Montag, 10. September 2012

Venedig-Preise: Vertrauen statt Dogmatismus

Es war eine stark religiös geprägte Mostra del cinema von Venedig, im Jahr eins des neuen Programm-Machers Alberto Barbera. Da gab es eine Anzeige wegen Blasphemie gegen Ulrich Seidls „Paradies: Glaube“, da gab es charismatisch-fanatische Sektenführer in Paul Thomas Andersons „The Master“, oder auch die „Pieta“, zumindest im Titel des gleichnamigen Films des Koreaners Kim Ki-duk, der am Ende als großer Sieger dastand und den Goldenen Löwen bekam. Die Jury rund um US-Regisseur Michael Mann („Collateral“) hat die Glaubens-Programmatik bei der Preisvergabe mitgetragen und damit vielleicht ein kleines Ausrufezeichen dahingehend gegeben, wie wichtig im Menschsein die Verquickung von Religion und Alltag noch immer ist. Oder: Heute wieder ist.
Für Ulrich Seidl war es ein „Zufall“, wie er betonte, dass der zweite Teil seiner „Paradies“-Trilogie mit dem Titel „Glaube“ ausgerechnet im katholischen Italien zur Uraufführung gelangte; für Festival-Beobachter ist diese Positionierung hingegen nur logisch: Nirgends sonst hätte Seidl mit der inzwischen legendären Masturbationsszene mit dem Kruzifix mehr Aufsehen erregt als hier am Lido – prompt ging die Taktik auf, italienische Medien schrieben von einem Skandal und die ultrakonservative katholische Gruppierung NO 194 (die ihren Namen aus dem italienischen Gesetzesparagrafen für Abtreibung bezieht, gegen den sie auftritt) zeigte Seidl und das Festival wegen Blasphemie an.
Dass Seidl nun den Spezialpreis der Jury für seine Geschichte über eine missionierende Krankenschwester (Maria Hofstätter) bekam, ist wie ein Kontrapunkt zum Sturm der Entrüstung. Es ist aber auch, und erneut, eine Art Trostpreis: Schon 2001 hatte Seidl genau denselben Preis für „Hundstage“ erhalten, und damals wie heute hätte er durchaus den Goldenen Löwen verdient. Aber auch das ist Realität im Kunstbetrieb: Als Künstler muss man oft jahrzehntelang reifen, ehe sich Festival-Jurys zu einem Hauptpreis hinreißen lassen: Michael Hanekes etwa hatte seit 1997 jeden Kinofilm in Cannes im Wettbewerb gezeigt, etliche Preise gewonnen und erst 2009 für „Das weiße Band“ die Goldene Palme geholt. Es war nicht sein bester Film. 2012 wiederholte er das Kunststück mit „Liebe“.
Goldene Löwen, Palmen, Bären, das sind eben oft auch Preise für ein ganzes Lebenswerk von Künstlern mit eigener und eigenwilliger Handschrift. Nicht anders verhält es sich mit „Pieta“ von Kim Ki-duk. Der Mann, der die letzten paar Jahre als Einsiedler in einer Waldhütte verbrachte, um durch eine schwere Depression zu gehen, zeigte sich mit seinem neuen Film in alter Form und hat – nach mehreren Anläufen und einem Silbernen Regie-Löwen für „Bin-jip“ (2004) – nun die Gold-Version erhalten. Kim Ki-duks Kino ist voller archaischer Gewalt, es ist pessimistisch und depressiv, da macht auch „Pieta“ keine Ausnahme. Im Zentrum steht ein junger Mann, der als brutaler Geldeintreiber arbeitet. Eines Tages taucht eine Frau auf, die behauptet, seine Mutter zu sein, die ihn nach seiner Geburt ablehnte und nun um Gnade bittet. Eine Katastrophe in der nur noch zaghaft vorhandenen Gefühlswelt dieses Mannes, die am Ende zum umgekehrten Bild führt, dass man von der Pietà hat: Hier schmiegt sich ein Sohn an die tote Mutter, und es sieht so aus, dass all seine Gewalt hätte verhindert werden können, wäre er nur rechtzeitig geliebt worden. „Pieta“ ist ein würdiger Preisträger, aber er ist eben auch eine Auszeichnung fürs Lebenswerk dieses Regisseurs, der in all seinen Filmen die Gewalt als einzig passende Darstellungsform von Liebe benutzt, niemals aus dem Drang heraus, zu provozieren. Darin ähnelt er wiederum Seidl, der Provokation als Triebfeder für seine Filmschilderungen stets abgelehnt hat, sondern lieber darauf verweist, nur die Wirklichkeit menschlicher Abgründe abbilden zu wollen.
Der dritte im Bunde der Preisträger ist „The Master“, Paul Thomas Andersons Sekten-Drama, der für die beste Regie sowie für die Darsteller Philip Seymour Hoffman und Joaquin Phoenix prämiert wurde. Erzählt wird die Relation eines charismatischen Sektenführers (Hofmann) zu seinem am Leben gescheiterten Jünger (Phoenix) zwischen Hörigkeit, Skepsis und Fanatismus – die perfekte Ergänzung zum Religions-Thema dieser 69. Mostra, denn gerade dieser Film zeigte: Glaube funktioniert nicht über Dogmatismus, sondern allein über Vertrauen.
Matthias Greuling, Venedig

