Freitag, 29. August 2014

Ulrich Seidl IM KELLER beim Filmfestival Venedig: Hodenstrecker und Warzensauen

Wenn Herr Ochs einen Anruf am Handy kriegt, dann ertönt als Klingelton die Kennmelodie aus der "Deutschen Wochenschau" des Dritten Reiches. Sein Keller beherbergt einen Führer-Schrein mit allerlei feinsäuberlich drapierten einschlägigen Devotionalien. "In diesem Raum", sagt Ochs, "treffen wir uns eigentlich immer, der ist am gemütlichsten." Sein Führer-Porträt staubt er mit einem Wedel in Schwarz-Rot-Gold ab.
"Im Keller" von Ulrich Seidl (Foto: Stadtkino)

Es gibt noch mehr dieser feinsäuberlich versperrten Keller in Ulrich Seidls neuem Film: Der verkappte Opernsänger ("Ich hätte große Partien singen können, habe es aber nie probiert") entpuppt sich als Waffennarr, der am Schießstand unter Tage vom Ende der Burka träumt. Der Jäger, der stolz seine Trophäen - vom Bock bis zum Affen - zeigt und erzählt, wie er einem Freund ein "Wiener Schnitzel aus einer Warzensau" gemacht hat.

Die Caritas-Mitarbeiterin, die dominiert werden möchte und sich darob regelmäßig auspeitschen lässt - bevorzugt mit einem Beachball-Schläger. Der ist besonders schmerzhaft, "ein Kinderspielzeug vom Toys’r’us". Und den Nachtwächter des Burgtheaters, der als Sklave in einer Beziehung lebt, wo das Sauberlecken der Duschwand mit der Zunge noch zu den angenehmsten Tätigkeiten zählt. Er muss sonst nämlich noch die Genitalien seiner Herrin nach dem Urinieren säubern oder sich drei Kilogramm schwere Gewichte an den Hodensack montieren lassen. "Und jetzt mach den Abwasch", sagt seine Herrin.

Selbst nach Filmen wie "Tierische Liebe", "Hundstage" oder der "Paradies"-Trilogie gelingen Ulrich Seidl noch immer Bilder der Provokation, wie die Reaktionen beim Filmfestival Venedig zeigten. Jedoch ist sein Kino der scheinbaren Skurrilitäten an einem Punkt angekommen, an dem die schaurigsten Momente nicht mehr die sexuellen Praktiken oder die Verherrlichung von Gedankengut sind, sondern die, in denen dunkle Obsessionen gelebt werden: Eine Frau, die lebensechte Puppen im Keller hortet und liebkost, kann - auch, wenn sie erfunden ist - einem viel mehr Schrecken einjagen als der am Seil gespannte Penis eines SM-Sklaven. Der Horror ist dort, wo man ihn nicht sieht: im Kopf.

Ulrich Seidl im Interview. (Foto: Matthias Greuling)

Ich traf Ulrich Seidl in Venedig zum Interview:

Matthias Greuling: Herr Seidl, wieso finden die Freiheiten vieler Menschen scheinbar vorwiegend unter Tage statt?

Ulrich Seidl: Weil man im Keller intim sein kann, weil man dort so sein kann, wie man sein möchte. Der Keller ist uneinsehbar. Der Keller bietet die Möglichkeit, sich vor der Öffentlichkeit zu verstecken. Offensichtlich sind viele Menschen so angelegt, dass sie ihren Leidenschaften gerne im Keller frönen, um ungestört zu sein.

Woher stammt denn die Idee zu diesem Film?

Die Idee kam mir bei der Arbeit an meinem Film "Hundstage". Das geht schon sehr lange zurück. Ich habe damals im Zuge der Recherchen entdeckt, dass bei vielen Einfamilienhäusern der Österreicher die Kellerräumlichkeiten sehr großzügig angelegt waren, oft großzügiger als die Wohnräumlichkeiten. Das hat mich selbst erstaunt. Der Keller hat in unserem Bewusstsein und auch im Unterbewusstsein ganz bestimmte Bedeutungen, für jeden von uns.

Zum Beispiel?

