Sonntag, 22. Mai 2016

Ken Loach gewinnt seine zweite Goldene Palme

Da sieht man wieder, wie weit Kritiker- und Jury-Meinungen auseinander liegen können: Beim 69. Filmfestival von Cannes hat fast keiner der in den letzten zwei Wochen von der Weltpresse favorisierten Filme einen Preis gewonnen, oder sagen wir: Den Preis gewonnen, den man ihm zugestanden hätte. Die Jury rund um Regisseur George Miller, der unter anderem Vanessa Paradis, Mads Mikkelsen, Valeria Golino und Kirsten Dunst angehörten, zeichnete am Sonntag Abend in Cannes den Briten Ken Loach für dessen Sozialdrama "I, Daniel Blake" mit der Goldenen Palme aus - völlig überraschend, nachdem Loach niemand für den Hauptpreis des Festivals auf dem Radar hatte. Loach hat damit als achter Regisseur - nach Kollegen wie Michael Haneke, den Dardenne-Brüdern, Francis Ford Coppola oder Emir Kusturica - bereits zwei Palmen gewonnen, zuletzt 2006 für "The Wind that Shakes the Barley".
Siegerfilm "I, Daniel Blake" von Ken Loach. (Foto: Festival de Cannes)

Weshalb überraschend? Loach hat immerhin ein sozialpolitisch relevantes Drama mit nach Cannes gebracht, das durchaus preiswürdig ist. Es geht um den Mittsechziger Daniel Blake, gespielt von Dave Johns, der im England der Gegenwart kaum mehr "value" hat für die Gesellschaft. Nach einem Herzinfarkt ist er nach 40 "Beitragsjahren" plötzlich ein Risiko für den Staat. Zwei Monate Genesung gewährt man ihm, aber die Ämter geben ihm keine Ruhe mehr mit ihren Formularen. Es ist ein auswegloser Kampf: Blake scheitert am britischen Sozialwesen, weil er nicht mehr ins Räderwerk passt: "Ich bin keine Sozialversicherungsnummer, auch kein Betrüger, erst recht kein Hund. Ich bin ein Bürger", sagt er einmal. Aber da war noch was: Der Kapitalismus hat von sozialer Gerechtigkeit keine Ahnung, deshalb, geht für Blake alles schief, was nur schief gehen kann. Es geht um das "System", in dem wir alle leben, und das in Großbritannien nicht anders zu laufen scheint als bei uns: Es geht um das Überleben des Stärkeren, wie in der Urzeit. Gratulation an die Errungenschaften des Sozialismus. Sie scheinen vergessen. "Die Welt, in der wir leben, ist in einer gefährlichen Situation, weil die Ideen, die wir ‚neoliberal' nennen, zu einer Katastrophe führen", so Loach. "Eine andere Welt ist möglich und sogar notwendig", zeigte er sich in seiner auf Französisch gehaltenen Ansprache überzeugt.

Dass der 79-jährige Loach hier noch einmal den Hauptpreis holt, hatte niemand gedacht, was seinen Film natürlich keineswegs irrelevant macht: Es kann auch als politischer Kommentar der Jury gewertet werden, dass hier Kino mit einer sozialpolitischen Message prämiert wird.

Dasselbe hätte freilich für "Toni Erdmann" der deutschen Regisseurin Maren Ade gegolten, die in ihrem Drama mit Sandra Hüller und Peter Simonischek den Mechanismus des Kapitalismus auf mindestens ebenso eindringliche Weise wie Loach aufgedröselt hätte. Jedoch sind die dargestellten sozialen Schichten andere: Während Ade über eine junge deutsche Business-Frau in Rumänien berichtet, die persönlich an der Kälte ihres Jobs in der Wirtschaft zerbricht, ist es bei Loach ein viel älteres Opfer der sozialen Marktwirtschaft, die scheinbar keine Würde kennt.

Würde. Das ist überhaupt so ein Wort, dass man in diesem Jahr auf Cannes und seine Filme anwenden kann. Allzu oft ging es im Wettbewerb auch um Würde und die damit verbundenen persönlichen Befindlichkeiten der Filmfiguren. Wie in "Juste la Fin du Monde" des Kanadiers Xavier Dolan, der hier den Großen Preis der Jury holte - nach dem "Preis der Jury" 2014 für sein eigentliches Chef d’Œu¬v¬re "Mommy". Diesmal ist Dolan weit weniger radikal in der formalen Ausformung seiner Geschichte: Ein sterbenskranker junger Mann kehrt nach 12 Jahren zu seiner Familie zurück und erklärt sein bevorstehendes Ableben. Der Film weist dafür mehr französische Stars auf als der Vorgänger: Diesmal sind Marion Cotillard, Léa Seydoux, Vincent Cassel und Nathalie Baye dabei - immer ein guter Trumpf bei einem französischen Filmfestival.

"The Salesman" des iranischen Oscar-Preisträgers Asghar Farhadi ("A Separation") wurde neben Loach zum zweiten großen Gewinner des Abends. Während Regisseur Farhadi selbst für das Drehbuch zu seinem vielschichtigen, entrischen Drama gewürdigt wurde, konnte sich Darsteller Shahab Hosseini über den Preis als bester Schauspieler freuen. Bei den Damen triumphierte - anders als von der Presse vorhergesagt Sandra Hüller für "Toni Erdmann" - die 52-jährige Philippinerin Jaclyn Jose, die in dem Korruptionsdrama "Ma' Rosa" von Brillante Mendoza mit großer Verve eine Gemischtwarenhändlerin aus Manila mit Drogen-Nebenverdient spielt. Eine verdiente Auszeichnung, obwohl es mit Isabelle Huppert, Sonia Braga, Adèle Haenel und natürlich Sandra Hüller hier eine so starke Konkurrenz gab wie selten.

Der Regiepreis wurde diesmal geteilt und ging sowohl an den Franzosen Olivier Assayas für dessen Luxus-Drama "Personal Shopper" mit Kristen Stewart, als auch an den Rumänen Cristian Mungiu für "Bacalaureat". Mungiu hatte in Cannes bereits 2007 die Goldene Palme gewonnen. Der Preis der Jury für Andrea Arnolds "American Honey" komplettiert den Reigen der wichtigsten Auszeichnungen an der Croisette. Die meisten von ihnen kamen überraschend. Die Jury und die Presse lagen meilenweit auseinander. Veröffentlichte und nicht veröffentlichte Meinung divergieren eben oft sehr stark, das zeigen ja auch andere Entscheidungen dieser Tage.

Matthias Greuling, Cannes

Samstag, 21. Mai 2016

Sonia Braga: Die schöne Mieterin

In Cannes hat im Wettbewerb ein kleiner Film aus Brasilien für viel Aufsehen gesorgt: "Aquarius" von Kleber Mendonca Filho, einem Debütanten im Wettbewerb um die Goldene Palme, werden für die Preisverleihung am Sonntag Außenseiterchancen eingeräumt. Filho erzählt von der 65-jährigen pensionierten Musikkritikerin Clara (Sonia Braga), die in Recife in einem alten Wohnkomplex mit Meerblick namens "Aquarius" lebt. Doch alle Apartments im Haus wurden bereits von einer Firma aufgekauft, die mit dem Haus bestimmte Pläne haben. Clara weigert sich standhaft, die Wohnung aufzugeben, für die sie ein Wohnrecht bis zu ihrem Lebensende hat. Ein kalter Krieg zwischen ihr und den Eigentümern beginnt.

