szene entdecken. Manchmal braucht er dafür seinen Intellekt, den Sorrentino dann aber auf das Berauschendste stimuliert.
Rachel Weisz spielt Michael Caines Tochter mit Eheproblemen (Foto: Katharina Sartena)
Eingebettet in die harmonisch wirkenden Schweizer Alpen, weit oberhalb von Davos liegt das Berghotel Schatzalp, in dem Thomas Mann seinen Zauberberg schrieb. Das Luxusanwesen dient in "Youth" als Ressort für betuchte Gequälte: Man kuriert hier die Depressionen der Reichen ebenso aus, wie ihre Lungenkrankheiten. Die Beschaulichkeit spielt Sorrentinos Suche nach vollkommener Ästhetik in die Hände. Das reduzierte Tempo des Films dient ihm als Rahmen für Bilder von Alter und Jugend, von Kontrasten und Überschneidungen, von bitteren Alpträumen und noch bittereren Realitäten. Im Zentrum steht der Komponist und Dirigent Fred (Michael Caine), lange pensioniert, der selbst hartnäckig bleibt, als ihn die Queen persönlich für ein Konzert heimholen will. Doch sein Nein soll ein Nein bleiben. An seiner Seite lebt der Hollywood-Regisseur Mick (Harvey Keitel) in dem Hotel, dessen Schaffenskraft noch ungebrochen scheint. Er eilt noch immer dem Traum vom perfekten Hollywoodfilm, von einem alles subsumierenden Vermächtnis seiner Kunst nach. Anzumerken ist: Dieser Schlag von Regisseuren ist in Hollywood so gut wie ausgestorben. Er verschwand mit Leuten wie Lumet, Pollack, aber auch Wilder. Auch Mick scheint kein Glück zu haben: Jane Fonda (die echte!) gibt ihm für seinen neuen Film einen Korb.
Paul Dano, Jane Fonda, Harvey Keitel, Rachel Weisz, Michael Caine in Cannes (Foto: Katharina Sartena)
Mick und Fred unterhalten sich gerne über die Anzahl ihrer Urintropfen, die sie pro Tag noch ausscheiden können - und auch über so manch andere Alterserscheinung. Als Kontrast steckt Sorrentino ungeniert krassen Pop in Form von Paloma Faith oder der Miss Universe  in dieses aphorismenhaltige Puppenhaus voller Sehnsüchtiger, die ihre Vergangenheit immer weiter entfernt sehen, weil die Zukunft schon so knapp ist. Kontraste sind das, was diesen Film ausmachen, einen Film über das Altern, der "Youth" heißt. Sorrentino (er)findet faszinierende Bilderwelten für seine Gegensätze und kleidet die Banalität des Alterns und des Lebenskreislaufs in opulente Hochglanzbilder voller Anmut. 

Ein Blickfang, ein Sammelsurium aus Gewesenem und Vergangenem, aus mehr Wehmut als Hoffnung; "Youth" ist Sorrentinos grandios geglückter Versuch, der Psychologie der Endlichkeit in die Karten zu blicken; der Regisseur unternimmt den bewusst gescheiterten Anlauf, eine Bilanz des Lebens zu ziehen, in dem seine Protagonisten so lange ruhelos bleiben, solange sie selbst keine Spuren hinterlassen haben. Spuren zu hinterlassen ist eine Illusion, das wissen auch Sorrentinos Helden. Aber sie geben sich ihr nur allzu gerne hin.

Matthias Greuling, Cannes

Mittwoch, 20. Mai 2015

Wie macht das der Hitchcock?