Der Keller ist einerseits der Ort der Dunkelheit, der Ort der Angst. Wer geht schon gerne in den Keller, wo alles schwarz ist? Real war der Keller immer auch ein Ort des Missbrauchs, des Verbrechens, des Versteckens. Das Interesse für den Keller steckt tief in uns drinnen, auch und gerade, weil er unter der Erde liegt. Ich würde nicht sagen, dass das typisch österreichisch ist, denn wir wissen ja nicht, was es sonst noch in den Kellern dieser Welt gibt. Diese Fälle sind halt in Österreich ans Tageslicht gekommen, aber es ist durchaus denkbar, dass es in anderen Ländern ähnliche Verbrechen gibt.

Sie zeigen verschiedene Keller-Obsessionen, reißen einige aber nur an. Der Hobbyeisenbahner hat Sie nicht so sehr interessiert wie der Sado-Maso-Sklave.

Die Eisenbahnen im Keller werden weniger, sie sterben aus, weil Kinder sich heutzutage nicht mehr mit Eisenbahnen beschäftigen. Ich habe bewusst nach Abgründen gesucht und nicht nach Harmlosigkeiten. Sich mit einer Eisenbahn zu beschäftigen, gehört nicht zu den Abgründen.

Dann sprechen wir über den Prototypen vom "Kellernazi", den Sie auch zeigen. Wie bekamen Sie diesen Mann dazu, so offen von seiner Verehrung für Hitler zu sprechen?

Dieser Mann geht in seiner Ortschaft öffentlich damit um. Alle im Ort kennen ihn und wissen von diesem Keller. Der Film zeigt auch, dass die Mitglieder seiner Musikkapelle häufig in seinem Keller musizieren und auch gesellig beisammen sitzen. Er steht dazu, was er tut und denkt.

Müssen solche Protagonisten, etwa auch der SM-Sklave, der als Nachtwächter im Burgtheater arbeitet, nach diesem Film nicht um ihren Job bangen?

Ich kann das nicht sagen. Er muss sich dessen bewusst sein, dass seine Mitwirkung möglicherweise Probleme ergibt. In der SM-Szene habe ich besonders lange und gründlich recherchiert und viele Leute kennengelernt. Ich wollte aber Leute für den Film gewinnen, die ganz normalen Tätigkeiten nachgehen, und nicht jene, die die SM-Szene trendig finden und sich deshalb mit ihr befassen.

Der Mann aus dem Burgtheater hatte schließlich das größte Vertrauen in Sie?

Letztlich hat das seine Herrin entschieden. Sie hat gesagt: Das machen wir. Er hat da gar nicht so viel zu sagen, denke ich. Ich glaube, dieses Paar wollte die Gelegenheit nützen, das zu zeigen, was es lebt und wovon es überzeugt ist.

Eine der grusligsten Protagonistinnen des Films ist jene Frau, die im Keller in Schachteln ihre lebensechten Puppen lagert und sie täglich zum Streicheln besuchen geht.

Ja, das ist gruselig. Aber diese Episode ist eine Mischung aus Wahrheit und Fiktion. Es gibt diese Puppen, diese "Reborn Babies", die in Handarbeit hergestellt werden und mit denen unter dem Motto gehandelt wird: Wer hat die authentischsten Puppen? Dass die Frau diese Puppen in Schachteln verbirgt, ist eine fiktionale Geschichte. Da kann man vieles hineininterpretieren: Entweder geht es um gewünschte oder verlorene Kinder. Aber Babys im Keller lösen bei uns schon etwas aus. Man erinnere sich nur an den Fund von Embryonen in der Tiefkühltruhe.

Was haben Sie uns bei diesem Film vorenthalten? Gibt es Material, das Sie nicht zeigen wollten?

Die Schwierigkeit bei diesem Film war, Menschen zu finden, die bereit sind, ihre Abgründe zu zeigen. Wir suchten Leute, die einen besonderen Keller hatten. Wir hatten einen ziemlich großen Fundus. Ich habe mir dann die Keller angeschaut, die mich interessiert haben. Und ich kann heute sagen: Die Wirklichkeit ist viel ärger, als der Film sie zeigt. Ich habe Dinge gesehen, die ich niemals hätte filmen können.

Was ist eigentlich in Ihrem Keller?

In meinem Keller ist Wein.

Interview: Matthias Greuling

Dieser Beitrag ist auch in der "Wiener Zeitung" erschienen.

