Montag, 9. September 2013

Venezig 2013: Sacro GRA und die Zeichen des Stillstands



Ein Leben an der Autobahn ist ein Leben an einem Nicht-Ort: Auf Stelzen steht sie da, Zubringer winden sich an ihr hoch, das konstante Rauschen zeugt von der Geschäftigkeit ihrer Benutzer. Doch auch ein Nicht-Ort kann Heimat sein. Das zeigt Gianfranco Rosi in seinem Dokumentarfilm „Sacro GRA“, dessen Schauplätze am gleichnamigen Autobahnring von Rom liegen; Rosi gewann damit als erster Italiener seit 15 Jahren in Venedig den Goldenen Löwen für den besten Film - und das in jenem Jahr, in dem erstmals auch Dokus im Wettbewerb gleichrangig mit Spielfilmen konkurrieren durften.
"Sacro GRA" (Foto: La Biennale di Venezia)
„Sacro GRA“ ist eine mürbe aber auch skurrile Betrachtung von Menschen, die an der Autobahn leben; Rosi spürt sie mit Akribie auf und begleitet sie ein Stück weit ihres Weges. Es ist eine ungewöhnliche Entscheidung, die die Jury unter dem Vorsitz von Bernardo Bertolucci hier getroffen hat, und doch geht sie in Ordnung. Denn die unzusammenhängenden Sequenzen sind nicht nur Abbild von Heim und Heimat, sie findet auch allerlei Lebensrealität, die man vom (narrativen) italienischen Kino kaum mehr gewöhnt ist: Dort ist oft alles schrill, laut, opulent und betont lebensbejahend; doch das Land steckt in einer Krise, und das fängt Rosi mit seiner Kamera – bewusst oder unbewusst – mit ein: Ein Kaleidoskop der Befindlichkeiten einer Nation, die es sich nicht mehr leisten kann, mit stolz geschwellter Brust ihren Patriotismus zur Schau zu stellen.
Das Filmfestival von Venedig hat das zu seiner 70. Jubiläumsausgabe auch gezeigt: Am Lido von Venedig gab es keine Feuerwerke, keine rauschenden Feste und auch keine übertriebene Beflaggung. Stattdessen übte man sich in Understatement – um es positiv auszudrücken. Die Asbest-Grube vor dem Casino, an der ein neuer Palazzo del Cinema hätte entstehen sollen, klafft auch drei Jahre nach dem Aushub unverändert, die Infrastruktur wird von Jahr zu Jahr schwächer, das Interesse der internationalen Medien schwindet, auch wegen der Konkurrenz des Festivals in Toronto. Venedig verlässt sich auf sein attraktiv-morbides Ambiente - doch das ist auf Dauer zuwenig für ein A-Filmfestival.
"Sacro GRA" (Foto: La Biennale di Venezia)
Bei den übrigen Preisträgern dominierte noch einmal Italien: Als beste Darstellerin wurde die 82-jährige Elena Cotta geehrt, der dazugehörige Film „Via Castellana Bandiera“ entwirft ein hysterisch-turbulentes Gesellschaftsporträt Italiens. Eigentlich hatte man mit einem Preis für Judi Dench in Stephen Frears’ Drama „Philomena“ gerechnet, in dem sie eine Frau spielt, die erst Jahrzehnte nach der von irischen Klosterschwestern erzwungenen Adoptionsfreigabe für ihren unehelichen Sohn nach dessen Verbleib zu fragen traut. Für „Philomena“ gab es letztlich nur den Drehbuchpreis. Bester Darsteller wurde Themis Palou in „Miss Violence“, einem griechischen Inzestdrama, für das auch der 36-jährige Alexandros Avranas als bester Regisseur ausgezeichnet wurde. In Ordnung gehen auch die Preise für Thai-Chinesen Tsai Ming Liang für dessen wortkarges Drama „Stray Dogs“ über die Tristesse von Tagelöhnern in asiatischen Großstädten und der Spezialpreis der Jury für den Deutschen Philip Gröning und sein sprödes Beziehungsdrama „Die Frau des Polizisten“; ein Film, der lange nachwirkt - verhandelt er in 59 Kapiteln und überzogener formaler Strenge doch die unglaublichen Qualen häuslicher Gewalt.
Alberto Barbera, dieser stets elegant gekleidete Herr, der seit zwei Jahren die Mostra del Cinema leitet, hat keine schlechte Auswahl für seinen Wettbewerb getroffen. Zu den Höhepunkten gehörten die Arbeiten von Xavier Dolan („Tom a la ferme“), die Donald Rumsfeld-Doku „The Unknown Known“ von Errol Morris oder die Beziehungsstudie „La jalousie“ von Philippe Garrel. Allein: Der Glanz des Festivals verblasst mehr und mehr, solange sich hier strukturell nichts ändert. Es herrscht Stillstand an diesem historischen Ort, ganz im Gegensatz zur immerwährenden Bewegung des Verkehrs auf dem Nicht-Ort der römischen Stadtautobahn GRA.
Matthias Greuling, Venedig


Freitag, 6. September 2013

Venedig ist kein Griff ins Klo

Wer glaubt, Venedig wäre als dienstältestes Filmfestival der Welt (es begeht dieses Jahr seine 70. Ausgabe) um Jubelstimmung versucht, der irrt. Am Lido von Venedig gibt es keine Feuerwerke, keine Bankette, keine rauschenden Feste und auch keine übertriebene Beflaggung. Stattdessen übt man sich in Understatement – um es mal positiv auszudrücken. Niemand hier scheint das Jubiläum wirklich ernst zu nehmen; die Asbest-Grube vor dem Casino, an der ein neuer Palazzo del Cinema hätte entstehen sollen, klafft auch drei Jahre nach dem Aushub unverändert, das Interesse der internationalen Medien schwindet (auch wegen Toronto) zusehends und die venezianische Stadtpolitik tut so, als ginge sie ihr Aushängeschild in Sachen Filmkunst nichts an: Touristenströme am Markusplatz und vollgestopfte Busse zu den Stränden am Lido sind einträglicher als das Kunstkino der Mostra del cinema.