Sonia Braga (Foto: Katharina Sartena)


"Aquarius" sagt in seiner Schlichtheit sehr viel über die brasilianische Gesellschaft aus und reflektiert auf subtile Weise, wie mit Immobilienspekulation in Brasilien, speziell in Recife, nicht nur Politik gemacht wird, zu der immer auch der Geruch der Korruption gehört, sondern wie man auch auf einer psychologischen Ebene mit alten Mietern verfährt. "Es gab hier vor der Rezession eine regelrechte Ralley, wenn es darum ging, alte Häuser aufzukaufen und sie abzureißen", erzählt Regisseur Kleber Mendonca Filho. Der 47-Jährige erzählt auch, wie sehr man Mieter und auch Eigentümer unter Druck gesetzt hat, "bis sie letztlich ausgezogen sind. Man hat die Häuser abgerissen, ein neues drauf gebaut und teuer verkauft. Ich wollte in meinem Film zeigen, wie dieser Vorgang mit einem persönlichen Schicksal verknüpft sein kann".

Ganz nebenbei ist "Aquarius" dadurch auch eine metaphorische Szenensammlung vom Handeln moderner Großkonzerne, die längst mit psychologischen Mitteln agieren, um ihre Ziele zu erreichen. "Clara gerät zunehmend unter Druck, und beginnt bald, an ihrem Verstand zu zweifeln. Da sieht man, wie weit psychologische Einschüchterung gehen kann".
Sonia Braga spielt diese Clara sehr überzeugend, weshalb ihr hier in Cannes auch Chancen auf den Darstellerpreis ausgerechnet werden. Die brasilianische Schauspielerin, die durch Telenovelas berühmt wurde und in den 80er Jahren in Hollywood mit Regisseuren wie Clint Eastwood oder Robert Redford drehte, war Fihlos Wunschbesetzung für die Rolle. "Sonia Braga kann mit ihrer unglaublichen Präsenz einer Figur wie Clara Leben einhauchen, weil sie versteht, wie wichtig es ist, sich auf eben diese Präsenz zu konzentrieren. Alles im Film dreht sich um Clara, und diese Last muss eine Schauspielerin erst einmal tragen können".

Dass Braga in ihrer Jugend auch als Sexsymbol des brasilianischen Films galt, war für den Regisseur nicht ausschlaggebend. "So habe ich sie nie gesehen. Für mich ist sie mehr ein Symbol für ewige Schönheit. Jeder in Brasilien kennt ihr Gesicht, sie ist Teil unserer Kultur. Und diesen Umstand wollte ich in meinem Film feiern".

Matthias Greuling, Cannes

Dardenne-Brüder wieder im Wettbewerb von Cannes

Eine junge Ärztin öffnet Abends die Tür zu ihrer Praxis nicht mehr, als es läutet. Am nächsten Tag ist ein Mädchen tot, die Polizei beginnt mit Untersuchungen und auch die Ärztin forscht nach, wie es zu all dem kam. Die belgischen Regiebrüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, die in Cannes bereits zwei Mal die Palme gewannen, erzählen in ihrem neuen Film "La fille inconnu" (Das unbekannte Mädchen) eine Geschichte, die - wie immer bei den Dardennes - eine simple Aussage hat: Die Verantwortung für unsere Mitmenschen kann nicht negiert werden, sie endet nicht bei Büroschluss. Dass die Dardennes diesmal allerdings übers Ziel ihrer ansonsten so simplen, aber wirkungsvollen Erzählweise hinausgeschossen haben, mag daran liegen, dass ihr Plot mit dem Fortgang der Ereignisse so simpel nicht bleibt: "La fille inconnu" wirkt stellenweise wie ein Sonntags-Krimi anstatt wie eine niveauvolle Auseinandersetzung mit dem Thema.
Jean Pierre und Luc Dardenne (Foto: Katharina Sartena)

Sehr beeindruckend agiert aber immerhin die Hauptdarstellerin des Films. Adèle Haenel sieht man bei ihrer Ursachenforschung sehr gerne zu, weil sie sich perfekt in das Universum der Geschichte einfühlt. Das geht auch gar nicht anders, wenn man in jeder Szene zu sehen ist. "Mich hat die Einfachheit und zugleich die Komplexität der Geschichte angesprochen", sagt Haenel im Gespräch. "Die Dardennes arbeiten sehr präzise, sie kommen schnell zum Punkt und halten sich nicht unnötig mit Nebensächlichkeiten auf". Dazu gehört auch, dass sich die Belgier kaum um die Backstory ihrer Figuren kümmern. "Man weiß fast nichts von meiner Figur, auch nicht über ihr Privatleben. Bei den Dardennes spielt Psychologisierung keine Rolle, sie filmen lieber die Körperlichkeit ihrer Figuren ab, anstatt sie zu verkopfen".

Was sich auch in einer starken physischen Präsenz äußert, mit der Dardenne-Schauspieler arbeiten müssen. "Hier ist es wichtiger für die Glaubwürdigkeit einer Rolle, dass man als Schauspieler weiß, wie man sich am schnellsten medizinische Handschuhe anzieht, oder wie man eine Spritze setzt, wenn man eine Ärztin spielt. Mit solchen scheinbar nebensächlichen Details steht und fällt die Glaubwürdigkeit einer Performance". Die Konsultation von medizinischem Fachpersonal gehörte also zur Vorbereitung dazu, damit alles möglichst natürlich wirkte.

Die Natürlichkeit von Adèle Haenel, die die Dardennes in ihren Filmen wie "Suzanne", "In the Name of my Daughter" oder "Love at First Sight" (für den Haenel 2014 einen César als beste Schauspielerin erhielt) kennen lernten, war für die Rolle obligatorisch, sagt Haenel: "Bei den Dardennes muss eine Performance so gut wie unsichtbar sein, damit sie wirkt".