Truffaut trifft Hitchcock (Foto: Festival de Cannes)
Über das berühmteste Filmbuch der Welt gibt es jetzt einen Film: Kent Jones hat ihn in Cannes vorgestellt.
1962 haben sich François Truffaut und Alfred Hitchcock, kurz, nachdem "Hitch" seinen Film "Die Vögel" abgedreht hatte, zu einem mehrtätigen Marathon-Interview in Hollywood getroffen. Der französische Regisseur und Mitbegründer der Nouvelle Vague war, wie viele seiner Kollegen, ein großer Verehrer von Hitchcocks "Suspense"-Kino, das zu entschlüsseln er mit diesem Interview hoffte. Herausgekommen ist eine der fundamentalsten und zugleich detailreichsten Lehrstunden über das Filmemachen: Das Buch "Truffaut: Hitchcock", das vor 50 Jahren zeitgleich in den USA und in Frankreich erschienen war, gehört heute zur Standardlektüre jedes Filmstudenten und bildete wegen seiner Interviewform die Grundlage für weitere ähnliche Werke.
"Für Truffaut selbst hatte dieses Buch denselben Stellenwert wie einer seiner Filme", sagt Kent Jones. Der US-amerikanische Filmemacher hat nun unter dem Titel "Hitchcock - Truffaut" eine Doku über die Entstehung des Interviewbuches gemacht. Als Basis standen ihm dabei die Original-Tondokumente des Interviews zur Verfügung. Weshalb man in Jones' Film nun auch Ausschnitte aus dem Gespräch zwischen Truffaut und Hitchcock - stets gedolmetscht via Simultanübersetzung - zu hören bekommt. Sie geben dem geschriebenen Buch noch eine weitere Dimension von Lebendigkeit.
"Diese Doku sollte nicht bloß für Cinephile gemacht werden", sagt Regisseur Jones, der den Film gemeinsam mit Serge Toubiana, dem einstigen Chefredakteur der "Cahiers du cinéma" (Truffaut begann dort als Filmkritiker) und der Cinématheque française, realisiert hat. "Ich will dem Zuschauer vorführen, welche Kraft Kino in all seinen Spielformen haben kann". Dabei sei Jones auch wichtig, herauszuarbeiten, dass "Hitchcock stets eine sehr klare und simple Sprache sprach, die man verstand. Er erklärt einem Kino so, als wäre es das Einfachste von der Welt". 

Kent Jones (Foto: Matthias Greuling)

In zahlreichen Filmausschnitten - von "Die Vögel" über "Psycho" bis hin zu "Rear Window" oder "Vertigo" - illustriert Jones die Karriere Hitchcocks und lässt Truffaut und den Meister selbst zahlreiche Einstellungen analysieren. Hinzu kommen etliche zeitgenössische Regisseure, die Jones zu Hitchcock befragt hat: David Fincher, Martin Scorsese, Richard Linklater oder auch Wes Anderson versuchen eine Neu-Einordnung von Hitchcocks Werk vor dem Hintergrund moderner narrativer Strukturen.
In Cannes erhielt "Hitchcock -  Truffaut" viel Applaus. "Es war uns ein ganz besonderes Anliegen, diesen Film in  der Reihe 'Classics' zu zeigen", sagt Thierry Frémaux, der künstlerische Leiter des Festivals. "Zumal Truffaut und Hitchcock zwei wesentliche Figuren für diese Filmschau waren".
Für Kent Jones ist das Buch "eines der wichtigsten Einflüsse, die es auf mich als Filmemacher gab. Inhaltlich ist es von solcher Klarheit, dass ich es Hitchcock verdanke, mir einen Weg gezeigt zu haben, Filme zu machen."



Matthias Greuling, Cannes

Dienstag, 19. Mai 2015

Benicio del Toro will auch mal Egoist sein

Für viele ist Benicio del Toro der Inbegriff des Latino-Schauspielers, der es in Hollywood zu Weltruhm gebracht hat. Damit geht auch das Stereotyp des verruchten Lovers einher. Doch anders als etwa der Spanier Antonio Banderas hat sich del Toro nie als Sexsymbol definiert. Sex-Symbol, was ist das?, lacht der sympathische 48-Jährige, der seinen Durchbruch 2001 mit Steven Soderberghs Thriller Traffic hatte, für den er auch einen Nebenrollen-Oscar bekam. Ich habe nie wirklich kapiert, was die Leute unter einem Sex-Sybol verstehen, sagt del Toro. Für den aus Puerto Rico stammenden Schauspieler sind es mehr die Charaktere und weniger das schimmernde Drumherum, was er an seinem Beruf liebt. Mich interessieren Figuren, die Ecken und Kanten haben, sagt er. Ich will dreidimensionale Figuren, die ich verstehen kann, denen ich glauben kann, selbst wenn sie von einem anderen Planeten stammen.
Benicio del Toro (Foto:Katharina Sartena)

In Cannes ist Benicio del Toro in diesem Jahr gleich in zwei Filmen zu sehen. In der spanischen Produktion A Perfect Day von Fernando León de Aranoa, die hier außerhalb des Hauptbewerbs lief, spielt er das Mitglied einer Truppe von Hilfskräften, die in einem Kriegs-Krisengebiet im Einsatz ist. In dem Wettbewerbsbeitrag Sicario hetzt ihn Regisseur Denis Villeneuve in eine Geschichte um mexikanische Auftragskiller.