Allein: Alberto Barbera, dieser adrette Herr, der die Mostra seit zwei Jahren leitet, hat inmitten des unspektakulärer werdenden Settings seiner Filmschau einen ansehnlichen Wettbewerb zusammengetragen, der sich wahrhaft sehen lassen konnte. Denn dass die (infra-)stukturellen Schwächen des Festivals sich normalerweise auch im Programm niederschlagen, trifft diesmal zumindest nicht zu.
"La Jalousie" von Philippe Garrel (Foto: La Biennale di Venezia)
Das hat auch damit zu tun, dass Barbera nicht auf Effekthascherei bei Filmen setzt und somit relativ leicht jeden Griff ins Klo vermeiden konnte. Im Gegenteil: Auch als spröde bekannte Filmemacher zeigen hier neue Werke voller Anmut, voller neuer Ideen, oder zumindest voller dramaturgischer Reife. Philippe Garrel zum Beispiel. Der hat mit „La jalousie“ (Die Eifersucht) ein zwar kurzes, aber famoses Schwarz-weiß-Abstrakt über das (Miss-)Trauen in der Liebe gedreht, das ebenso unspröde wie geerdet daherkommt: Garrels Sohn Louis spielt einen Kindsvater, dessen neue Freundin ihn betrügt, auch, weil sie selbst ihrer rasenden Eifersucht ihm gegenüber Luft machen will. Es ist ein französischer Film, wie er im Lehrbuch stehen könnte, mit Beziehungsgesprächen in der Küche, mit langen Einstellungen, mit intensiven Blicken und mit unprätentiösen Pariser Stadtansichten. Und doch fern jeder Konvention: „La jalousie“ erinnert über weite Strecken an die Filme der Nouvelle Vague, nicht an den sich danach daraus gebildeten Stil französischer Beziehungsdramen. Garrel ist visuell und dramaturgisch radikaler, das macht den Reiz dieser großen Arbeit aus.
Ambivalent mag man zu einer Arbeit stehen, die hier im Wettbewerb als Dokumentarfilm angekündigt war, sich vorderhand aber schnell wie US-Propaganda ausnimmt. „The Unknown Known“ von Errol Morris gibt einem der umstrittensten Kriegsherren unserer Tage breiten Raum zur Selbstglorifizierung: Donald Rumsfeld darf darin beinahe unkommentiert erläutern, warum Bush nach 9/11 den Planeten in Kriege und Chaos stürzte, sei es in Afghanistan oder im Irak, und wieso das alles genau so richtig war; Rumsfeld war (gemeinsam mit Dick Cheney) der Strippenzieher hinter Bush, der die Pläne ausheckte. Bald schon steht er als Mastermind einer US-Weltmachtsfantasie da, die er mit seinem sympathischen Auftreten und seinem telegenen Aussehen wie selbstverständlich weglächelt. Und doch ist diese „Doku“ bei genauerem Hinsehen raffiniert durchtrieben: Genau deshalb, weil sie scheinbar nicht die „richtigen“ Fragen stellt, animiert sie den Zuschauer zu innerer Gegenwehr; Rumsfeld liefert sich selbst mehr und mehr aus, ohne es zu merken; er verbleibt in seinem Duktus des charmanten, aber uneinsichtigen Showman, der – ganz amerikanisch – nie gelernt hat, selbstrefelxiv oder gar selbstkritisch zu sein, und der am Ende bei aufmerksamen Zusehern über diese Überheblichkeit stolpert.
"The Unknown Known" von Errol Morris. (Foto: La Biennale di Venezia)
Formal hoch interessant ist die Arbeit „Die Frau des Polizisten“ des deutschen Regisseurs Philip Gröning. Er verhandelt in 59 Einzelkapiteln und drei Stunden Spielzeit das Schicksal einer Ehefrau und dessen Auswirkungen auf ihre Familie. Die Kapitel sind von unterschiedlicher Länge, machen davon bloße Miniaturen ohne offensichtlichen Sinn, aber zusammen verdichten sie sich zu einem erschreckend detailreichen Bild von häuslicher Gewalt: Die Familie – ein Mann, seine Frau, ein gemeinsames Kind -, die hier im Zentrum steht, gibt nur langsam preis, wie es um sie bestellt ist; wie im echten Leben eben auch, wenn man hinter die Fassaden jahrelang als Vorzeigepaare wahrgenommener Mitmenschen blicken kann.
Auch „Sacro GRA“ von Gianfranco Rosi, ein Dokumentarfilm über die Anwohner der römischen Ringstraße – ein Leben an der Autobahn – überzeugte im Wettbewerb. Die Doku findet allerlei Lebensrealität, die man vom italienischen Kino kaum mehr gewöhnt ist: Dort ist oft alles schrill, laut, opulent und betont lebensbejahend; doch das Land steckt in einer Krise, und das fängt Rosi mit seiner Kamera – bewusst oder unbewusst – mit ein: Ein Kaleidoskop der Befindlichkeiten einer Nation, die es sich eigentlich nicht mehr leisten kann, mit stolz geschwellter Brust ihren Patriotismus zur Schau zu stellen. Die große Asbest-Grube vor dem Casino am Lido ist nur ein Grund dafür.

Matthias Greuling, Venedig