Matthias Greuling, Cannes

Freitag, 20. Mai 2016

The Neon Demon: Ultraschöner Horrortrip

Nicolas Winding Refn gehört zu den jüngeren Filmemachern, deren Entdeckung Cannes sich auf die Fahnen heften darf. 2011 lief hier sein fabelhafter Film "Drive", der ihn als kompromisslosen Regisseur einführte, der stark auf die Stilisierung seiner Bilder achtet. Ihm scheint die Form seiner Arbeiten mindestens genauso wichtig wie ihr Inhalt, manchmal vielleicht sogar eine Spur wichtiger.
Elle Fanning mit Nicolas Winding Refn (Foto: Katharina Sartena)
Das ist auch bei seinem neuen Film "The Neon Demon" der Fall, der heuer wieder im Wettbewerb läuft, nachdem Refn 2013 mit "Only God Forgives" hier auf radikale Abneigung stieß. Doch der Däne lässt sich von schlechter Kritik nicht beirren, sondern geht seinen Weg eines gelackten Genrekinos unbeirrt weiter.
In "Neon Demon" folgt Refn dem blutjungen Model Jesse (Elle Fanning), das von der Provinz nach Los Angeles kommt, in der Hoffnung, die große Karriere machen zu können. Doch bald schon bemerkt sie, dass es nicht alle Menschen, die ihr schön tun, auch gut mit ihr meinen. Ein Allerweltsplot eigentlich, den man jede Woche in den Topmodel-Shows der Privatsender in zig Varianten erlebt, jedoch wäre Nicolas Winding Refn nicht der, der er ist, würde er dem ausgelutschten Sujet nicht ein paar exquisite Seiten abringen können.
"The Neon Demon" ist darob als ultrastylishe Fleischbeschau einerseits und als elegant gefilmter Horrortrip andererseits vor allem darauf aus, genau das zu zelebrieren, worauf es in der Modelwelt ankommt: Das Abbild von Schönheit. In diesem Fall ist Elle Fanning, die jüngere Schwester von Dakota Fanning, ins Rampenlicht gerückt worden; sie spielt ihre 16-jährige Jesse zunächst mit so viel "Ich bin ein scheues Reh"-Anteil, dass man wirklich Mitleid mit ihr bekommt. "Die Kamera liebt sie einfach", sagt Winding Refn. "Elle Fanning sieht aus wie einer dieser unglaublich glamourösen Stummfilmstars und ist zugleich eine der talentiertesten Nachwuchstalente, die Hollywood hat. Sie kann sich vor der Kamera verändern wie kaum jemand sonst".
Refn wollte schon seit vielen Jahren einen Film über die Schönheit drehen. "Vor allem deshalb, weil ich in meinem Leben ständig davon umgeben bin", meint er, der schon Werbefilme für Gucci, H&M oder Hennessey gedreht hat. "Schönheit ist längst zu einer Währung geworden, die immer weiter steigt, und scheinbar niemals fällt", so der Regisseur. "Die Zeitspanne der Schönheit ist jedoch limitiert, nicht aber unsere Obsession mit ihr. Eine Obsession, die viele Menschen auch in den Wahnsinn treiben kann". Refn illustriert das mit dem Bild des Narziss aus der griechischen Mythologie, der so schön war, dass er sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte.

Um den Überblick über seine bis ins kleinste Detail perfekt durchkomponierten Bilder zu behalten, entschied sich Refn dafür, den Film in chronologischer Reihenfolge zu drehen. "Etwas, das es im Filmbetrieb eigentlich gar nicht gibt, weil es viel zu teuer ist", so Refn. "Aber ich mache das bei all meinen Filmen so, weil ich die Angst mag, bis zum Ende des Drehs nicht zu wissen, ob mein Film so wird, wie ich ihn mir vorgestellt habe". Zugleich müsse sich auch die Crew extrem engagieren. "Jeder muss 100 Prozent geben, weil es sich dann um einen organischen Entwicklungsprozess handelt, in dem der Film entsteht. Das kann toll und fürchterlich gleichermaßen sein: Vor allem, weil jeder Tag Änderungen bringen kann".
Matthias Greuling, Cannes
Dieser Beitrag ist auch in der Wiener Zeitung erschienen.

Mittwoch, 18. Mai 2016

In Cannes regiert die alte Garde

Zur Festivalmitte geben sich in Cannes die Veteranen des Festivals die Klinke in die Hand. Pedro Almodovar folgt in seinem neuen Film „Julieta“ einer Frau, die nach vielen Jahren zufällig auf die Spuren ihrer Tochter gelangt, mit der sie sich einst überwarf. In Rückblenden und in einem düsteren, fast hitchcockartigen Ton rollt Almodovar diese Mutter-Tochter-Geschichte auf und schwelgt dabei gewohnt souverän in seiner liebsten Beschäftigung: Die knalligen Farben der 80er Jahre zum Leben zu erwecken und seine Bilder damit auszustaffieren. Es ist sicher nicht Almodovars bester Film, aber der spanische Regisseur zeigt, wie sehr ihm Filme über Frauen liegen.
Pedro Almodovar mit seinen Darstellerinnen aus "Julieta". Foto: Katharina Sartena


Auch Olivier Assayas erzählt in seinem Wettbewerbsbeitrag „Personal Shopper“ von Frauen. Kristen Stewart als die persönliche Einkaufsassistentin einer Prominenten (gespielt von der Österreicherin Nora von Waldstätten) kam in Cannes allerdings zu wenig Applaus: Sogar heftige Buh-Rufe mischten sich darunter. Grund könnte sein, dass Stewart im Film nicht nur bodenständige Einkäufe tätigt, sondern auch spirituelle Fähigkeiten hat: Sie kann etwa mit ihrem verstorbenen Zwillingsbruder in Kontakt treten. „Ich bin wirklich sehr sensibel für Energien“, erzählte Stewart in Cannes. „Ich glaube, ich werde von etwas getrieben, das ich nicht definieren kann.“ Das Publikum hat’s jedenfalls nicht goutiert. 
Auch ein Cannes-Veteran ist der philippinische Regisseur Brillante Mendoza, der hier schon etliche seiner verstörenden Werke gezeigt hat. Mit „Ma’Rosa“ kehrt er in den Wettbewerb zurück; ein schnörkelloser Film, der der Familie einer Gemischtwarenhändlerin in Manila folgt. Rosa hat zwecks Nebenerwerb in den Hinterzimmern ihres Shops eine kleine Drogendealerei aufgebaut. Als sie eines Tages verhaftet wird, versuchen Rosa und ihre Familie die als korrupt verschrieene philippinische Polizei dazu zu bewegen, sie doch nicht ins Gefängnis zu stecken.
Medoza inszeniert gewohnt dokumentarisch und nah dran an seinen Protagonisten; er zeigt eine bis ins Detail chaotische philippinische Gesellschaft, die nicht mehr funktionieren könnte, sobald man sie in Ordnung brächte.

Die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne schließlich bringen ihren zehnten Film „La fille inconnue“ („Das unbekannte Mädchen“) erneut in den Cannes-Wettbewerb - zweimal schon haben sie hier die Goldene Palme gewonnen, mit der dritten wird es aber vorerst nichts werden: Ihre Geschichte zirkelt um eine junge Ärztin, die nach Praxisschluss ein Läuten an ihrer Tür ignoriert. Am nächsten Tag konfrontiert sie die Polizei mit dem Tod einer jungen Frau, die ganz in der Nähe gefunden wurde. Die Dardennes animieren ihre Hauptdarstellerin Adèle Haenel zwar zu Höchstleistungen, können diesmal aber nicht überzeugen: Zu schwach konstruiert, zu dünn erscheint ihre Geschichte, die sich auch so mancher Klischees bedient.

Matthias Greuling, Cannes

Dienstag, 17. Mai 2016

Cannes mit Jarmusch, Arnold und Assayas

Es gehört zum Wesen eines Festivals von der Größenordnung wie Cannes, dass die sich hier immer wieder der Weltöffentlichkeit aussetzenden Filmkünstler nicht immer nur Meisterwerke abliefern können. Aber es ist möglich. Weshalb Cannes bei der Programmauswahl gerne auf die eigenen Ziehsöhne zurückgreift. Große Namen garantieren nicht nur große Aufmerksamkeit, sondern auch die Fortschreibung der Filmgeschichte.
Adam Driver, Golshifteh Farahani, Jim Jarmusch (Foto: Katharina Sartena)

