Donnerstag, 30. August 2012

"The Iceman": Nicht Held, nicht Unmensch

Um neun Uhr morgens hat man uns in Venedig heute einen brutalen Killer-Thriller gezeigt: „The Iceman“ von Ariel Vromen handelt von Richie Kuklinski, einem Auftragskiller, der lange Jahre ein Doppelleben führte: Für die Mafia tötete er über 100 Menschen, während er daheim den liebenden Familienvater spielte. Diese wahre Geschichte ist Grundlage für den Film, der mit Michael Shannon in der Rolle von Kuklinski, Winona Ryder als seine nichtsahnende Ehefrau und Ray Liotta als Mafioso prominent besetzt ist.

Natürlich sind morgendlich konsumierte brutale Filmmorde nicht jedem Magen zuzumuten, und Vromen legt sich auch ordentlich ins Zeug, um den Killer in all seiner Kaltblütigkeit in einem kühl-distanzierten 70er-Jahre-Dekor abzubilden; die Hauptarbeit der an sich überaus konventionellen Inszenierung leistet dabei aber Michael Shannon – in punkto gespielter Härte hat er damit eine Glanzleistung gebracht.
Kalt, kälter, Michael Shannon: Als "The Iceman" ist er der brutalste Auftragskiller
weit und breit. Foto: La Biennale di Venezia
Dass „The Iceman“ die im Kino gar nicht mehr so übliche Perspektive eines fiesen, real existierenden Killers einnimmt, der ein ambivalentes Dasein zwischen Brutalität und Familienleben führt, ist vielleicht der Unique Selling Point dieser Geschichte; ist jemand, wenn er böse ist, dann wirklich ausschließlich böse? Natürlich nicht, und das zeigt „The Iceman“ deutlich. Einen Helden hat Vromen aus Kuklinski nicht gemacht, aber auch keinen Unmenschen. Trotzdem bleibt das Innenleben dieser Figur rätselhaft, denn niemals zeigt „The Iceman“, wie der Killer wirklich tickt. Das wäre famos gegen das erklärungswütige US-Kino gerichtet, hätte Vromen diese Machart durchgehalten. Eine ausführliche Biografie mit dem gängigen Herleitungsmuster für derlei Straftaten lieferte das Drehbuch mit, schaffte es aber zum Glück nicht in den Film. Denn dann würde er ja in die Falle gängiger Hollywood-Dramaturgien tappen, die das Verhalten eines Täters zumeist watscheneinfach auf eine verhunzte Kindheit reduziert. Ganz lassen konnte Vromen diese Anspielung auf die missratene Jugend Kuklinskis dann aber doch nicht. Sehr ärgerlich.
Dann schon lieber nichts wissen, dem Killer bei seinem als normalen Job verstandenen Tun zusehen und sich an der Unfassbarkeit seiner Taten reiben. Am Ende präsentiert Vromen im Abspann eine Tafel mit einem Foto des echten Killers, versehen mit seinen Lebensdaten. Das wirkt befremdlich, so, als wolle er Kuklinski auf ein Podest hieven.
Und im Gegensatz zu den beiden Filmen, die als Referenz auf der Hand liegen, Martin Scorseses „Goodfellas“ (ebenfalls mit Liotta) und Andrew Dominiks „Killing Them Softly“, fehlen hier einerseits Charaktertiefe und andererseits der schwarze Humor.
„The Iceman“, der hier außer Konkurrenz lief, wird trotz der überzeugenden Besetzung wohl keine große Kinokarriere hinlegen. Es ist einer dieser Filme, die schon aufgrund ihres Themas keine Publikumsmagneten werden können, die zwar mit wenig Budget auf „independent“ machen, zugleich aber nicht genug künstlerische Qualität bieten, um Form oder Genre zu bereichern. „Filme wie ‚The Iceman‘ sind schwer zu finanzieren, werden heute daher kaum mehr gedreht“, sagte Regisseur Ariel Vromen in Venedig. Er hat recht damit. Denn ohne einen neuen Standpunkt oder ohne die Kreation einer nachhaltig verstörenden Filmfigur sind sie überflüssig. Oder anders gesagt: Ein Fall fürs DVD-Regal.
Matthias Greuling, Venedig

Mittwoch, 29. August 2012

Mira Nair in Venedig: Auch Komplexes ist banal

Selten hat man die Bewältigung des Post-9/11-Traumas in unseren Breiten aus einer anderen Sicht als der westlichen diskutiert; der Schmerz, der den Amerikanern damals inmitten ihres Finanzzentrums zugefügt wurde, hatte permanente Terrorangst, verschärfte Ausländergesetze, Kriege und Xenophobie zur Folge. Wer eine dünklere Hautfarbe hatte und einen schwarzen Bart trug, war in diesem hoch nervösen Amerika schon a priori verdächtig.