Als Lateinamerikaner hast du es in Hollywood nicht leicht, weiß del Toro aus Erfahrung. Aber es ist viel passiert in den letzten Jahren, die Situation hat sich deutlich verbessert. Dennoch gab und gibt es Rückschläge, auch in der persönlichen Karriere des charismatischen Darstellers: Wenn es mal nicht so gut läuft, muss man das auch irgendwie durchstehen. Benicio del Toro hat dafür zwei Pläne parat: Der eine lautet: So viel Selbstvertrauen wie möglich aufbringen. Der andere lautet: Sein Ego durchaus auch mal raushängen lassen. Denn Selbstvertrauen bekommt man nur, wenn man auch egoistisch sein kann. Man darf sich ruhig dann und wann auf sein Ego verlassen und es auch einsetzen

Matthias Greuling, Cannes

Sonntag, 17. Mai 2015

Woody Allen und die lästigen Schauspieler

Woody Allen mit Emma Stone (l.) und Parker Posey. (Foto: Katharina Sartena)
"Ich weiß eigentlich nicht, worüber ich mit Schauspielern sprechen sollte", sagt Woody Allen. Der 79-jährige New Yorker Regisseur hat seinen neuen Film "The Irrational Man" nach Cannes mitgebracht, der hier außer Konkurrenz gezeigt wird. Wie immer, denn Allen mag sich und seine Arbeit keinem Wettbewerb ausgesetzt sehen. Weshalb er sich auch seine mittlerweile drei Oscars nie persönlich abgeholt hat, sondern bei der Gala stets durch Abwesenheit glänzte.
Nach Cannes ist er aber persönlich mit Ehefrau Soon-Yi angereist. Er gibt Interviews im noblen Hotel Martinez an der Croisette, das Interviewzimmer ist beinahe auf arktische Temperaturen herabgekühlt. Gerade noch saß Parker Posey im Interviewraum vor den Journalisten und lässt sich bei der letzten Frage zu ihrer Mitwirkung in "The Irrational Man" viel Zeit. Woody Allen steht schon in der Tür und deutet ihr "Raus hier".
Allen ist eloquent in Interviews, aber auch er will diesen Cannes-Marathon möglichst schnell hinter sich bringen, wie alle hier. Parker Posey nimmt den harschen Auftritt ihres Regisseurs gelassen, denn sie weiß: Allen hat eigentlich kein allzu großes Interesse an Schauspielern. Was er auch im Interview mit der Wiener Zeitung deutlich macht. 
"Schauspieler brauchen immer eine Ansprache, wollen einen kennen lernen, mit einem reden, aber ich denke mir: Wozu?," fragt Allen. "Ich habe meine Schauspieler bereits genau studiert, kenne vorab all ihre Fähigkeiten und weiß, was sie können. Sie müssen bei mir nicht zum Casting kommen und Texte vortragen. Das ist doch albern. Der Schauspieler wird nervös, weil er Angst hat, zu versagen, und ich werde nervös, weil der Schauspieler nervös wird". Also belässt es Woody Allen bei der Besetzung seiner Filme meist bei einem kurzen Treffen, das selten länger als eine Stunde dauert, erzählt er. "Ich habe keine Freunde, die Schauspieler sind. Was sollte ich mit ihnen denn reden?"
Selbst seine "Musen" Scarlett Johansson oder Emma Stone, die auch im neuen Film dabei ist, zählen nicht zu Allens Freundeskreis. "Ich weiß, dass Emma Stone eine fantastische Schauspielerin ist. Sie macht vor der Kamera immer alles richtig, wieso sollte ich ihr dann Anweisungen geben? Ich verzichte meistens komplett darauf", sagt Allen. "Und privat sehe ich wirklich keinen Grund, Emma zum Essen auszuführen".
In "The Irrational Man" erzählt Allen von einem Literaturprofessor, gespielt von Joaquin Phoenix, der zwischen Alkohol und Depression am Leben zu zerbrechen droht, bis er die Idee hat, all dem Gerede seiner Lieblingsphilosophen endlich Sinn zu verleihen: Er will den tyrannischen Ehemann einer Frau ermorden, deren Wehklagen er nur zufällig mitgehört hat. Würde dieser Mensch nicht mehr leben, wäre die Welt ein Stückchen besser, ist der Professor überzeugt.
Eine gewagte These, der Allen aber einiges abgewinnen kann. Ist ein Mord in manchen Fällen gar zu rechtfertigen, fragen wir ihn. "Natürlich", sagt Allen entschlossen. "Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Wenn Sie wüssten, dass ein Mann in einer Schule eine Bombe legt, die 500 Kinder töten könnte, und Sie ihn aber im Vorfeld erwischten und ermordeten, würden Sie das dann nicht tun? Man könnte so 500 Leben retten", sagt Allen.
Gedankenexperimente wie dieses hat Allen in seinem Film durchdekliniert. In Joaquin Phoenix hat er jedenfalls den idealen abgewrackten, versoffenen Uniprof gefunden, der sich gegen Affären mit Studentinnen wehrt, dann aber doch mit seiner Lieblingsstudentin (Emma Stone) im Bett landet. Und auch mit Parker Posey. Die neuen Lebensgeister, die der Mord in ihm weckt, ändern sein Leben von Grund auf.
"Joaquin war perfekt, weil er auch auf mich selbst so kompliziert und umständlich und völlig fertig wirkte, wie seine Figur zu sein hatte", sagt Allen. "Er musste gar nicht wirklich spielen, finde ich". Womit wir wieder bei den lästigen Schauspielern wären. "Ich gebe ihnen kaum Anweisungen. Ich vertraue darauf, dass sie mir geben, was sie können. Und meistens ist für mich was dabei", lacht er, der im kommenden Dezember 80 Jahre alt wird. "Ich werde Filme machen, solange ich gesund bin. Mein Körper verfällt zusehends, ich habe ein Hörgerät und sehe schlecht", sagt Allen. "Aber Ideen habe ich noch mehr als genug".