Jim Jarmusch zum Beispiel. Der porträtiert in „Paterson“ einen Busfahrer namens Paterson, dessen Bus die Destination Paterson, New Jersey anfährt. Ein Jarmusch-Joke voller Ironie, der die Routine des Lebens unterstreicht: „Paterson“ erzählt die immer gleiche, wochentägliche Bustour, die sich nach Feierabend fortsetzt: Der obligatorische Gang mit dem Hund endet in einer Bar. Als Kontrast stellt Jarmusch seinem Helden eine Ehefrau zur Seite, deren stetiger Wunsch nach Veränderung sich letztlich in der Ausgestaltung der gemeinsamen Wohnung in Variationen schwarzweißer Vorhänge und Dekorationen erschöpft. In der Hauptrolle zeigt Jarmusch Adam Driver („Star Wars Episode VII“) als wunderbar lakonischen Busfahrer mit Hang zur Poesie in einem Stück über das Leben und seine manchmal unerfüllten Sehnsüchte. Ein gelungener Film, geschmeidig, gemächlich und nachdenklich, wie man es von Jarmusch nicht nur kennt, sondern auch schätzt. Aber kein Hauptwerk.
Ebensowenig wie Andrea Arnolds allzu langatmig geratene Sinnsuche einer jungen Frau (Sasha Lane), die sich auf einen Trip quer durch Amerika begibt, um zu sich zu finden. „American Honey“ ist die Geschichte eines Teenagers, der ausreißt und sich einer Gruppe junger Leute anschließt, die mit einem Van von Bundesstaat zu Bundesstaat reist und vom Verkauf von Zeitschriftenabos lebt. Arnold („Fish Tank“) erzählt dieses an sich recht dröge Ausbruchsszenario aus den Augen einer Protagonistin, die selbst darin noch Romantik vermutet, wo andere längst den Stumpfsinn sehen. „American Honey“ lässt wie alle Filme Arnolds kaum Emotion oder Verklärtheit zu, zugleich aber schafft er die Distanz zur Hauptfigur ab und klebt in dichten 1:1,33-Bildern - dem alten 4:3 Fernsehformat - an der Protagonistin.
Olivier Assayas, auch so ein Cannes-Veteran, der heuer zum vierten Mal im Wettbewerb vertreten ist, kümmert sich in seinem neuen Film „Personal Shopper“ hingegen mit einer gewissen Distanz um seine Hauptdarstellerin Kristen Stewart, mit der er 2014 schon „Clouds of Sils Maria“ drehte. Diesmal darf Stewart eine junge Frau spielen, die nicht nur den Tod ihres Zwillingsbruders verarbeiten muss, der denselben Herzfehler hatte wie sie, sondern auch noch die Wünsche ihrer prominenten Arbeitgeberin (Nora von Walstätten), eines Superstars, zufriedenstellend erfüllen soll - vom teuren Chanel-Kleid bis zu den extra aus London nach Paris gekarrten Accessoires. Weil die junge Frau auch Stimmen aus dem Jenseits hört und seltsame, anonyme Stalker-SMS erhält, wächst „Personal Shopper“ bald über das gewöhnliche Drama hinaus und gerät zu einer mysteriösen Geisterstunde, die man nicht mögen muss, aber kann. Aber auch Assayas zeigt sich nicht in der Form seines Lebens, genau wie Jarmusch oder Arnold.
Kommen wir also zu den wirklich erfreulichen Filmen an der Croisette, die nicht nur begeistern, sondern auch konsensfähige Palmenkandidaten sind. Als da wäre: „Toni Erdmann“ von Maren Ade. Die deutsch-österreichische Koproduktion hat Cannes im Sturm erobert, nachdem es bei Pressevorstellungen und der offiziellen Premiere mehrfach zu Szenenapplaus und Standing Ovations gekommen war. Das großteils in Rumänien gedrehte kleine Filmwunder liest sich in der Beschreibung eher nach einem grässlich misslungenen Euro-Pudding-Stückwerk: Ines (Hüller) ist Mitarbeiterin bei einer Unternehmensberatung in Bukarest, wo man den Kunden die unangenehmen Arbeiten abnimmt: Sollen 200 Stellen gestrichen werden, so spricht man von „Outsourcing“, und diesen Job müssen Ines und ihr Team erledigen. Kündigungen überlassen große Firmen nämlich heutzutage grundsätzlich den anderen. Und Ines ist in dieser Position zwar Profi, aber alles andere als glücklich. Das merkt auch ihr Vater Winfried (Simonischek), ein Spaßvogel der alten Schule, der einem gern ein Furzkissen unters Gesäß legt. Winfried besucht seine Tochter in Bukarest und sieht dort zu, wie sie unter dem Stress ihrer Arbeit leidet. Bald schon tritt er mit Perücke und falschen Zähnen als Geschäftsmann Toni Erdmann auf und mischt sich so ins Leben seiner Tochter, die davon alles andere als begeistert scheint. 

Die Umsetzung dieser seltsamen Geschichte gelingt Maren Ade auf geradezu famose Weise: Es geht in „Toni Erdmann“ nicht nur um das Lebensglück, sondern auch darum, im Korsett scheinbarer Verpflichtungen der Arbeitswelt festzustecken, bis einem die Luft wegbleibt. Maren Ade, in Berlin 2009 für „Alle anderen“ prämiert, zeigt in ihrem dritten Spielfilm, welch famose Beobachterin sie ist: Ihr Film funktioniert als Drama genauso wie als Komödie, hat eine freche, fast frivole Seite im Umgang mit Konventionen. Sandra Hüller und Peter Simonischek spielen ein Gespann aus Vater und Tochter, das man mit den Begriffen Verve und Nonchalance noch immer nicht ausreichend charakterisiert hätte. Die beiden geben in 162 Minuten Film eine ganz und gar finessenreiche, hintergründige Performance. Obwohl in den kommenden Tagen noch die Filme von den Brüdern Dardenne, von Sean Penn und Pedro Almodovar, Paul Verhoeven und Asghar Farhadi anstehen: „Toni Erdmann“ wird am kommenden Sonntag hier einen der Hauptpreise gewinnen, alles andere wäre nicht nur: eine Riesenüberraschung. Sondern auch: Unfair.

Matthias Greuling, Cannes

Montag, 16. Mai 2016

"Toni Erdmann" ist der Favorit in Cannes

In Cannes sticht „Toni Erdmann“ von Maren Ade unter Mitbewerbern wie Jim Jarmusch, Andrea Arnold oder Olivier Assayas deutlich als Favorit heraus.

