Sonntag, 15. Mai 2016

Cannes hat einen Favoriten: "Toni Erdmann"

Sie wären die vielleicht sicherste Wette auf den Preis für die besten Darsteller - wäre dieser Film nicht in Cannes, sondern bei der Berlinale gelaufen. Sandra Hüller und Peter Simonischek spielen in „Toni Erdmann“ von Regisseurin Maren Ade ein Gespann aus Vater und Tochter, das man mit den Begriffen Verve und Nonchalance noch immer nicht ausreichend charakterisiert hätte. Die beiden geben in 162 Minuten Film eine ganz und gar finessenreiche, hintergründige Performance. 
Das Team von "Toni Erdmann" (Foto: Katharina Sartena)
Es geht um Lebensglück und darum, im Korsett scheinbarer Verpflichtungen der Arbeitswelt festzustecken, bis einem die Luft wegbleibt. Ines (Hüller) ist Mitarbeiterin bei einer Unternehmensberatung in Rumänien, wo man den Kunden die unangenehmen Arbeiten abnimmt: Sollen 200 Stellen gestrichen werden, so spricht man von „Outsourcing“, und diesen Job müssen Ines und ihr Team erledigen. Kündigungen überlassen große Firmen nämlich heutzutage grundsätzlich den anderen. Und Ines ist in dieser Position zwar Profi, aber alles andere als glücklich. Das merkt auch ihr Vater Winfried (Simonischek), ein Spaßvogel der alten Schule, der einem gern ein Furzkissen unters Gesäß legt. Winfried besucht seine Tochter in Bukarest und sieht dort zu, wie sie unter dem Stress ihrer Arbeit leidet. Bald schon tritt er mit Perücke und falschen Zähnen als Geschäftsmann Toni Erdmann auf und mischt sich so ins Leben seiner Tochter, die davon alles andere als begeistert scheint. Doch auch ihr dämmert schnell, dass ihr derzeitiges Dasein keine Zukunft hat. 
Mit „Toni Erdmann“ hat - nach langen Jahren der Absenz - wieder einmal ein deutscher Film den Weg ins Wettbewerbsprogramm von Cannes gefunden. Maren Ade, in Berlin 2009 für „Alle anderen“ prämiert, zeigt in ihrem dritten Spielfilm, welch famose Beobachterin sie ist: Ihr Film funktioniert als Drama genauso wie als Komödie, hat eine freche, fast frivole Seite im Umgang mit Konventionen. Bei der Pressevorführung in Cannes gab es mehrmals frenetischen Szenenapplaus, vor allem für Hüllers angstfreie darstellerische Leistung. Ades Komödie ist der vielleicht stimmigste und sympathischste deutsche Film des Jahres, über den man wirklich herzlich lachen kann, der einen aber auch zu Tränen rührt. Skurrile Wendungen geben „Toni Erdmann“ schließlich den letzten Schliff; sie werden durch Szenen ausgedrückt, in denen Ines, von ihrem Vater als dessen Sekretärin Miss Schnuck ausgegeben, sich stimmgewaltig in einem Whitney-Houston-Klassiker verliert oder auf ihrer eigenen Geburtstagsparty splitternackt erscheint. Das macht wirklich großen Spaß. 
„Im Film fällt einmal der Satz: ‚Familie ist so kompliziert’. Das war wie ein Ausgangspunkt für mich, und auch die Frage, wie man sich davon loslösen kann“, sagte Regisseurin Maren Ade in Cannes. Ob es Absicht wäre, dass sie sich eine junge Frau als Protagonistin auserwählt hat, die es schon durch ihr Geschlecht schwerer in der Business-Welt hat? „Ich stecke schon tief in der Gender-Debatte, denn jeder fragt mich danach. Meine Hauptfigur ist eine Frau, die sich in einer Männerwelt durchsetzen muss. Mir geht es ja ähnlich im Filmbereich“, meint Ade, die aber festhält: „Wenn ich einen James-Bond-Film anschaue, dann bin ich der James Bond und nicht das Bond-Girl. Insofern hat es keine wirkliche Bedeutung, dass die Hauptfigur eine Frau ist. Dahinter gibt es keine grundsätzlich feministische Ansage“.
Bei den Dreharbeiten hat sich Ade betont zurückgehalten, was die Anweisungen an ihre Schauspieler angeht. „Deshalb ist der Film auch sehr authentisch geworden, finde ich“. 
„Blicke und Vorgänge zwischen mit und Peter Simonischek haben damit zu tun, dass wir uns tierisch auf den Nerv gegangen sind. Es gab einen langen Probenprozess, der das Gefühl für die Figuren anreichert. Man redet dabei nicht über die Geschichte oder das Ergebnis. Diese Arbeit ist nicht ergebnisorientiert“, erklärt Sandra Hüller. 
Für Peter Simonischek eine ungewohnte Art zu arbeiten: „Ich habe viele Komödien am Theater gespielt. Aber das ist eine ganz andere Form der Komödie, so etwas war für mich etwas völlig Neues. Ich habe diese Komödie erst verstanden, als ich sie vor einer Woche gesehen habe. Maren ließ sich nie anmerken, ob wir etwas gut oder schlecht gespielt haben, das hat die Spannung aufrecht erhalten - und wenn das über Monate so geht, ist das natürlich anstrengend. Denn man geht am Abend nach Hause und hat fast Gefühl, nie etwas gut gemacht zu haben. Aber es hat sich ausgezahlt, wie man gesehen hat“.
Der Lohn war ein volles Premierenhaus in Cannes mitsamt großem Beifall. All das bedingt durch die sensible Regie einer Frau, der es darum ging, „den Moment der Wahrhaftigkeit einzufangen“, sagt Ade.

Momente also. Am Ende von „Toni Erdmann“ soll ein Fotoapparat einen solchen lebenswerten Moment festhalten. Aber es dauert zulange, und der Moment zieht fort. Was bleibt von diesem Film, ist die Erkenntnis: Vom Glück existieren keine Fotos. 

Matthias Greuling, Cannes

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