Freitag, 13. Mai 2016

Cannes 2016: Starker Auftakt

In Cannes waren in den ersten Festivaltagen schon einige interessante Arbeiten zu sehen. Das Festival, dessen künstlerischer Leiter Thierry Frémaux dieses Jahr eine Mélange aus traditionellen Cannes-Routiniers und einigen neuen Namen serviert, hat gleich von Beginn an volle Fahrt aufgenommen. Einerseits mit überlebensgroßen Superstars aus Hollywood: Von Woody Allen über Kristen Stewart und Blake Lively, die zum Eröffnungsfilm „Café Society“ kamen, bis zu George Clooney, Julia Roberts und Jodie Foster, die deren Regiearbeit „Money Monster“ außer Konkurrenz vorstellten, reichte das Spektrum der großen Namen. Samstag Abend, wenn ganz Europa den Song Contest schaut, kommt dann Steven Spielberg auf den roten Teppich und zeigt seine drollige Roald-Dahl-Kinderbuchverfilmung „The BFG“. Cannes gönnt sich auch während anderer zeitgleicher Großevents eben keine Pause.
"Sieranevada" (Foto: Festival de Cannes)
Im Wettbewerb sollten hingegen abseits der Glamour-Filme per definitionem die wahren Kunstwerke zu finden sein. Und dieses Jahr hat es schon zum Auftakt überaus starke Filme gegeben: „Sieranevada“ des Rumänen Cristi Puiu begibt sich nach „The Death of Mr. Lazarescu“ und „Aurora“ zum dritten Mal an die Stadtränder Bukarests, wo er in knapp drei Filmstunden und in gemächlicher Schnittfolge von einer Familie und Freunden erzählt, die sich in einem Apartment treffen, um dort das Andenken an das kürzlich verstorbene Familienoberhaupt hochzuhalten. Kein Plot, der als Crowd-Pleaser funktioniert, sondern den Zuschauer fordert; aber ein Plot, der von der ersten Einstellung an eine Sogwirkung von ganz seltsamer Kraft entfaltet, die sich nach und nach steigert. Es ist die Faszination am Alltäglichen, die „Sieranevada“ so kraftvoll macht und ihn für einen der Hauptpreise qualifizieren würde - vielleicht sogar auch für die Goldene Palme. 
Der Franzose Alain Giraudie hat sich mit „Rester vertical“ auf einen exzentrischen Trip durch das Leben eines Filmregisseurs begeben, der auf der Suche nach einem geeigneten Drehbuch mit einer Fülle von Problemen zu kämpfen hat. Filme übers Filmemachen sind schon legendären Regisseuren entglitten, und Guiraudie schlittert hier haarscharf an einer Karambolage vorbei, so „over the top“, düster und voller skurriler Momente ist dieser Film. Es scheint, als habe Guiraudie hier phasenweise mit Gewalt nach der exzeptionellsten Optik für seine Szenensammlung gesucht.
Stilistisch mehr aus einem Guss wirkt dagegen Bruno Dumonts Reise in den Norden Frankreichs. In „Ma Loute“ begegnen sich die skurril-verschrobenen Figuren einer bourgeoisen Familie, die Urlaub in ihrem Anwesen an der Küste bei Calais macht und eine nicht minder schräge Familie von einheimischen Muschelfischern, die dann und wann Touristen meucheln und im rohen Zustand verspeisen. Ein schwer übergewichtiger Inspektor ermittelt im Fall der Verschwundenen, und sorgt mit seinem vollen Körpereinsatz für launige Szenen. 

Dumonts Filme sind immer gewagte Experimente, von „L’humanité“ (1999) über „Flandres“ (2006) bis hin zu „Camille Claudel 1915“ (2013). Gewaltdarstellung und Sexualität sind zentrale Elemente, und „Ma Loute“ gilt nun als die visuelle und auch inhaltliche Fortführung seiner Miniserie „P’tit Quinquin“ (2014). Das Eintauchen der zugespitzt entworfenen Figuren in die von Dumont geschaffenen Pseudo-Milieus glückt herausragend: Bei einem erstklassigen Cast wie Juliette Binoche, Valeria Bruni-Tedeschi, Fabrice Luchini und Brandon Lavieville eigentlich kein Wunder - und ein Mordsspaß. 

Matthias Greuling

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