Von Matthias Greuling, Cannes

Es gehört zum Wesen eines Festivals von der Größenordnung wie Cannes, dass die sich hier immer wieder der Weltöffentlichkeit aussetzenden Filmkünstler nicht immer nur Meisterwerke abliefern können. Aber es ist möglich. Weshalb Cannes bei der Programmauswahl gerne auf die eigenen Ziehsöhne zurückgreift. Große Namen garantieren nicht nur große Aufmerksamkeit, sondern auch die Fortschreibung der Filmgeschichte.
Maren Ade (l.) mit Sandra Hüller (2.v.l.) und Peter Simonischek in Cannes. Foto: Katharina Sartena
Jim Jarmusch zum Beispiel. Der porträtiert in „Paterson“ einen Busfahrer namens Paterson, dessen Bus die Destination Paterson, New Jersey anfährt. Ein Jarmusch-Joke voller Ironie, der die Routine des Lebens unterstreicht: „Paterson“ erzählt die immer gleiche, wochentägliche Bustour, die sich nach Feierabend fortsetzt: Der obligatorische Gang mit dem Hund endet in einer Bar. Als Kontrast stellt Jarmusch seinem Helden eine Ehefrau zur Seite, deren stetiger Wunsch nach Veränderung sich letztlich in der Ausgestaltung der gemeinsamen Wohnung in Variationen schwarzweißer Vorhänge und Dekorationen erschöpft. In der Hauptrolle zeigt Jarmusch Adam Driver („Star Wars Episode VII“) als wunderbar lakonischen Busfahrer mit Hang zur Poesie in einem Stück über das Leben und seine manchmal unerfüllten Sehnsüchte. Ein gelungener Film, geschmeidig, gemächlich und nachdenklich, wie man es von Jarmusch nicht nur kennt, sondern auch schätzt. Aber kein Hauptwerk.
Ebensowenig wie Andrea Arnolds allzu langatmig geratene Sinnsuche einer jungen Frau (Sasha Lane), die sich auf einen Trip quer durch Amerika begibt, um zu sich zu finden. „American Honey“ ist die Geschichte eines Teenagers, der ausreißt und sich einer Gruppe junger Leute anschließt, die mit einem Van von Bundesstaat zu Bundesstaat reist und vom Verkauf von Zeitschriftenabos lebt. Arnold („Fish Tank“) erzählt dieses an sich recht dröge Ausbruchsszenario aus den Augen einer Protagonistin, die selbst darin noch Romantik vermutet, wo andere längst den Stumpfsinn sehen. „American Honey“ lässt wie alle Filme Arnolds kaum Emotion oder Verklärtheit zu, zugleich aber schafft er die Distanz zur Hauptfigur ab und klebt in dichten 1:1,33-Bildern - dem alten 4:3 Fernsehformat - an der Protagonistin.
Olivier Assayas, auch so ein Cannes-Veteran, der heuer zum vierten Mal im Wettbewerb vertreten ist, kümmert sich in seinem neuen Film „Personal Shopper“ hingegen mit einer gewissen Distanz um seine Hauptdarstellerin Kristen Stewart, mit der er 2014 schon „Clouds of Sils Maria“ drehte. Diesmal darf Stewart eine junge Frau spielen, die nicht nur den Tod ihres Zwillingsbruders verarbeiten muss, der denselben Herzfehler hatte wie sie, sondern auch noch die Wünsche ihrer prominenten Arbeitgeberin (Nora von Walstätten), eines Superstars, zufriedenstellend erfüllen soll - vom teuren Chanel-Kleid bis zu den extra aus London nach Paris gekarrten Accessoires. Weil die junge Frau auch Stimmen aus dem Jenseits hört und seltsame, anonyme Stalker-SMS erhält, wächst „Personal Shopper“ bald über das gewöhnliche Drama hinaus und gerät zu einer mysteriösen Geisterstunde, die man nicht mögen muss, aber kann. Aber auch Assayas zeigt sich nicht in der Form seines Lebens, genau wie Jarmusch oder Arnold.
Kommen wir also zu den wirklich erfreulichen Filmen an der Croisette, die nicht nur begeistern, sondern auch konsensfähige Palmenkandidaten sind. Als da wäre: „Toni Erdmann“ von Maren Ade. Die deutsch-österreichische Koproduktion hat Cannes im Sturm erobert, nachdem es bei Pressevorstellungen und der offiziellen Premiere mehrfach zu Szenenapplaus und Standing Ovations gekommen war. Das großteils in Rumänien gedrehte kleine Filmwunder liest sich in der Beschreibung eher nach einem grässlich misslungenen Euro-Pudding-Stückwerk: Ines (Hüller) ist Mitarbeiterin bei einer Unternehmensberatung in Bukarest, wo man den Kunden die unangenehmen Arbeiten abnimmt: Sollen 200 Stellen gestrichen werden, so spricht man von „Outsourcing“, und diesen Job müssen Ines und ihr Team erledigen. Kündigungen überlassen große Firmen nämlich heutzutage grundsätzlich den anderen. Und Ines ist in dieser Position zwar Profi, aber alles andere als glücklich. Das merkt auch ihr Vater Winfried (Simonischek), ein Spaßvogel der alten Schule, der einem gern ein Furzkissen unters Gesäß legt. Winfried besucht seine Tochter in Bukarest und sieht dort zu, wie sie unter dem Stress ihrer Arbeit leidet. Bald schon tritt er mit Perücke und falschen Zähnen als Geschäftsmann Toni Erdmann auf und mischt sich so ins Leben seiner Tochter, die davon alles andere als begeistert scheint. 

Die Umsetzung dieser seltsamen Geschichte gelingt Maren Ade auf geradezu famose Weise: Es geht in „Toni Erdmann“ nicht nur um das Lebensglück, sondern auch darum, im Korsett scheinbarer Verpflichtungen der Arbeitswelt festzustecken, bis einem die Luft wegbleibt. Maren Ade, in Berlin 2009 für „Alle anderen“ prämiert, zeigt in ihrem dritten Spielfilm, welch famose Beobachterin sie ist: Ihr Film funktioniert als Drama genauso wie als Komödie, hat eine freche, fast frivole Seite im Umgang mit Konventionen. Sandra Hüller und Peter Simonischek spielen ein Gespann aus Vater und Tochter, das man mit den Begriffen Verve und Nonchalance noch immer nicht ausreichend charakterisiert hätte. Die beiden geben in 162 Minuten Film eine ganz und gar finessenreiche, hintergründige Performance. Obwohl in den kommenden Tagen noch die Filme von den Brüdern Dardenne, von Sean Penn und Pedro Almodovar, Paul Verhoeven und Asghar Farhadi anstehen: „Toni Erdmann“ wird am kommenden Sonntag hier einen der Hauptpreise gewinnen, alles andere wäre nicht nur: eine Riesenüberraschung. Sondern auch: Unfair.

Der Beitrag erschien auch in der Wiener Zeitung

Cannes empfängt Steven Spielberg

Wenn jemand wie Steven Spielberg nach Cannes kommt, dann geraten selbst die Kinokapazitäten von Cannes an ihre Grenzen. Vor einem randvollen „Grand Theatre Lumière“ mit mehr als 2500 Gästen wurde Spielbergs Roald-Dahl-Verfilmung „The BFG“ (deutscher Romantitel: „Sophiechen und der Riese“) gezeigt. Der Film erzählt die Geschichte eines Waisenmädchens (Ruby Barnhill), das von einem Riesen (via Motion-Capture zum Leben erweckt durch die Bewegungen und Mimik von Mark Rylance) entführt wird, der gar nicht so gemein ist wie angenommen, sondern sich als „The Big Friendly Giant“, kurz BFG entpuppt. Er pustet den schlafenden Menschen schöne Träume in ihre Zimmer, ist aber nicht der einzige im Riesenland: Dort gibt es auch etliche üble Gestalten.
Steven Spielberg in Cannes (Foto: Katharina Sartena)
Ein Fantasy-Film, der dem erfolgsverwöhnten Spielberg scheinbar nicht so leicht von der Hand ging, dafür ist er zu seelenlos umgesetzt und auch an der Technik hapert es: Eine reale Menschenfigur in den Händen eines gigantischen Riesen, das wirkt selbst anno 2016 und aus Disneys Schmiede noch immer ein bisschen so linkisch wie dereinst bei „King Kong“ aus den 1930ern.
Mark Rylance (Foto: Katharina Sartena)
Dass sich Spielberg der Verfilmung annahm, ist naheliegend: Die Story birgt Ähnlichkeiten zu Spielbergs Klassiker „E.T“ (1982), und Dahls Buch erschien im selben Jahr wie „E.T“. Beide Drehbücher stammen von der 2015 verstorbenen Melissa Mathison.
„Ich war selbst der BFG, als ich das Buch einst meinen sieben Kindern vorgelesen habe“, lacht Steven Spielberg. „Wenn ich einen solchen Film vorbereite, dann denke ich dabei überhaupt nicht an kommerzielle Aspekte. Die Filmarbeit ist eine harte, fordernde Tätigkeit, die ich bis zum Ende meines Lebens ausüben werde. Kommerz interessiert mich nicht, ich bin immer nur auf der Suche nach guten Geschichten“. Bei einem Regisseur wie Spielberg, dem Hollywood einträgliche Blockbuster wie „Indiana Jones“ oder „Jurassic Park“ zu verdanken hat, mag es verwunderlich klingen, dass ausgerechnet er sich ums Einspielergebnis keine Gedanken macht. Andererseits arbeitet Spielberg seit Jahren kontinuierlich auch an seiner „ernsten“ Filmografie, mit Filmen von „Amistad“ über „Lincoln“ bis hin zu seinem letzten Film „Bridge of Spies“, für den BFG-Darsteller Mark Rylance heuer mit einem Oscar geadelt wurde.