Mittwoch, 27. August 2014

Birdman in Venedig: Das Ego, eine Qual

Irgendwann in „Birdman“ dreht Riggan Thomson (Michael Keaton) in seiner Garderobe völlig durch und schlägt alles kurz und klein. Schminkkoffer fliegen, Spiegel klirren, Regale stürzen. Eine Stimme aus dem Off flüstert ihm allerlei Gewissensbisse zu, Riggan selbst hat gerade schlechte Kritiken einstecken müssen, und das ist das Schlimmste im Leben eines Schauspielers: Von der Presse geprügelt zu werden und darob am Ende in der Versenkung zu verschwinden.
Edward Norton (Foto: Katharina Sartena)
Dabei wollte Riggan doch nur sein Comeback an einer Broadway-Bühne feiern, mit einem von ihm bearbeiteten Stück, unter seiner Regie und mit ihm selbst in der Hauptrolle. Doch ein neues Ensemblemitglied (Edward Norton) erweist sich als egoistischer Selbstdarsteller und stiehlt Riggan die Show im eigenen Stück. 
Weil Riggan ohnehin ein gebrochener Schauspieler ist, der seit Jahren nicht von seiner Rolle als Actionheld „Birdman“ loskommt, verdichten sich hier seine Selbstzweifel und die stetig zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt wechselnden Stimmungen zu einem gefährlichen Cocktail aus Selbsthass und Zerstörungswut. Das eigene Ego ist die größte Qual.
Alejandro Gonzalez Inarritu („Amores Perros“, „Babel“) hat mit „Birdman“ (hier im Wettbewerb zu sehen) seine erste Komödie gemacht, wie er in Venedig betonte. „Ich dachte, es wäre nach all den Dramen einmal an der Zeit, am Set eines Filmes auch lachen zu dürfen“, so Inarritu in Venedig. Zugleich ist „Birdman“ aber auch eine millimetergenaue Untersuchung des Schauspieler-Selbstverständnisses zwischen Größenwahn und Wahnsinn. Selten hat ein Film so eindringlich vermittelt, was auf dem Weg von den ersten Proben bis zur Premiere im Inneren dieser sensibelsten aller Künstler vorzugehen scheint. Und das ist, wohlgemerkt, nicht zum Lachen.
Emma Stone (Foto: Katharina Sartena)
Mit ein Grund für diese eindringliche Analyse ist die Machart des Films. „Birdman“ sieht aus, als bestünde er aus nur einer einzigen Einstellung. Die stets entfesselte Steadycam fängt minutenlange Takes ein, die durch „unsichtbare“ Schnitte an wenig auffälligen Stellen verbunden wurden. „Das klingt vielleicht sehr simpel als Konzept“, gibt Inarritu zu. „Dem voraus gehen aber detaillierte, umfangreiche Proben, damit dann auch wirklich alles klappt, wenn die Kamera läuft“. Für Emma Stone, die im Film Michael Keatons Tochter spielt, „eine besondere Herausforderung, so lange Takes zu spielen. Ich würde den Film am liebsten gleich noch einmal drehen“, sagte sie. 
Michael Keaton und Edward Norton liefern sich sowohl auf der Broadway-Bühne als auch hinter deren Kulissen oscarreife Schlagabtäusche, sodass man sicher sein darf: diese beiden werden bei den Academy Awards 2015 nicht unberücksichtigt bleiben. Vor allem für Keaton ist der Riggan Thomson aus „Birdman“ auch eine selbstironische Rolle: Keaton hatte 1989 und 1992 in Tim Burtons beiden Batman-Verfilmungen den Superhelden gespielt. „Auch an mir haftete diese Rolle sehr lange“, sagte Keaton. „Aber ich konnte damit umgehen. Und schließlich waren diese Filme damals quasi die Blaupause für heutige Superhelden-Movies“. Keaton war darin – anders als sein unglücklicher Held „Birdman“ – ein vielschichtiger Charakter und wurde zu einer Ikone der Popkultur. Das von sich zu behaupten, wäre nicht einmal egoistisch. 