"The Reluctant Fundamentalist" mit Riz Ahmed und
Kate Hudson (Foto: La Biennale die Venezia)
Die indische Regisseurin Mira Nair („Monsoon Wedding“) hat nun mit Mohsin Hamids internationalem Bestseller „The Reluctant Fundamentalist“ (auf Deutsch als „Der Fundamentalist, der keiner sein wollte“ erschienen) eine ganz andere Sicht auf Amerika zu einem Film gemacht: Ein junger Emporkömmling namens Changez Kahn (Riz Ahmed) steht hier im Zentrum, und sein Name klingt nicht zufällig nach Dschingis Kahn. Er durchlebt einen rasanten Aufstieg, von der Elite-Uni Princeton direkt an die Wall Street, wo er schnell Karriere macht. Doch das ist lange her; heute unterrichtet der Pakistani in seiner Heimatstadt Lahore an der Uni; hinter ihm vermutet die CIA eine Terrorzelle, und eine Unterredung mit einem Journalisten (Liev Schreiber) nach der Entführung eines anderen Uni-Professors dient als Rahmenhandlung für Kahns Schilderung seines Lebensweges; es ist zunächst ein Weg voller Erfolge, der sich aber nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ins Gegenteil verkehrt. Changez‘ Beziehung zu seiner US-Freundin (Kate Hudson) geht zu Bruch, die aufkeimende Ablehnung in der Bevölkerung und bei den Behörden gegen Muslime bekommt Changez nun immer öfter zu spüren. Das Land, das ihn den amerikanischen Traum leben ließ, es wird ihn nun zur Aufgabe desselben zwingen, und irgendwann ist Changez klar, dass er in seine Heimat zurückkehren wird müssen. Er wird sich gegen das wenden, was er jahrelang selbst idealisierte.
Mira Nair changiert auf der Basis der Buchvorlage mühelos zwischen Aufsteiger-Story und Polit-Thriller und erhält sich dabei ihre ganz eigene Art der Bildsprache aus atmosphärisch dichten, mit viel Farbe angereicherten Szenerien. Für viele ist das Kitsch, Nair-Anhänger allerdings sehen das gern. Trotzdem gerät „The Reluctant Fundamentalist“, der in Venedig als Eröffnungsfilm außer Konkurrenz gezeigt wird, bald zu einem konventionell erzählten enttäuschten Märchen, das es sich recht einfach macht, die Lebensumstände von Changez vor einem komplexen Geflecht aus politischen oder religiös motivierten Taten als bloß von banalem Egoismus und auch Selbstschutz getriebene Abfolge von Entscheidungen darzustellen. Aber vielleicht ist gerade dieses Manko ein vermeintliches;  denn dieser Film zeigt auch: Nichts im Leben ist uns letztlich näher als wir selbst, und diese Banalität ist am Ende unser aller Antrieb.
Matthias Greuling, Venedig

Dienstag, 28. August 2012

Der Rost, der bleibt – Der Lido vor dem 69. Festival

Man soll nur ja nicht glauben, dass es Ausnahmen von der Regel gibt. Zumindest nicht in Italien. Denn da galt schon immer das Prinzip „Außen Hui, innen pfui“ – Wer eine umfassende Fassaden-Renovierung bestellt hatte, bekam nicht selten eine einfach überpinselte Mauer. Sieht ja auch ganz nett aus, zumindest für kurze Zeit.
Auch am Lido von Venedig gilt dieses Motto. Denn hier, auf der Venedig vorgelagerten Insel, einem Bollwerk gegen das Meer quasi, rauben die Fluten nun mal gerne Land und die Gebäude leiden darunter. All der Sand und die salzige Luft, man kennt das ja. Rost ist bei den Italienern derzeit nicht nur als Modefarbe beliebt, sie kommt auch zuhauf in der Natur vor (und früher auch bei den nicht verzinkten Fiats).  Zumindest an jenen Plätzen am Lido, wo die Natur sich das von den Menschen Aufgebaute zurückerobert. Bei alten Waschanlagen etwa, wie dieses Foto zeigt:

Gleich hinter der touristischen Hauptstraße des Lido liegt dieses Prachtstück
vergangener Freiluft-Autowäschetage. Foto: Greuling
Aber man tut den Italienern ja unrecht: Vor ein paar Jahren noch war der Lido eine Pensionisteninsel mit Schlaglöchern, heute wird dafür allerorts gebaut und renoviert (die Pensionisten kommen immer noch). Viele Häuser zeigen sich in neuem Anstrich (ja, genau, dem), die Anlegestelle der Boote ist nagelneu und durchdesignt, aber auch schon ein bisschen rostig. Am Kreisverkehr wird eifrig gearbeitet, das Hotel des Bains ist im zweiten Jahr der Renovierung schon teilweise ausgehöhlt (in diesem legendären, voriges Jahr geschlossenen Hotel sollen Apartments errichtet werden), und ab kommendem Jahr wird das Excelsior, das zweite Nobelhotel generalsaniert.
All das passiert rund um den Neubau des Palazzo del Cinema, um den seit Jahren gestritten wird, und der nun doch nicht kommen soll. Die hässliche Baugrube mitsamt Asbestverseuchung, die drei Jahre lang frei lag (von wegen Meeresluft!), ist vorerst zumindest teilweise provisorisch zugemacht worden; der neue Leiter des Festivals, Alberto Barbera (der 62-Jährige war schon 1998 bis 2002 hier der Chef) will also zeigen: Am Lido geht was weiter! Stimmt. Nur in die Hinterhöfe darf man nicht schauen.
Neuerdings gibt es am Lido auch überall funktionierendes W-Lan, was bei den technikversierten Italienern an ein Wunder grenzt (gegenteilige Erfahrungen bitte posten!). Auch ein paar Schlaglöcher hat man zugemacht, dafür die Kurzparkzonen ein bisschen ausgedehnt. Schließlich muss das alles ja jemand bezahlen. Die Hoteliers sind wie üblich die größten Nutznießer dieses Festivals: Das 1-Stern-Hotelzimmer , in dem ich wohne, kommt mit 2-Quadratmeter-Nasszelle, schiefem Kasten und – erraten: übermaltem (!) Schimmel, kostet in diesem Jahr stolze 150 Euro pro Nacht. Der Preis unterm Jahr liegt bei 30 Euro. Im Zimmer steht an der Tür die Preisinfo: „Max. 198,- Euro“. Ich freue mich, denn wahrscheinlich hat mir der Hotelier Rabatt gegeben, weil ich schon so lange komme.
Nur die Pizza (Margherita für 5 Euro) und der Café (1 Euro an der Bar) sind gleich geblieben. Es gibt auch in Italien Dinge, die sind heilig. Die ändern sich nie. Wie der Rost. Der bleibt auch.

Samstag, 11. August 2012

Glaubensfragen und coole Dandys - Locarno vergibt die Preise

Klar, dass jemand wie Apichatpong Weerasethakul diesen Film mochte: „La fille de nulle part“ von Jean-Claude Brisseau, der in Locarno nun den Goldenen Leoparden erhielt, ist nämlich ein bisschen die Absage an all die (religiösen) Glaubensfragen, die die Menschheit befassen, aber nicht ohne zugleich Raum genug für das Vorkommen scheinbar übersinnlicher Vorgänge zu bieten. Weerasethakul ist ja selbst einer dieser Filmemacher, die ihre Arbeiten als beinahe spirituelle Rätsel konstruieren – die Phantasie, die spirituellen Untertöne, die halbtransparenten Menschen, die Geister, die roten, aus dem Dschungel hervorleuchtenden Augen eines seltsamen Wesens  - all das brachte Weerasethakul in Cannes die Goldene Palme für „Uncle Bonmee“, und jetzt war „La fille de nulle part“ für ihn als Jury-Vorsitzender in Locarno gewissermaßen der Film der Wahl; wenngleich wenig glaubhaft ist, dass jeder Filmemacher nur die Filme liebt, die sich mit den Themen seiner eigenen Arbeiten befassen oder in eine ähnliche Richtung gehen. „Der Glanz des Tages“ von Tizza Covi und Rainer Frimmel aus Österreich etwa, eine herausragende Arbeit, die den Goldenen Leoparden verdient hätte, wäre „einfach nicht Apichatpongs Geschmack, das ist doch klar“, debattierte ein Journalisten-Kollege mit mir. Aber dennoch scheint es verwunderlich, wenn jemand immer nur einseitig gewisse Genres und Themen in Filmen liebt; ich schaue auch nicht den ganzen Tag Haneke, sondern gerne auch mal Batman.