Matthias Greuling, Cannes

Freitag, 15. Mai 2015

Yorgos Lanthimos, auf den Hund gekommen

Als völlig absurd könnte man Yorgos Lanthimos‘ neue Arbeit „The Lobster“ (dt. „Der Hummer“) bezeichnen, der in Cannes im Wettbewerb um die Goldene Palme antritt. Dabei ist das englischsprachige Filmdebüt des Griechen auch tief- und feinsinnig im Umgang mit seinem Thema: in einer nicht allzu weit entfernten Zukunft ist das Single-Dasein verboten, und alle Menschen, deren Beziehung gerade gescheitert ist, werden angehalten, in ein speziell dafür vorgesehenes Hotel einzuchecken, wo sie innerhalb von 45 Tagen einen neuen, passenden Partner finden müssen. Gelingt das nicht, so werden sie unumkehrbar in Tiere verwandelt und in die Wildnis entlassen. Immerhin: Welches Tier sie werden, dürfen sie sich selbst aussuchen. „Die meisten nehmen Hunde“, sagt die Hotelchefin einmal. „Deshalb ist die ganze Welt voller Hunde“.

Rachel Weisz und Colin Farrell (Foto: Katharina Sartena)


Inmitten dieser skurrilen Geschichte findet sich unvermutet David (Colin Farrell) wieder, der als Mittvierziger nach einer Trennung nun kurz vor der Umwandlung zum Hummer steht. „Ein Hummer deshalb, weil die 100 Jahre alt werden“, rechtfertigt er seine Wahl. Ins Hotel kommt er mit seinem Hund, der einmal sein Bruder war. Der wird später eines brutalen Todes sterben.
Bei gemeinsamen Ausflügen mit den anderen Singles werden geflüchtete Singles gejagt: Mit Betäubungsgewehren. Jeder erlegte Single bringt einen zusätzlichen Tag im Hotel, also eine zusätzliche Chance, einen Partner zu finden. Irgendwann wird auch David die Zeit zu knapp, und er reißt aus. Jetzt ist er ein Flüchtling und trifft unterwegs auf andere Singles (darunter Léa Seydoux und Rachel Weisz). Doch auch in Freiheit, so lernt David schnell, gibt es mehr Regeln als ihm lieb sind.
Colin Farrell (Foto: Katharina Sartena)
Yorgos Lanthimos skurrile Partnerschafts-Suche ist spitzfindig ausgedachtes Metaphern-Kino zwischen Jux und Ernsthaftigkeit; „Wir haben diesen Film einfach beim Reden entwickelt“, sagt der Regisseur. „Wir sprachen über Beziehungen, Paare und Singles, fanden kleine Szenen, und so entstand Stück für Stück der Film“, so Lanthimos. „Wir zeigen in dem Film das menschliche Bedürfnis, in Beziehungen leben zu wollen, und welchen sozialen Stress es mitbringen kann, dieses Bedürfnis zu stillen. Es ist ein Film über die Liebe und ob sie wirklich echt sein kann“.
Dass Lanthimos in der Ausgestaltung seiner Szenen „maßlos übertrieben“ hat, weiß er selbst. „Das ist Absicht, obwohl ich eigentlich kein großer Anhänger von absurden Situationen im Kino bin. Ich wollte aber zeigen, wieviel Absurdität in der von uns gelebten Form der Liebe steckt.“