Matthias Greuling, Venedig

Samstag, 16. August 2014

Locarno: Lav Diaz erhält Goldenen Leoparden

In Locarno gewinnt die Entschleunigung: Lav Diaz‘ 338 Minuten langer Film „Mula sa kung ano ang noon“ erhielt den Goldenen Leoparden

"Mula sa kung ano ang noon" von Lav Diaz (Foto: Festival Locarno)
Eine Frau fährt auf einem Fluss in einem einfachen Boot. Es treibt langsam den Flusslauf hinab, die Frau macht einen unglücklichen Eindruck. Minutenlang verharrt die Kamera auf ihr, das schwarzweiße Bild bekommt dadurch etwas Monumentales, obwohl es keine Monumente abbildet.
Wie alles in „Mula sa kung ano ang noon“ ist auch diese Szene geprägt von einer unheilvollen Vorahnung: Regisseur Lav Diaz wurde für sein 338 Minuten langes Klage-Epos soeben in Locarno mit dem Hauptpreis, dem Goldenen Leoparden, ausgezeichnet. Für einen Film, der Historisches verhandelt, aber auch eine Zustandsbeschreibung des menschlichen Daseins an sich ist.
Die Handlung spielt 1972 auf den Philippinen. Geschlachtete Kühe säumen den Weg, blutüberströmte Leichen allerorten, brennende Häuser. Das Land steht kurz vor der Diktatur: Ferdinand Marcos putschte sich damals mit Bombenterror und Repressalien an die Macht, verhaftete Oppositionelle und erklärte im September 1972 das Kriegsrecht. Just jene Zeit untersucht Lav Diaz in ruhigen, schwarzweißen Bildern, die das Unheil zum Teil vorausahnen lassen, zum Teil schon in aller Brutalität abbilden.
„Der Film basiert auf meinen Erinnerungen an meine Kindheit“, sagt Regisseur Lav Diaz. „Es geht um die zwei Jahre, bevor das Kriegsrecht auf den Philippinen deklariert wurde. Diese Zeit markierte die dunkelste Stunde in der Geschichte meiner Heimat. Alles in dem Film schöpfe ich aus Erinnerungen, alle Figuren sind echt, alle Bilder habe ich so oder ähnlich miterlebt“.
Die Jury von Locarno hat somit nicht nur ein gesellschaftlich relevantes, sehr persönliches Filmkunstwerk prämiert, sondern auch eines der Langsamkeit: Die 338 Minuten Spielzeit erfordern Sitzfleisch, dennoch erweist sich „Mula sa kung ano ang noon“ aber als überaus zugänglich. Ein Sieg der Entschleunigung in einer immer schneller werdenden Medienwelt.
Zu den weiteren Preisträgern beim 67. Filmfestival von Locarno gehören der Portugiese Pedro Costa (Regiepreis für seinen Film „Cavalo Dinheiro“) sowie der US-Amerikaner Alex Ross Perry (Spezialpreis der Jury für „Listen Up Philip“).