"La fille de nulle part" von Jean-Claude Brisseau gewann den
Goldenen Leoparden in Locarno (Foto: Festival Locarno)

Wie auch immer: „La fille de nulle part“ ist dennoch ein würdiger Preisträger dieser 65. Festivalausgabe, vor allem, weil er eine Art Schlusspunkt unter ein Werk setzt, dem in der französischen Filmwelt viel Anerkennung, aber auch Tadel widerfuhr. Jean-Claude Brisseau hat sich gerne mit Erotik befasst in seinem Kino. Jetzt inszeniert er sich als über 70-jährigen Mathematik-Professor im Ruhestand, der in seiner Pariser Wohnung an einem Alterswerk schreibt: Es geht um nichts weniger als einen Essay zum Thema Mythen und Glauben, um Grundsätzliches also, ausgerechnet formuliert von einem Agnostiker; das Zweifeln ist des von exakter Wissenschaft geprägten Mannes liebster Zeitvertreib. Bis eine junge Frau in sein Leben tritt, die verletzt vor seiner Tür kauert und die er vorübergehend bei sich aufnimmt. Natürlich bringt diese Person Konfliktpotenzial mit, und zwischen den beiden entsteht eine Annäherung. Zugleich aber häufen sich in seiner Wohnung mysteriöse Ereignisse, an deren Unerklärbarkeit der alte Mann nicht und nicht glauben will.
Brisseau legt sein Kammerspiel irgendwo zwischen (Selbst-)Ironie und der These an, dass Menschen lieber an etwas glauben, bevor sie an gar nichts glauben. Auch, wenn sie gar nicht wissen, woran sie sich da eigentlich klammern.
Jury-Preis: "Somebody Up There Likes Me"
von Bob Byington (Foto: Festival Locarno)
Für „Der Glanz des Tages“ gab es übrigens doch eine Anerkennung in Locarno: Die Jury hat mit dem Preis an Walter Saabel die tatsächlich herausragendste, weil authentischste Schauspieler-Leistung prämiert. Den Spezialpreis der Jury gab es für die US-Independent-Produktion „Somebody Up There Likes Me“ von Bob Byington. Eine nur 75-minütige Tour de force und Tour d’Horizon gleichermaßen, denn hier verhandelt der Regisseur im Eiltempo gleich dreieinhalb Jahrzehnte im Leben eines (im Film nicht alternden) Mannes, der durch Liebe, Heirat, Vaterschaft und Scheidung stolpert wie ein unbedarfter Schuljunge mit der phlegmatischen Coolness eines Dandys. Stilistisch zieht sich Byington von Beginn an auf ein stoisch-statisches Blickfeld zurück, innerhalb dessen er den Akteuren viel Raum für ironische, aber auch zynische Selbstbetrachtung lässt. „Schräg“ nennt das der Boulevard. Stilsicher und erfrischend innovativ das Feuilleton. Mehr Filme solcher Provenienz täten Locarno gut; sie würden das Festival in seinem Status als Geheimtipp für Entdeckungen bestätigen.
- Matthias Greuling, Locarno

Montag, 6. August 2012

Kotzen, Koksen, Koitus - Halbzeit beim Filmfestival in Locarno

In Locarno ist Halbzeit beim Festival, und vieles, was man hier bisher sehen konnte, widerspiegelt Festivalchef Olivier Pères Konzept von der spagathaften Auseinandersetzung mit Filmen. Da sind auf der einen Seite die künstlerisch hochwertigen Produktionen aus dem Wettbewerb, auf der anderen Seite die publikumsträchtigeren Arthaus-Filme, die auf der Piazza Grande laufen – wenn letztere auch wegen der heftigen Regengüsse der vergangenen Tage wohl viel weniger Zuschauer hatten als gewöhnlich. Doch ein Festival von Locarno ganz ohne verregnete Premieren wäre dann auch wieder ungewöhnlich, ja fast schon ungewohnt.

Und so traf es etwa die Piazza-Premiere von Christoph Schaubs Film „Nachtlärm“ mit Alexandra Maria Lara und Georg Friedrich. Ein Kind spielt hier die eigentliche Hauptrolle, ein Säugling, der nachts durchschreit und seine Eltern (Lara, Sebastian Blomberg) damit zur Verzweiflung treibt. Nur eine nächtliche Autobahnfahrt bringt ihn zum Schlafen. Der Regen auf der Piazza setzte sich auch im Film fort, denn auch dort sind die Straßen nass; bei einem Halt an einer Raststation wird das Auto der Eltern mitsamt Baby von einem Kleinganovenpaar gestohlen, eine wirre Verfolgungsjagd beginnt. Leider ist Schaubs gut erdachte Dramaturgie der Besetzung wegen zum Scheitern verurteilt; sowohl Lara (als Mutter) als auch die Newcomerin Carol Schuler (als Komplizin des „Entführers“ Georg Friedrich) stemmen ihre Dialoge nicht; sie wirken zuweilen künstlich, unnatürlich, bemüht. Die Männer tun sich da leichter, aber wie so oft im deutschsprachigen Kino geht hier die allgemeine Sprachverständlichkeit über alles – und sehr zu Lasten der Authentizität.