„Mein großer Traum ist es, dass jeder meiner Filme in allen Ländern der Welt eine Bedeutung hat. Ich glaube, jeder Film ist solange ein Waisenkind, bis ihn jemand adoptiert“. Dass Spielberg mit „The BFG“ an die Fantasy-Filme seiner frühen Karriere anknüpft, hat für ihn auch einen bestimmten Grund: „Ich finde, je schlimmer die Welt wird, desto mehr sollten wir uns der Magie von Geschichten verschreiben, die unsere Phantasie bereichern. Nur so können wir diese Dinge überwinden“.

Matthias Greuling, Cannes

Sonntag, 15. Mai 2016

Cannes hat einen Favoriten: "Toni Erdmann"

Sie wären die vielleicht sicherste Wette auf den Preis für die besten Darsteller - wäre dieser Film nicht in Cannes, sondern bei der Berlinale gelaufen. Sandra Hüller und Peter Simonischek spielen in „Toni Erdmann“ von Regisseurin Maren Ade ein Gespann aus Vater und Tochter, das man mit den Begriffen Verve und Nonchalance noch immer nicht ausreichend charakterisiert hätte. Die beiden geben in 162 Minuten Film eine ganz und gar finessenreiche, hintergründige Performance. 
Das Team von "Toni Erdmann" (Foto: Katharina Sartena)
Es geht um Lebensglück und darum, im Korsett scheinbarer Verpflichtungen der Arbeitswelt festzustecken, bis einem die Luft wegbleibt. Ines (Hüller) ist Mitarbeiterin bei einer Unternehmensberatung in Rumänien, wo man den Kunden die unangenehmen Arbeiten abnimmt: Sollen 200 Stellen gestrichen werden, so spricht man von „Outsourcing“, und diesen Job müssen Ines und ihr Team erledigen. Kündigungen überlassen große Firmen nämlich heutzutage grundsätzlich den anderen. Und Ines ist in dieser Position zwar Profi, aber alles andere als glücklich. Das merkt auch ihr Vater Winfried (Simonischek), ein Spaßvogel der alten Schule, der einem gern ein Furzkissen unters Gesäß legt. Winfried besucht seine Tochter in Bukarest und sieht dort zu, wie sie unter dem Stress ihrer Arbeit leidet. Bald schon tritt er mit Perücke und falschen Zähnen als Geschäftsmann Toni Erdmann auf und mischt sich so ins Leben seiner Tochter, die davon alles andere als begeistert scheint. Doch auch ihr dämmert schnell, dass ihr derzeitiges Dasein keine Zukunft hat. 
Mit „Toni Erdmann“ hat - nach langen Jahren der Absenz - wieder einmal ein deutscher Film den Weg ins Wettbewerbsprogramm von Cannes gefunden. Maren Ade, in Berlin 2009 für „Alle anderen“ prämiert, zeigt in ihrem dritten Spielfilm, welch famose Beobachterin sie ist: Ihr Film funktioniert als Drama genauso wie als Komödie, hat eine freche, fast frivole Seite im Umgang mit Konventionen. Bei der Pressevorführung in Cannes gab es mehrmals frenetischen Szenenapplaus, vor allem für Hüllers angstfreie darstellerische Leistung. Ades Komödie ist der vielleicht stimmigste und sympathischste deutsche Film des Jahres, über den man wirklich herzlich lachen kann, der einen aber auch zu Tränen rührt. Skurrile Wendungen geben „Toni Erdmann“ schließlich den letzten Schliff; sie werden durch Szenen ausgedrückt, in denen Ines, von ihrem Vater als dessen Sekretärin Miss Schnuck ausgegeben, sich stimmgewaltig in einem Whitney-Houston-Klassiker verliert oder auf ihrer eigenen Geburtstagsparty splitternackt erscheint. Das macht wirklich großen Spaß. 
„Im Film fällt einmal der Satz: ‚Familie ist so kompliziert’. Das war wie ein Ausgangspunkt für mich, und auch die Frage, wie man sich davon loslösen kann“, sagte Regisseurin Maren Ade in Cannes. Ob es Absicht wäre, dass sie sich eine junge Frau als Protagonistin auserwählt hat, die es schon durch ihr Geschlecht schwerer in der Business-Welt hat? „Ich stecke schon tief in der Gender-Debatte, denn jeder fragt mich danach. Meine Hauptfigur ist eine Frau, die sich in einer Männerwelt durchsetzen muss. Mir geht es ja ähnlich im Filmbereich“, meint Ade, die aber festhält: „Wenn ich einen James-Bond-Film anschaue, dann bin ich der James Bond und nicht das Bond-Girl. Insofern hat es keine wirkliche Bedeutung, dass die Hauptfigur eine Frau ist. Dahinter gibt es keine grundsätzlich feministische Ansage“.
Bei den Dreharbeiten hat sich Ade betont zurückgehalten, was die Anweisungen an ihre Schauspieler angeht. „Deshalb ist der Film auch sehr authentisch geworden, finde ich“. 
„Blicke und Vorgänge zwischen mit und Peter Simonischek haben damit zu tun, dass wir uns tierisch auf den Nerv gegangen sind. Es gab einen langen Probenprozess, der das Gefühl für die Figuren anreichert. Man redet dabei nicht über die Geschichte oder das Ergebnis. Diese Arbeit ist nicht ergebnisorientiert“, erklärt Sandra Hüller. 
Für Peter Simonischek eine ungewohnte Art zu arbeiten: „Ich habe viele Komödien am Theater gespielt. Aber das ist eine ganz andere Form der Komödie, so etwas war für mich etwas völlig Neues. Ich habe diese Komödie erst verstanden, als ich sie vor einer Woche gesehen habe. Maren ließ sich nie anmerken, ob wir etwas gut oder schlecht gespielt haben, das hat die Spannung aufrecht erhalten - und wenn das über Monate so geht, ist das natürlich anstrengend. Denn man geht am Abend nach Hause und hat fast Gefühl, nie etwas gut gemacht zu haben. Aber es hat sich ausgezahlt, wie man gesehen hat“.
Der Lohn war ein volles Premierenhaus in Cannes mitsamt großem Beifall. All das bedingt durch die sensible Regie einer Frau, der es darum ging, „den Moment der Wahrhaftigkeit einzufangen“, sagt Ade.