Matthias Greuling, Locarno


Alle Preisträger unter www.pardo.ch

Samstag, 9. August 2014

Armin Mueller-Stahl: Der Brad Pitt der DDR / Locarno 2014

Armin Mueller-Stahl ist ein wenig müde. Schließlich ist er, gemeinsam mit seiner Frau, gerade erst 1.200 Kilometer mit dem Auto gefahren. Von Berlin nach Locarno, um sich hier seinen goldenen Ehrenleoparden abzuholen, für sein Lebenswerk. Doch hinter dem müden Antlitz stechen seine blitzblauen Augen hervor. „Ich fahre sehr gerne mit dem Auto“, sagt der 83-jährige Schauspieler. „Erst kürzlich bin ich mit meiner Frau in Amerika von Key West bis Los Angeles gefahren. Die Schnelllebigkeit unserer Zeit lehne ich ab: Rein in die Maschine, abheben, landen. Das ist sehr langweilig“.
Armin Mueller-Stahl beim Gespräch, gesehen von Katharina Sartena.
Armin Mueller-Stahl braucht diese Selbstbestimmung, dieses Freiheitsgefühl. Schließlich hat der 1930 in Tilsit geborene Schauspieler bis 1980 in der DDR gelebt und Karriere gemacht, ehe seine Ausreise nach Westdeutschland genehmigt wurde. „Wenn Sie wissen, Sie werden überwacht, dann hören Sie irgendwann auf, darüber nachzudenken“, sagt er. Freiheit, das ist für Mueller-Stahl das Entdecken der Welt, ohne Grenzen, ohne Limits. „Und ich genieße es, dass meine Frau mit dabei ist, denn dann muss ich ihr nicht erklären, was ich alles gesehen habe“.
Dass Armin Mueller-Stahl bereits 2006 mit der Schauspielerei aufgehört und sich seither verstärkt der Malerei zugewandt hat, hindert die Organisatoren beim Filmfestival in Locarno allerdings nicht daran, ihn für sein Lebenswerk auszuzeichnen. „Dass ich hier einen Preis fürs Lebenswerk bekomme, nun ja. So einen Preis bekomme ich schon zum fünften Mal!“, lacht Mueller-Stahl. „Das macht mich ein bisschen nachdenklich, denn ich bin ja noch immer unterwegs. Sorry! Aber man kriegt so einen Preis und weiß, dass man etwas im Leben gemacht hat, das nicht ganz verkehrt war."
Armin Mueller-Stahl beim Gespräch, gesehen von Katharina Sartena.
Immerhin war Mueller-Stahl schon in seinen DDR-Zeiten ein gefeierter Star. „Ich war fünf Mal beliebtester Schauspieler der DDR? Das mag sein, ich habe es nicht gezählt. Aber da war ich noch ein hübscher Junge. Das ist lange her, damals war ich sozusagen der Brad Pitt der DDR“, lacht er. Überhaupt ist Mueller-Stahl von seiner Erscheinung her ein fröhlicher Mensch. Beim Interview in einem Luxus-Hotel in Ascona gibt es keine Spur von Alterspessimismus. Sondern nur die Gewissheit, auf ein reiches Leben zurück zu blicken. „Ich spüre keine Angst in Bezug auf das Altern. Ich weiß: Die Zukunft ist nicht mehr unendlich. Und ich weiß auch, wie mein eigenes Ende aussehen wird. Es wird so aussehen wie Ihres. Das ist die einzige wirkliche Gerechtigkeit auf diesem Planeten“, meint Armin Mueller-Stahl. „Angst spüre ich hingegen bei Vorgängen, die in die Nähe von Krieg führen. Die merkwürdigen Unsicherheiten, die es derzeit auf der Welt gibt. Die Technik und die Computer, das sind die Geister, die wir riefen, die wir aber nicht in den Griff kriegen. Der Irak, Syrien, die Ukraine. Es ist in der Welt scheußlich wie schon lange nicht“.
Trotzdem hat Armin Mueller-Stahl für sich eine Methode gefunden, mit der Welt ins Reine zu kommen. Er nennt das Glück, und es ist ein flüchtiges Gefühl. „Glück ist kein Dauerzustand, sondern besteht nur aus Momenten. Ein Glücksmoment ist zum Beispiel, jetzt hier zu sitzen, auf diesen tollen grünen Garten zu schauen und von dieser hübschen Fotografin fotografiert zu werden“, lacht er.

Armin Mueller-Stahl beim Gespräch, gesehen von Katharina Sartena.
Armin Mueller-Stahl blickt gern zurück auf seine lange Karriere; er lobt Fassbinder, weil der den stärksten Einfluss auf ihn gehabt hat: „Wir beide waren nicht wie Brüder, sondern eher wie Vater und Sohn, und ich war der Vater“. Auch an seine Zeit in Amerika denkt er gern: „Ich habe mit knapp 60 dort meine dritte Karriere begonnen, ohne ein Wort Englisch zu beherrschen. Ich spreche heute noch miserabel Englisch. Das hat damit zu tun, dass ich in Amerika immer nur Ausländer gespielt habe, die gebrochenes Englisch sprachen, entweder jiddisch gefärbt oder russisch“. Er imitiert einige seiner Filmdialoge, sichtlich mit Freude.
Dennoch hat er mit dem Film abgeschlossen: „Das Filmedrehen ist in meinem Fall ein Auslaufmodell. Das habe ich übermäßig lange getan, es hat mein Leben dominiert. Ich drehe nicht mehr, obwohl gerade ein Angebot auf meinem Tisch liegt, eine Auschwitz-Geschichte. Aber ich habe abgesagt. Die amerikanischen Produzenten versuchten mich zu locken und verdoppelten meine Gage. Geld interessiert mich schon, aber nicht so, dass ich plötzlich meine Contenance verliere.“ Sind Schauspieler überbezahlt? „100-prozentig, wenn Sie die Stars ansehen. Zehn oder 20 Millionen für einen Film zu bekommen, das ist doch idiotisch“.
Armin Mueller-Stahl widmet sich nun lieber seinen anderen Talenten, die bisher „immer außen vor blieben: Bei der Malerei bin ich endlich die Fesseln des Films los. Beim Film ist man abhängig, vom Drehbuch, vom Partner, vom Wetter, vom Regisseur, vom Kameramann. Die Malerei ist der einzige Moment, wo ich wirklich fliege. Ich bin frei. Gelingt es mir nicht, übermale ich es. Das genieße ich.“ Mueller-Stahl sagt auch noch, die Malerei fiele ihm leicht. „Ich dachte immer, was mir leicht fällt, ist nichts wert, eine These, die natürlich verkehrt ist. Das Zeichnen fällt mir wirklich sehr leicht. Schauspielerei ist viel komplizierter“.