Walter Saabel und Philipp Hochmair brillieren in Tizza Covis und
Rainer Frimmels "Der Glanz des Tages" (Foto: Festival Locarno)
Solche Probleme kennen Tizza Covi und Rainer Frimmel nicht. Ihr „Der Glanz des Tages“ ist Zeugnis dafür, dass von dramaturgischen Konventionen und gängiger TV-Dramaturgie verstellte Charaktere nicht sein müssen: Das Paar erzählt in seinem neuen Film von einem Schauspieler (Philipp Hochmair  als er selbst), in dessen von Textlernen und Theaterproben beherrschtes Leben plötzlich sein Onkel (herausragend: Walter Saabel) tritt, der ihm wieder so etwas wie Lebensnormalität vorzeigt. Das Aufeinandertreffen zweier Welten ist hier als wunderbar unprätentiöse Filmerzählung geglückt: Die Künstlichkeit in der Welt des Schauspielers, der in seinen Texten versinkt anstatt mit beiden Beinen im Leben zu stehen, wird durch die Anwesenheit seines bodenständigen Onkels, eines einstigen Zirkusartisten, konterkariert. Nicht jeder, der auf einer Bühne besteht, besteht auch im Leben. Es scheint sogar, wie dieser Film zeigt, die Ausnahme zu sein, dass ein Schauspieler ein wirkliches Leben führen kann. Wie schon in ihren Vorgängerfilmen „Babooska“ und „La Pivellina“ arbeiten Covi und Frimmel mit großer dokumentarischer Präzision, diesmal aber skizzieren sie in scheinbarer Beiläufigkeit und mit einer unglaublichen authentischen Kraft Lebensentwürfe zwischen Schein und Sein. „Der Glanz des Tages“ ist der bislang herausragendste Film dieses Festivals.

Der Wettbewerb hat abgesehen davon durchaus einige interessante Arbeiten zu bieten: Bradley Rust Grays „Jack and Diane” (im Wettbewerb) über zwei Teenager-Mädchen ist Horror-Romanze mit Werwolf-Symbolik und dramatische Passion in einem. Die Liebe, ein Monster? Hier scheinen sich nostalgische Jugendgefühle mit exzessiv beschriebener Liebes-Symptomatik zu konkurrieren – mit offenem Ausgang.

Zu Ende gebracht wird hingegen die krass anmutende, aber wahre Geschichte einer Fast-Food-Filialleiterin, die einen Anruf von der Polizei bekommt. Angeblich hätte eine ihrer Mitarbeiterinnen einen Kunden bestohlen. Die Stimme am Telefon befiehlt, die vermeintliche Diebin bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten – und verlangt immer dreistere Einschüchterungs-Spielchen durch wechselnde Bewacher im Hinterzimmer des Restaurants, darunter auch sexuelle Handlungen. „Compliance“ von Craig Zobel ist eine kleine, kammerspielartige Geschichte, die den Blick freigibt auf eine von Terror und Obrigkeitsdenken geprägte Nation: In den USA ist der öffentliche Umgang miteinander mit so vielen Regeln belegt, die das Infragestellen von Autoritäten scheinbar komplett verunmöglichen. Anders ist es nicht denkbar, dass jener falsche Polizist seine Terrorisierung via Telefon in über 70 Fällen durchführen hatte können, bis man ihn schnappte. „Compliance“ verdichtet filmisch eine Paranoia, die in den USA wohl weit verbreitet sein muss: Man will nur ja nichts falsch machen, in Krisensituationen richtig reagieren und den Anweisungen Folge leisten. Dabei werden auch moralische Grenzen aufgehoben; die Anweisungen des Polizisten am Telefon werden unhinterfragt ausgeführt. Ein Alltagshorror, den die USA ihren Bürgern im Zuge ihrer Terrorangst anerzogen haben und der dort mittlerweile tief verwurzelt scheint.