Szene aus "The Lobster" (Foto: Festival de Cannes)

„The Lobster“ trägt eine gewisse Form von Understatement vor sich her, weshalb skurrile Situationen noch zusätzlich überhöht wirken. Ein bisschen rätselhaft will Lanthimos auch sein, und ein bisschen larmoyant. Denn so richtig glücklich ist in „The Lobster“ niemand – auch die nicht, die sich in Partnerschaften befinden. Manchmal, da ist sich David sicher, ist der Hund doch der beste Freund des Menschen. Auch wenn er mal der eigene Bruder war. 

Matthias Greuling, Cannes

"Son of Saul" ist ein früher Cannes-Favorit

In Cannes hat ein Film schon am zweiten Festivaltag all das vergessen lassen, was man hier gemeinhin unter dem Begriff des Festival-Trubels subsumiert: All die Partys, die Empfänge, die Galas und die roten Teppiche - darauf hat keine Lust mehr, wer "Saul Fia" des ungarischen Regisseurs László Nemes gesehen hat.
"Saul Fia" von László Nemes (Foto: Festival de Cannes)
Nemes war lange Zeit Assistent seines Landsmanns Bela Tarr, und das merkt man auch: Seine Arbeit ist in mehrerlei Hinsicht äußerst bemerkenswert - sowohl formal als auch inhaltlich. "Saul Fia" ("Der Sohn des Saul") dreht sich um den KZ-Häftling Saul Ausländer (Geza Röhrig), einen ungarischen Juden, der in einem "Sonderkommando" im KZ die Arbeit verrichtet, für die sich die Deutschen zu vornehm sind: Man räumt die Taschen der gerade angekommenen Juden leer, nachdem sich die Tore zur Gaskammer schließen, und hinterher schrubbt man den Raum frei von all dem Erbrochenen, beseitigt diese Spuren des Todeskampfs und schleift die Leichen aus dem Raum.
László Nemes (Foto: Katharina Sartena)
Das völlig Entmenschlichte abzubilden, das war für viele bisher ein Tabu, und noch niemand hat es so drastisch getan wie dieser László Nemes, ein Regie-Debütant, dem hierfür nichts weniger als die Goldene Palme gebührt, weil er selbst mit dem Abbild dieses Massenmordes hadert: Wir erleben die Geschichte von Saul stets in Close-ups, die ihn in langen Einstellungen von hinten, der Seite und seltener auch von vorne durch das Lager begleiten. In streng kadrierten 4:3-Bildern, gedreht (und - Rarität- vorgeführt!) auf 35mm, ergibt sich ein Bild des Grauens aus dem Spiel mit der Tiefenschärfe. Weil der Fokus stets auf Saul selbst liegt, nie aber auf dem Grauen, das er durch seine Augen sieht, bleibt vieles, was sich da unscharf im Hintergrund abspielt, zu einem gewissen Teil auch Projektionsfläche für den Zuschauer. Es gibt selten Filme, die ihre Stilistik so sehr mit dem Thema verzahnen und diese Paarung derart konsequent durchführen wie dieser.