Hat Armin Mueller-Stahl im Alter also doch seine wahre Berufung gefunden? „Ja, das hoffe ich sehr“, sagt er ruhig. „Es wurde ja auch Zeit“.

Matthias Greuling, Locarno

Dieser Beitrag erschien auch in der Wiener Zeitung

Donnerstag, 7. August 2014

Melanie Griffith mag 50 Shades of Grey nicht sehen - Locarno 2014

Melanie Griffith genießt das Rampenlicht. Zu lange schon ist es ihr künstlerisch verwehrt geblieben, hatten Schlagzeilen bestenfalls über ihre Schönheits-OPs oder über die Trennung von ihrem Mann Antonio Banderas berichtet. Das soll jetzt vorbei sein: „Ich bin mittlerweile schon so alt, dass ich über der unbarmherzigen Hollywood-Regel drüberstehe. Jene Regel, die besagt, dass man ab 40 zum alten Eisen gehört“, gibt sich die Schauspielerin kämpferisch. Am 9. August feiert sie ihren 57. Geburtstag.

Melanie Griffith, entspannt in Locarno. (Foto: Katharina Sartena)
In Locarno zelebriert Griffith ihre erste, zaghafte Rückkehr ins Rampenlicht: Die Jung-Regisseurin Rachel McDonald konnte Griffith für ihren 24-minütigen Kurzfilm „Thirst“ („Durst“) gewinnen, in dem Griffith eine Alkoholikerin spielt. „Ich spiele das, weil ich selbst Alkoholikerin bin und genau weiß, wie sich das anfühlt“, sagte sie in Locarno. „Und außerdem möchte ich dieser jungen Regisseurin durch meine Mitwirkung weitere Projekte ermöglichen. Sie ist sehr talentiert, ihren Namen sollten Sie sich merken“.

Filmangebote gesucht

Und weil sich Melanie Griffith wieder bereit für Filmangebote fühlt, betonte sie auch, dass sie „zu haben“ wäre: „Denn momentan halten sich die Angebote noch in Grenzen“, erzählte sie. Der Altersbonus, den sie nunmehr ihr Eigen wähnt, habe nämlich den Vorteil, „dass ich jetzt wirklich alles spielen kann, zumal bald alle meine Kinder aus dem Haus sind“. Sie drückt es so aus: „I’m gonna do whatever the fuck I wanna do!“



Die nächste Generation im Hause Griffith steht übrigens schon in den Karriere-Startlöchern: Die 24-jährige Dakota Johnson, Griffiths gemeinsame Tochter mit Ex-Partner Don Johnson, wird demnächst in der Verfilmung des Skandal-Buchs „50 Shades of Grey“ in der Hauptrolle zu sehen sein. „Sie ist einfach großartig“, jubelt Griffith. „Und sie wird all die Fehler ihrer Mutter und auch ihrer Großmutter (Schauspielerin Tipi Hedren, Anm.) nicht mehr machen“. So sieht eine stolze Mama aus. 


Jedoch: So richtig teilhaben am Erfolg von Dakota will Melanie nicht: „Wir haben das schon im Vorfeld vereinbart: Ich wünsche ihr alles Gute für diese Rolle, aber anschauen werde ich mir diesen Film sicher nicht“.

Matthias Greuling, Locarno

Dieser Beitrag ist auch in der Wiener Zeitung erschienen.