Auf der Piazza Grande sind derlei verstörende Umstände nicht zu sehen. Zwar geht es in Stéphane Brizés „Quelques heures de printemps“ um Sterbehilfe und Selbstbestimmung, jedoch ist das Drama (mit einem großartigen Vincent Lindon und einer noch großartigeren Hélène Vincent) in erster Linie eine von jahrelangem Schweigen geprägte Mutter-Sohn-Geschichte, verortet in einem sozial eher schwachen Milieu, in dem man üblicherweise keine zweiten Chancen für die Lebensfehler erhält. Der 48-jährige LWK-Fahrer Alain wird nach 18 Monaten wegen Drogenschmuggels aus der Haft entlassen und zieht, bis er wieder auf die Beine kommt, vorübergehend bei seiner krebskranken Mutter ein. Die hat sich dazu entschlossen, den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu wählen und will Sterbehilfe in der Schweiz in Anspruch nehmen. Während Mutter und Sohn über allerlei Kleinkram in Streit geraten, ist das moralisch heikle Thema des begleiteten Selbstmordes selbst nie ein Grund für die beiden, sich darüber zu zerwerfen. Der Tod als kontrollierter, selbst gewählter Endpunkt eines am Ende doch verpfuschten Daseins, das ist das Ziel dieser Figuren, die vielleicht noch niemals zuvor wirklich die Kontrolle über ihr Leben hatten. Ein wunderbar gespieltes Drama.

Mit „Ruby Sparks“ hat man auf der Piazza einen weiteren leichtfüßigen Film aus der Reihe „Fox produziert Independent-Rom-Coms“ aufgeführt; ein an einer Schreibblockade leidender Schriftsteller (Paul Dano) schreibt sich seine Traumfrau einfach selbst und steht unter Schock, als sie plötzlich lebendig wird und mit ihm Spaghetti kocht. Die quirlige Zoe Kazan hat das Drehbuch verfasst und spielt auch die lebendig gewordene Phantasie-Frau. Das Ganze ist nett, aber nie umwerfend komisch, ist mal heiter, mal traurig, aber niemals fühlt man mit den Protagonisten.

Ebenso wenig gelungen ist die britische Komödie „Sightseers“ von Ben Wheatley, die von einem frisch verliebten Paar auf einer Wohnwagen-Reise durch die Provinz erzählt. Tinas neuer Lover Chris scheint ein naturverliebtes Urviech zu sein, der mit ungeliebten Mitmenschen wenig zimperlich umgeht und sie überfährt oder mit dem Stein totschlägt. Die Komödie legt großen Wert auf einen britischen Humor, der zwischen Anarchie und Understatement angesiedelt ist; gegen Mitte des Films scheinen Wheatley aber leider die Ideen auszugehen. 


Dreimäderlhaus als US-Independent-Quatsch: "Bachelorette"
von Leslye Headland (Foto: Festival Locarno)
Bisheriger Tiefpunkt in Locarno ist die US-Independent-Produktion „Bachelorette“ von Leslye Headland. Ein Film, der wahnsinnig hysterische Frauen in einer von ihnen als wahnsinnig hysterisch wahrgenommenen Welt zeigt, die beschränkter kaum sein könnte: Hier, vor dem Hintergrund einer bevorstehenden Hochzeit und zweier Junggesellen-Abschiede, zirkelt alles nur um Äußerlichkeiten. Die drei Hauptfiguren – Frauen um die 30 und allesamt Single – tingeln von einem Bett ins nächste und haben mit dem Kotzen genauso wenig Probleme wie mit dem übermäßigen Koksen. Auch, wenn „Bachelorette“ als seicht-frivole Komödie daherkommt, so ist der Film doch auch besessen darauf erpicht, über das Gemüt einer ganzen Generation junger, frustrierter Frauen zu sprechen, in deren Lebensverständnis einiges dramatisch schief gelaufen ist. Ihre Gedankenwelt steckt fest zwischen Magersucht und Hochzeitskleid, Random Casual Sex und Schwanzwitzen. Kotzen, Koksen, Koitus – die traurige De-Emanzipation eines Geschlechts. Arm ist, wer über dieses Gedankenmodell nicht hinauskommt.
-Matthias Greuling, Locarno

Freitag, 3. August 2012

Alain Delon: "Tragik ist Teil meiner Persönlichkeit" // Locarno 2012

Der Tag begann mit einer herben Enttäuschung: Alain Delon, 76, hatte alle bereits vereinbarten Interviews abgesagt. Der medienscheue französische Superstar, dem man in Locarno am Donnerstag Abend den Goldenen Leoparden für sein Lebenswerk überreicht hatte, ist schon zu lange weg vom Rampenlicht, um sich auf seine alten Tage nochmals einen Interview-Marathon anzutun, hieß es hinter vorgehaltener Hand.