Momente also. Am Ende von „Toni Erdmann“ soll ein Fotoapparat einen solchen lebenswerten Moment festhalten. Aber es dauert zulange, und der Moment zieht fort. Was bleibt von diesem Film, ist die Erkenntnis: Vom Glück existieren keine Fotos. 

Matthias Greuling, Cannes

Freitag, 13. Mai 2016

Cannes 2016: Starker Auftakt

In Cannes waren in den ersten Festivaltagen schon einige interessante Arbeiten zu sehen. Das Festival, dessen künstlerischer Leiter Thierry Frémaux dieses Jahr eine Mélange aus traditionellen Cannes-Routiniers und einigen neuen Namen serviert, hat gleich von Beginn an volle Fahrt aufgenommen. Einerseits mit überlebensgroßen Superstars aus Hollywood: Von Woody Allen über Kristen Stewart und Blake Lively, die zum Eröffnungsfilm „Café Society“ kamen, bis zu George Clooney, Julia Roberts und Jodie Foster, die deren Regiearbeit „Money Monster“ außer Konkurrenz vorstellten, reichte das Spektrum der großen Namen. Samstag Abend, wenn ganz Europa den Song Contest schaut, kommt dann Steven Spielberg auf den roten Teppich und zeigt seine drollige Roald-Dahl-Kinderbuchverfilmung „The BFG“. Cannes gönnt sich auch während anderer zeitgleicher Großevents eben keine Pause.
"Sieranevada" (Foto: Festival de Cannes)
Im Wettbewerb sollten hingegen abseits der Glamour-Filme per definitionem die wahren Kunstwerke zu finden sein. Und dieses Jahr hat es schon zum Auftakt überaus starke Filme gegeben: „Sieranevada“ des Rumänen Cristi Puiu begibt sich nach „The Death of Mr. Lazarescu“ und „Aurora“ zum dritten Mal an die Stadtränder Bukarests, wo er in knapp drei Filmstunden und in gemächlicher Schnittfolge von einer Familie und Freunden erzählt, die sich in einem Apartment treffen, um dort das Andenken an das kürzlich verstorbene Familienoberhaupt hochzuhalten. Kein Plot, der als Crowd-Pleaser funktioniert, sondern den Zuschauer fordert; aber ein Plot, der von der ersten Einstellung an eine Sogwirkung von ganz seltsamer Kraft entfaltet, die sich nach und nach steigert. Es ist die Faszination am Alltäglichen, die „Sieranevada“ so kraftvoll macht und ihn für einen der Hauptpreise qualifizieren würde - vielleicht sogar auch für die Goldene Palme. 
Der Franzose Alain Giraudie hat sich mit „Rester vertical“ auf einen exzentrischen Trip durch das Leben eines Filmregisseurs begeben, der auf der Suche nach einem geeigneten Drehbuch mit einer Fülle von Problemen zu kämpfen hat. Filme übers Filmemachen sind schon legendären Regisseuren entglitten, und Guiraudie schlittert hier haarscharf an einer Karambolage vorbei, so „over the top“, düster und voller skurriler Momente ist dieser Film. Es scheint, als habe Guiraudie hier phasenweise mit Gewalt nach der exzeptionellsten Optik für seine Szenensammlung gesucht.
Stilistisch mehr aus einem Guss wirkt dagegen Bruno Dumonts Reise in den Norden Frankreichs. In „Ma Loute“ begegnen sich die skurril-verschrobenen Figuren einer bourgeoisen Familie, die Urlaub in ihrem Anwesen an der Küste bei Calais macht und eine nicht minder schräge Familie von einheimischen Muschelfischern, die dann und wann Touristen meucheln und im rohen Zustand verspeisen. Ein schwer übergewichtiger Inspektor ermittelt im Fall der Verschwundenen, und sorgt mit seinem vollen Körpereinsatz für launige Szenen. 

Dumonts Filme sind immer gewagte Experimente, von „L’humanité“ (1999) über „Flandres“ (2006) bis hin zu „Camille Claudel 1915“ (2013). Gewaltdarstellung und Sexualität sind zentrale Elemente, und „Ma Loute“ gilt nun als die visuelle und auch inhaltliche Fortführung seiner Miniserie „P’tit Quinquin“ (2014). Das Eintauchen der zugespitzt entworfenen Figuren in die von Dumont geschaffenen Pseudo-Milieus glückt herausragend: Bei einem erstklassigen Cast wie Juliette Binoche, Valeria Bruni-Tedeschi, Fabrice Luchini und Brandon Lavieville eigentlich kein Wunder - und ein Mordsspaß. 

Matthias Greuling

Donnerstag, 12. Mai 2016

George Clooney und Julia Roberts adeln Cannes

Der Thriller „Money Monster“ brachte eine wahre Invasion von Stars nach Cannes. George Clooney und Jodie Foster verhalfen Julia Roberts zu ihrem Debüt am roten Teppich der Croisette.
Foto: Katharina Sartena

George Clooney als Finanzguru in Lebensgefahr: „Ein Film mit vielen Schichten, die man freilegen kann, und das alles auf Basis einer Drei-Personen-Konstellation“, sagt Regisseurin Jodie Foster. Sie stellte beim Filmfestival von Cannes am Donnerstag ihre vierte Regiearbeit „Money Monster“ vor, in der Clooney als New Yorker TV-Moderator Lee Gates vor laufender Kamera gekidnappt wird. Und zwar von einem Familienvater (Jack O’Donnell), der auf einen der Anlage-Tipps des TV-Finanzberaters gehört hat - und verlor. Ein Racheakt im Live-Fernsehen, im Regieraum mit großer Nervosität verfolgt von der Produzentin der Show, Patty Fenn, gespielt von Julia Roberts. Der Film, der am 26. Mai regulär in den heimischen Kinos anläuft, erzählt dieses Kidnapping in Echtzeit. Hochspannung ist garantiert, denn Jodie Foster beherrscht auch hinter der Kamera ihr Handwerk. Der Thriller, der in Cannes außer Konkurrenz gezeigt wurde, ist zumindest nach Hollywood-Maßstäben durchaus innovativ und plottechnisch „wendig“ - vor allem in Bezug auf die Finanzwelt und deren dunkle Machenschaften. „Es ist ein typischer Studio-Film, realisiert zu einem moderaten Budget. Ich glaube, die Leute wollen Filme, die sie zum Nachdenken anregen. ‚Money Monster‘ ist ein Beweis dafür, dass man solche engagierten Filme auch heute noch drehen kann, und zwar unter der Ägide eines großen Studios“, sagt Foster. 
Es gibt im Film aber auch launige Momente, etwa eine Tanzeinlage von Mr. Clooney, der sich selbst als den „schlechtesten Tänzer der Welt“ bezeichnet. Weil seine Figur Lee Gates aber seine Finanzinhalte mit Show-Elementen verknüpft, musste der Tanz stattfinden: „Als Jodie mir das Script zeigte, dachte ich, wir drehen ein Musical“, sagte Clooney in Cannes. „Alle am Set haben sich lustig über mich gemacht, als sie die Dreharbeiten dieser Szenen verfolgten“.
Aber weil Clooney ein Profi ist, ließ er sich zu diesen dramaturgisch notwendigen Einlagen überreden. Jodie Foster: „Ich kann als Regisseurin gar nicht dankbar genug sein, mit jemandem zu arbeiten, der ebenfalls ein großartiger Regisseur ist“, spielt sie auf Clooneys eigene Arbeiten an. „Das gute ist: Sobald du vor der Kamera Erfahrung hast, tust du dir auch hinter der Kamera leichter, die Schauspieler zu führen“, meint Clooney. „Jodie weiß, wie man mit Schauspielern sprechen muss. Sie bringt sie sogar zum Tanzen“, lacht er.
Julia Roberts, im Film als TV-Produzentin zu sehen, hat sich für den Part gut vorbereitet: „Das Drehbuch las sich sehr aufregend“, sagt sie. „Ich habe in den Regieräumen von Fernsehstationen recherchiert, wie die Senderkommunikation funktioniert. Und wie sehr man bei Live-Sendungen unter Druck steht. Diese Leute leisten wirklich harte Arbeit“.
Für Roberts brachte die „Money Monster“-Premiere in 48 Lebensjahren übrigens die allererste Reise nach Cannes: „Es ist ein total verrücktes Festival, die Leute hier lieben Filme“. Diese weise Erkenntnis hat ihr Jodie Foster schon voraus, wenngleich ihr erster Besuch auch schon eine Ewigkeit zurückliegt. „Ich war das erste Mal in Cannes mit der Premiere von ‚Taxi Driver‘. Damals war ich 12“, sagt die heute 53-Jährige. „Damals war das Festival noch viel chaotischer als heute. Und es war der Beginn meiner Schauspiel-Karriere“.