Luc Besson bringt LUCY nach Locarno

Er ist ein Mann von gewichtiger Durchsetzungskraft. Das hat aber wenig mit der stattlichen Figur Luc Bessons zu tun als vielmehr mit seiner ihm immanenten Zielstrebigkeit: Für die Filme seiner Produktionsfirma Europacorp unternimmt er seit Jahren große Anstrengungen, um internationale Kinohits Made in Europe herzustellen. Dazu gehören unter anderem seine eigenen Regiearbeiten wie „Das fünfte Element“, „Léon, der Profi“ oder „Nikita“, aber auch von ihm produzierte und/oder geschriebene Action-Franchises wie die „Taxi“-Reihe oder die „Transporter“-Filme.
Luc Besson (rechts) mit Locarno-Chef Carlo Chatrian (Foto: Katharina Sartena)
Wie geht das, alle Berufe – vom Produzenten über den Drehbuchautor bis hin zum Regisseur – in einer Person zu vereinen? „Ganz einfach: Das ist genauso wie wenn Sie Ehemann, Vater, Sohn oder Cousin zugleich sind. Alle vier sind anstrengende Jobs, und genauso kann man Regisseur, Autor oder Produzent zugleich sein“. Die einfachste Aufgabe sei dabei der Produzentenjob, findet Besson: „Als Autor stehe ich früh morgens um 4 auf und verbringe die Zeit nur mit mir und einem Computer. Ein sehr einsamer Job. Als Produzent muss ich meine Visionen nur mit meiner Crew teilen, das ist leicht. Die schwierigste Aufgabe jedoch ist es, den Film als Regisseur draußen im Feld zu inszenieren“, findet Besson.

Starvehikel "Lucy"

Sein neues Action-Vehikel „Lucy“ ist derzeit der Sommer-Kinohit in den USA. Die Studentin Lucy (Scarlett Johansson) gerät unvermittelt zu einem Job als Drogenkurierin. Weil die Droge in ihrem Körper aus der Verpackung platzt, hat sie – anstatt zu sterben – plötzlich übersinnliche Fähigkeiten. Ein Action-Rausch von Minute eins an – mit spektakulären Verfolgungsjagden durch Paris und einem am Ende doch recht sinnfreien Ausgang.
„Ich wollte eine Figur zeigen, die nichts Besonderes ist, sondern erst durch außergewöhnliche Umstände besonders wird“, sagt Besson. „Im Unterschied zu meinen bisherigen weiblichen Filmheldinnen wie Jeanne d’Arc, Nikita oder Leeloo: die brachten schon eine gewisse weibliche Power mit auf die Leinwand“.
Weil in diesem Jahr auch Roman Polanski beim Filmfestival in Locarno weilen wird, sprach man Besson auch auf jene Petition für die Freilassung Polanskis an, die viele Künstler 2011 unterzeichnet hatten, als Polanski in Zürich festgenommen wurde und monatelang unter Hausarrest stand, nicht wissend, ob man ihn an die USA ausliefern würde. Besson hatte damals nicht unterzeichnet. „Ich wurde aber missverstanden“, sagt er. „Ich liebe Polanski. Alles, was ich damals gesagt habe, war, dass jemand, der in Schwierigkeiten mit dem Gericht ist, diese selbst klären sollte. Ich spreche nicht für und nicht gegen Polanski und ich kann auch keine Petition unterzeichnen, wenn ich den Sachverhalt nicht kenne, was damals wirklich passiert ist“, so Besson.

Dass man den 55-jährigen Franzosen für den amerikanischsten aller französischen Filmemacher hält, kümmert ihn kaum. „Das kann schon sein, aber ich glaube nicht, dass Kunst einen Reisepass benötigt. Ich bin ein Künstler, und da ist es doch egal, welche Herkunft ich habe“. Gerade die Amerikaner seien in diesem Bereich extrem aufgeschlossen, Ideen aus aller Welt zu effektgeladenen Filmen zu machen, sagt Besson. „Und ganz ehrlich: Die multikulturelle Welt ist schon toll: Ich kann heute in Island sitzen, Sushi essen und dabei Reggae-Musik hören. Das ist doch wunderbar“.

Matthias Greuling, Locarno

Dieser Beitrag ist auch in "Wiener Zeitung" erschienen.