Alain Delon bei der Pressekonferenz in Locarno (Fotos: © Matthias Greuling)
Ja, Delon. Der große, hübsche Mann, den halb Europa vergötterte, als er bei Visconti spielte, in „Rocco und seine Brüder“, oder als „Eiskalter Engel“ bei Melville; der an der Seite seiner großen Liebe Romy Schneider im südfranzösischen „Swimmingpool“ schwamm. Delon ist alt geworden, aber seine Strahlkraft ist ungebrochen. Adrett sein Auftreten im Jackett, sauber gescheitelt sein graues, noch immer dichtes Haar. Dementsprechend groß war das Medieninteresse bei der Pressekonferenz, der einzigen verbliebenen Möglichkeit, Delon zu lauschen.

Seine Nervosität war stark zu spüren. Delon, der öffentliche Auftritte in den letzten Jahren auf ein Minimum beschränkt hatte, war schon bei der Preisverleihung auf der Piazza Grande am Donnerstag Abend mit sieben Bodyguards angerückt, die ihn bestmöglich abschirmen sollten. Auch in der  überhitzten, schwülen Umgebung des Spazio Forum in Locarno, in dem die Pressekonferenz stattfand fühlte er sich sichtlich unwohl. Aber er spielte mit, machte ein paar Verlegenheitsscherze, beantwortete geduldig die Fragen.

„Das Kino von heute“, sagt Delon, „ist für mich völlig uninteressant. Das liegt daran, dass es kaum gute Stoffe gibt, oder gute Regisseure. Ein Regisseur muss drei Qualitäten mitbringen: Einmal muss er vor dem Dreh alle Szenen durchdenken können. Dann muss er es schaffen, während des Drehs die Schauspieler zu führen. Und schließlich muss er nach dem Dreh im Schneideraum den Film nochmals inszenieren. Die meisten heutigen Regisseure haben eines, maximal zwei dieser Talente. Ich hatte Glück, dass es zu meiner Zeit noch große Künstler gab“. Delon würde gerne wieder Filme drehen: „Gebt mir gute Rollen. Dann bin ich dabei“.

Erst spät in seiner Karriere gab sich Delon auch für spaßige Rollen her; etwa trat er als Julius Cäsar in der Realverfilmung „Asterix bei den Olympischen Spielen“ (2008) auf. „Ich habe die komischen Rollen aber lieber immer Jean-Paul Belmondo überlassen“, scherzte Delon in Locarno. „Wann immer Belmondo den Raum betrat, haben alle gelacht. Wann immer ich hereinkomme, bleibt es still. Es war also gut, dass ich nicht mehr Komödien gemacht habe“.

Überhaupt sei die Tragik schon immer Teil seines Lebens gewesen, meinte Delon. „Ich komme aus einfachen Verhältnissen, niemand aus meiner Familie war beim Film. Ich war mit 18 beim Militär, in Indochina. Es kann durchaus sein, dass die Tragik ein Element meiner Persönlichkeit ist“.

Nicht minder tragisch ist Delons ungebrochene Zuneigung zu seiner großen Liebe Romy Schneider (die er einst wegen einer anderen verlassen hatte). „Wenn man mich fragte, wen ich am meisten vermisse von all den Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, dann ist das Romy Schneider. Sie war eine fantastische Schauspielerin, sie war unglaublich“, sagt Delon. Es sind die letzten Worte seines Kurzauftrittes in Locarno. „Unser gemeinsamer Film ‚Der Swimmingpool‘ war wunderbar“, schließt Delon. „Aber ich schaffe es heute nicht mehr, ihn mir anzusehen“.

Das abgesagte Interview, das hatte man dem gerührten Delon da schon beinahe wieder verziehen.
-Matthias Greuling, Locarno

Hier noch unser Video-Mitschnitt von der Pressekonferenz mit Alain Delon:

Donnerstag, 2. August 2012

Im Gespräch mit Charlotte Rampling // Locarno 2012

Auf so viel Interesse war Charlotte Rampling nicht vorbereitet. Die britsche Schauspielerin hat am 1. August in Locarno den "Excellence Award" in Form eines Goldenen Leoparden auf der Piazza Grande entgegen genommen, tags darauf gab sie Interviews im Hotel Belvedere. Allein: Der Andrang der (inter)nationalen Journalisten war so groß, dass Frau Rampling angesichts des Interview-Marathons bald erschöpft wirkte; ein Vollprofi wie sie will sich das jedoch nicht anmerken lassen, weshalb das müde Lächeln vor unserem Interview sofort verschwand, als die Kamera zu laufen begann. Hier ein Ausschnitt aus unserem Gespräch mit Charlotte Rampling:


Mittwoch, 1. August 2012

Locarno setzt die Trends


Locarno Film Festival, 1.-11.8. 2012
Locarno feiert 2012 das gleiche Jubiläum wie nur zwei Monate zuvor das Festival von Cannes: Beide Filmschauen sind 65 Jahre alt. Locarno spielt durchaus in einer Liga mit Cannes, auch wenn es als das kleinste A-Festival gilt. Doch sonst sind die Gemeinsamkeiten rar. Denn während in Cannes vor allem der filmische Kommerz in Form großer Blockbuster-Premieren und am Marché du Film gefeiert wird, hat Locarno seine Nische im Wettstreit der prestigeträchtigen Festivals woanders gefunden. Es ist ein Festival geblieben, das Entdeckungen zulässt, und das in seiner programmatischen Kompromisslosigkeit auf diese Weise schon etlichen Karrieren auf die Sprünge geholfen hat. „Das Festival von Locarno gilt seit seiner Gründung als mutig und offen gegenüber neuen ästhetischen Entwicklungen, geografischen Verschiebungen sowie jungen Filmemachern. Im Rahmen seiner 65. Durchführung zeigen wir, dass der Inhalt des Festivals das ganze Kino und nichts als Kino ist, darin eingeschlossen dessen bemerkenswerte Geschichte, Stars und Künstler ebenso wie seine vielversprechende Zukunft mit neuen Autoren“, definiert es Olivier Père, der künstlerische Leiter des Festivals.

NICHT VON BROT ALLEIN

Aber Père, heuer in seinem dritten Amtsjahr, weiß, dass ein Festival nicht von Brot allein leben kann, weshalb er im Vorjahr neben etlichen Genre-Filmen auch Blockbuster wie „Cowboys & Aliens“ oder „Super 8“ auf die Piazza Grande holte. Auch dieses Jahr buhlte er erneut um große US-Produktionen wie „The Bourne Legacy“ und „Total Recall“, die auf der Piazza vor 8000 Zuschauern laufen hätten sollen. Die genannten Filme sind nun doch nicht in Locarno zu sehen, was aber nichts mit dem Unwillen der Studios zu tun hat, sondern mit Terminproblemen. Die US-Studios haben Locarno nämlich längst als funktionierende Plattform für ihre Filme erkannt, denn wo sonst ließen sich Blockbuster besser launchen als beim größten Open-Air-Kino der Welt?
"Starlet" von Sean Baker (Foto: Festival Locarno)
Das Festival will diesen Spagat beibehalten, will aber nicht zu viel Unterhaltungsware, denn letztlich steht es mehr für das cineastische Kleinod denn für Kommerz-Kracher. Auf der Piazza Grande sind doch einige Studiotitel der mittleren Größenordnung zu sehen, etwa „Ruby Sparks“ von Fox oder „Magic Mike“, der neue Film von Steven Soderbergh. „Bachelorette“,  der Sundance-Hit der Weinsteins, ist auch dabei. Amerikanische Independent-Ware.
Aber selbst im internationalen Wettbewerb, der hier fernab der Piazza in den Kinos der kleinen Stadt am Lago Maggiore gespielt wird, finden sich vermehrt US-Produktionen. Es sind dies vor allem Klein- und Kleinst-Titel, die mit wenig Budget realisiert wurden und die Handschriften junger Independent-Filmer tragen. Insgesamt sechs US-Filme treten um den Goldenen Leoparden an, darunter Sean Bakers „Starlet“, Craig Zobels „Compliance" und Bob Byingtons „Somebody Up There Likes Me“, die allesamt beim South by Southwest Film Festival in Austin, Texas, ihre Premiere feierten. Das Festival gilt als Mekka und Startpunkt vieler Independent-Karrieren.

INSIDER-TIPP FÜR FILMEINKÄUFER

"Compliance" von Craig Zobel (Foto: Festival Locarno)
Branchenintern ist Locarno deshalb ein Insider-Tipp für viele Filmeinkäufer geworden: Hier lassen sich noch junge, unverbrauchte Talente entdecken, das Interesse an den „Industry Days“ steigt stetig. Cannes und Venedig sind indes künstlerisch stark auf ihre Linie eingeschworen; die Wettbewerbe werden zumeist von „Stammgästen“ bestritten, von den Großen des Weltkinos. In Locarno, dessen Jury heuer vom Cannes-Gewinner und Avantgarde-Erzähler Apichatpong Weerasethakul geleitet wird, tauchen hingegen immer wieder neue Namen auf. Besonders außerhalb des Wettbewerbs, in den Reihen „Cineasti del presente“ und „Pardi di domani“, herrscht die pure Anarchie des Kinos: Erzählerisches Neuland und cineastische Experimente finden sich hier zuhauf. Weniger in Cannes oder Venedig, sondern hier muss nach den neuen Trends im Weltkino gesucht werden. Denn hier werden sie gemacht.
Matthias Greuling