Samstag, 21. Mai 2016

Dardenne-Brüder wieder im Wettbewerb von Cannes

Eine junge Ärztin öffnet Abends die Tür zu ihrer Praxis nicht mehr, als es läutet. Am nächsten Tag ist ein Mädchen tot, die Polizei beginnt mit Untersuchungen und auch die Ärztin forscht nach, wie es zu all dem kam. Die belgischen Regiebrüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, die in Cannes bereits zwei Mal die Palme gewannen, erzählen in ihrem neuen Film "La fille inconnu" (Das unbekannte Mädchen) eine Geschichte, die - wie immer bei den Dardennes - eine simple Aussage hat: Die Verantwortung für unsere Mitmenschen kann nicht negiert werden, sie endet nicht bei Büroschluss. Dass die Dardennes diesmal allerdings übers Ziel ihrer ansonsten so simplen, aber wirkungsvollen Erzählweise hinausgeschossen haben, mag daran liegen, dass ihr Plot mit dem Fortgang der Ereignisse so simpel nicht bleibt: "La fille inconnu" wirkt stellenweise wie ein Sonntags-Krimi anstatt wie eine niveauvolle Auseinandersetzung mit dem Thema.
Jean Pierre und Luc Dardenne (Foto: Katharina Sartena)

Sehr beeindruckend agiert aber immerhin die Hauptdarstellerin des Films. Adèle Haenel sieht man bei ihrer Ursachenforschung sehr gerne zu, weil sie sich perfekt in das Universum der Geschichte einfühlt. Das geht auch gar nicht anders, wenn man in jeder Szene zu sehen ist. "Mich hat die Einfachheit und zugleich die Komplexität der Geschichte angesprochen", sagt Haenel im Gespräch. "Die Dardennes arbeiten sehr präzise, sie kommen schnell zum Punkt und halten sich nicht unnötig mit Nebensächlichkeiten auf". Dazu gehört auch, dass sich die Belgier kaum um die Backstory ihrer Figuren kümmern. "Man weiß fast nichts von meiner Figur, auch nicht über ihr Privatleben. Bei den Dardennes spielt Psychologisierung keine Rolle, sie filmen lieber die Körperlichkeit ihrer Figuren ab, anstatt sie zu verkopfen".

Was sich auch in einer starken physischen Präsenz äußert, mit der Dardenne-Schauspieler arbeiten müssen. "Hier ist es wichtiger für die Glaubwürdigkeit einer Rolle, dass man als Schauspieler weiß, wie man sich am schnellsten medizinische Handschuhe anzieht, oder wie man eine Spritze setzt, wenn man eine Ärztin spielt. Mit solchen scheinbar nebensächlichen Details steht und fällt die Glaubwürdigkeit einer Performance". Die Konsultation von medizinischem Fachpersonal gehörte also zur Vorbereitung dazu, damit alles möglichst natürlich wirkte.

Die Natürlichkeit von Adèle Haenel, die die Dardennes in ihren Filmen wie "Suzanne", "In the Name of my Daughter" oder "Love at First Sight" (für den Haenel 2014 einen César als beste Schauspielerin erhielt) kennen lernten, war für die Rolle obligatorisch, sagt Haenel: "Bei den Dardennes muss eine Performance so gut wie unsichtbar sein, damit sie wirkt".

Matthias Greuling, Cannes

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