Auch Nemes zeigt das Unzeigbare nicht; er belässt es in einer grauenerregenden Unschärfe. So hat man den Holocaust noch nie gesehen: voller Unruhe, Angst und Terror. Ein Film, der vieles der eigenen Fantasie überlässt und der in Ansätzen so grausam ist, wie es die Erinnerungen der Überlebenden gewesen sein müssen.
Matthias Greuling, Cannes

Donnerstag, 14. Mai 2015

Mad Max bringt das Spektakel nach Cannes

Tom Hardy und Regisseur George Miller (Foto: Katharina Sartena)
In der Filmgeschichte gibt es zahllose Belege dafür, dass der Schuster lieber bei seinen Leisten bleiben sollte: Sylvester Stallone zum Beispiel wird ewig der Rambo und Rocky bleiben – zwei Figuren, die ihn weltberühmt gemacht haben. Arnold Schwarzenegger wird im Sommer als Terminator zurück in die Kinos kommen – eine Rolle, die ihm seinerzeit auf den Leib geschneidert wurde, sozusagen. Und die ihn auch nie mehr loslassen wird.
Was soll’s, denkt sich der ergraute Star von einst: Seine Zeit in mittelklassigen Actionfilmchen verdingen, oder nochmal auf den Putz hauen? Zweiteres ist für die meisten altgedienten Stars das Rezept der Stunde. Und auch Regisseure (mit Ausnahme von George Lucas vielleicht) greifen gerne zu Altbewährtem, oder zumindest zu dem, was einst Glanz und Glorie verhieß, und jetzt ein wenig entstaubt werden muss.
Charlize Theron mit Sean Penn am Roten Teppich zu "Mad Max: Fury Road" (Foto: Katharina Sartena)
„Mad Max“ ist so ein Beispiel – wobei der Staub zu diesem Film regelrecht dazugehört. In der namibischen Wüste, die als Drehort diente, ist es nämlich sehr, sehr staubig. In Cannes hat diese Neuauflage der „Mad Max“-Serie nun Premiere gefeiert, dreißig Jahre nach dem dritten Teil. In diesem Fall ist es George Miller, der den Reboot seines größten Filmerfolges wagt. Miller hatte schon alle drei Teile inszeniert, in denen Mel Gibson den Mad Max spielte.
Immerhin: Gibson wurde durch Tom Hardy ersetzt, und das ist vielleicht das größte Verdienst dieser zweistündigen Daueraction. Noch einen Actionstar im Rentneralter hätte es nämlich nicht gebraucht. Als Imperator Furiosa ist Charlize Theron zu sehen. Das Ganze ist effekthascherisches Brimborium mit tollen Bildern und noch tolleren Spezialeffekten. Cannes braucht solche Filme genauso wie die hehre Filmkunst, denn sie bringen den nötigen Glamour an die Croisette.
Anstatt eines Remakes siedelt Miller die Handlung im postapokalyptischen Australien an, Jahre nachdem der neue Mad Max seine Familie verlor. „Ich wollte nicht etwas erzählen, was ich schon erzählt hatte. Der originale Mad Max soll den Zusehern so in Erinnerung bleiben, wie ich ihn damals inszeniert habe“, sagte der Regisseur in Cannes. „Stattdessen habe ich versucht, das Mad-Max-Universum zu erweitern“. Auch das der Versuch, die Klassiker von einst nicht zu kopieren.
Weil Miller ein Regisseur der alten Schule ist, hat er auf allzu viel Tricktechnik verzichtet. 80 Prozent der Special Effects sind sozusagen „handgemacht“ und stammen nicht aus dem Computer. Die Stunts sind echt, ebenso die Landschaft. Miller baute riesige, reale Sets in Namibia und drehte den gesamten Film chronologisch.
Beinahe hätte Miller den Film schon 2003 realisiert, „doch damals kamen uns Einfuhr-Bestimmungen in Namibia dazwischen“. Als dann der Irakkrieg begann, wurde der Dreh komplett verschoben, das Projekt stand auf der Kippe.
Der nun doch noch erfolgte Neustart von „Mad Max“ wird übrigens nicht folgenlos bleiben. Im Vorfeld des Cannes-Filmfestivals hatte man bereits gehört, dass Darsteller Tom Hardy bereits für drei weitere „Mad-Max“-Filme unterschrieben hat. Könnte gut sein, dass diese Rolle dann auch für immer an ihm klebt.

Matthias Greuling, Cannes