Der erfolgte bei Roberts erst gut 13 Jahre später, als sie 1989 mit „Pretty Woman“ berühmt wurde. Schon damals gab es eine kurze Überschneidung von Fosters und Roberts’ Karriere: Foster hätte seinerzeit beim Casting um ein Haar den Part der Pretty Woman bekommen… Die jüngere US-Filmgeschichte wäre dann mit Sicherheit anders verlaufen.

Matthias Greuling, Cannes

Mittwoch, 11. Mai 2016

Woody Allen und "Café Society" eröffnen Cannes 69

Die Angst vorm Sterben treibt alle um. In Cannes gelten in diesem Jahr die schärfsten Sicherheitsvorkehrungen aller Zeiten. 500 Polizisten mehr, permanente Militärpräsenz mit schwerer Bewaffnung, langwierige Taschenkontrollen beim Einlass ins Palais des Festivals - all das, weil in Frankreich seit den Terroranschlägen vom November noch immer der Ausnahmezustand gilt. Man fürchtet Anschläge, will vorbereitet sein.
Foto: Katharina Sartena

Auch das Filmprogramm ist nicht frei von Todesängsten. Woody Allen serviert Prophezeiungen in seinem neuen Film „Café Society“: „Ich wette, dass wir alle sterben werden, und eines Tages werde ich diese Wette gewinnen“, heißt es da an einer Stelle.
Doch „Café Society“ ist keineswegs ein deprimierendes Stück Kino, sondern - wie gewohnt von Allen - eine leicht-lockere Komödie über das Leben und die Liebe, mit einer Dosis verschrobenem jüdischen Humor (also nicht ohne Tiefgang), diesmal vor dem Hintergrund des glamourösen, stets in sonnenwarmes Licht getauchten Hollywood der 1930er Jahre. Es geht um einen mächtigen Agenten (Steve Carrell), der mit Studiogrößen wie William Fox oder Louis B. Mayer luncht oder diniert - und dessen Neffe (Jesse Eisenberg) vom Land einen Job bei ihm in L.A. sucht. Zugleich hat der Hollywood-Haudegen ein privates Problem: Er hat eine Ehefrau und eine Geliebte. Der Neffe wiederum macht einer jungen Dame (Kristen Stewart) den Hof, die in Hollywood von der großen Karriere träumt. Die Handlung verwickelt bald alle Beteiligten in eine verzwickte Situation.
„Café Society“ ist nicht Allens größter Wurf, aber eine glorreiche Hommage an die goldenen Zeiten Hollywoods ist er allemal - und dank seines hervorragenden Cast sind auch die von Allen weniger gelungen ausformulierten Szenen geglückt. Der Film ist wie gemacht für die Eröffnung (außer Konkurrenz) eines Filmfestivals wie jenes von Cannes. Denn es schreibt sich selbst auf die Fahnen der Tradition zu frönen, bringt seit Jahren auf den offiziellen Festivalplakaten Motive großer Diven und Schauspieler von einst oder wie in diesem Jahr eine Szene aus Godards Klassiker „Le mépris“. Wo also sonst ließe sich „good old Hollywood“ besser zelebrieren als an diesem Ort, der für das konservative Kino manchmal mehr übrig zu haben scheint als für das zeitgenössische.
Allen selbst ist mit seinen 80 Jahren nach 47 Filmen und 12 Cannes-Teilnahmen längst selbst Teil des Mythos Hollywood, auch, wenn er eigentlich mit Leib und Seele New Yorker geblieben ist. „Ich hatte allerdings nie etwas gegen Los Angeles und Hollywood“, sagte er in Cannes. „Es ist nur leider kein Ort, an dem ich leben könnte, weil es dort nur Sonnentage gibt und man für alles ein Auto braucht. Aber in New York, da gehe ich aus meinem Apartment und bin gleich mitten im Geschehen. Und es regnet hier sogar und schneit“. 
Eine Aussage, die typisch ist für Allen, den Misanthropen, dessen Filme immer auch mit der Endlichkeit kokettieren, nie aber tatsächlich in eine Moll-Tonart kippen. „Das ist vielleicht die Lösung“, sagt Allen, „wie wir mit der eigenen Sterblichkeit umgehen sollten. Wir sollten sie so weit wie möglich von uns wegschieben und verdrängen. Stattdessen sollten wir uns darauf konzentrieren, eine tolle Szene mit Kristen Stewart und Jesse Eisenberg zu filmen, auf die wir am Ende des Tages stolz sein können“. 

Thema in Cannes war aber nicht nur Allens fortgeschrittenes Alter, sondern auch die Tatsache, dass er mit „Café Society“ erstmals „Amazon Studios“ als Produktionsfirma an Bord hat, die 15 Millionen Dollar Budget bereitstellte, nachdem er die letzten sechs Filme bei Sony Pictures Classics realisierte. „Amazon Studios“ ist ein neuer Player am Markt, das Versandhaus will vermehrt in Content investieren. Weshalb Allen auch gleich eine ganze Webserie für den Online-Händler umgesetzt hat, in der Allen neben Elaine May und Miley Cyrus auch selbst mitwirkt. Was er dazu schon verraten kann? „Der Schnitt ist fertig, das ganze sind sechs halbstündige Episoden, die Serie ist eine abgeschlossene Geschichte und einen Titel habe ich noch keinen“. Wird es weitere Online-Projekte geben? „Ich glaube nicht“, sagt Allen. Verständlich, denn: „Ich habe nicht einmal einen Computer. Und ich habe mein Leben lang noch nie eine E-Mail verschickt“. Der Faible für die gute, alte Zeit, den Allen in vielen seiner Filme zur Schau stellt, braucht kein neumodisches Schnickschnack. Dazu genügen ein paar von Allens alten Jazz-Platten, die auf dem Soundtrack knarzen.

Matthias Greuling, Cannes