Donnerstag, 6. September 2012

Robert Redford: Geradliniges Suspense-Drama in Venedig

Die Message ist simpel: Die großen Fische der Wall Street werden durch die Krise noch reicher, als sie ohnehin schon sind, die Durchschnittsbevölkerung wird darunter leiden, die Republikaner hätten es in ihrer Wahlkampfstrategie bloß auf jenes eine Prozent der US-Bürger abgesehen, die man gemeinhin die „Superreichen“ nennt, und Obama ist der einzige Hoffnungsträger.

"The Company You Keep", von und mit Robert Redford (Foto: La Biennale di Venezia)
Robert Redford hat sich bei seinem Auftritt in Venedig gewohnt politisch geäußert; der 76-jährige Schauspieler, Regisseur und Sundance-Filmfestival-Gründer, der für seine Fans längst Legendenstatus hat, ist mit einem neuen Film im Gepäck angereist, und, erraten: es handelt sich um ein Polit-Suspense-Drama. Denn Redford lebt dafür, mit seinen Filmen auch relevante Aussagen zum Zustand der Politik zu treffen. „The Company You Keep“, in Venedig außer Konkurrenz gelaufen, befasst sich mit einem wahren Ereignis der US-Geschichte, aber Redford interessiert weniger das Historische an der Buchvorlage von Neil Gordon, sondern die Auswirkung einstiger Ereignisse auf das Heute. In seiner letzten Regiearbeit „Die Lincoln Verschwörung“ (2010) hat er das noch im historischen Gewand versucht, als er zwischen den Zeilen einen Brückenschlag vom 19. Jahrhundert zum Post-9/11-Trauma zog. Jetzt hingegen verhandelt er aus heutiger Sicht lange zurückliegende Ereignisse.
Redford spielt den Anwalt Jim Grant, der von dem jungen Journalisten Ben Shepard (Shia LaBeouf) mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird: Vor 30 Jahren war Grant Mitglied einer bis heute untergetauchten Terrorgruppe, die mit Anschlägen unter anderem gegen den Vietnam-Krieg protestierten. Als Shepard Grants wahre Identität lüftet, wird Grant zum Gejagten und taucht unter. Ein solide inszeniertes und ebenso gespieltes Polit-Drama, das diese wahren Ereignisse rund um das radikale Manifest von „The Weather Underground“ thematisiert. Diese linksextreme Gruppierung ging in den 60er und 70er Jahren in den USA mit Bombenanschlägen gegen Regierungsgebäude vor, auch, um ihren Frust über die Kriegs-(Vietnam-)Politik der Mächtigen abzubauen.
„Für mich war es an der Zeit, diesen Teil unserer Geschichte fürs Kino zu erzählen“, sagte Redford in Venedig. „Aus heutiger Sicht kann man die Ereignisse der radikalen Antikriegs-Protestbewegung als Teil der amerikanischen Geschichte betrachten. Ich konnte mir einen Blick hinter die Kulissen der Geschichte erlauben, und betrachte nun, was jene Menschen, die damals aktiv waren, heute, 30 Jahre später, tun“. Die Protestler von einst haben sich falsche Identitäten zugelegt und lebten jahrzehntelang unentdeckt. „Das hat für mich etwas von ‚Les Misérables‘“, so Redford. „Da ist also jemand, der sich einen neuen Namen gibt, ein neues Leben, Kinder bekommt, aber am Ende weiß er: Er wird bis an sein Lebensende gejagt werden. Mich hat interessiert, wie diese Menschen mit solchem Druck umgehen und ob sie ihre Einstellung zu ihrem damaligen Handeln ändern oder nicht“.

Redford hat „The Company You Keep” als effektarmes, aber suspensegeladenes Drama inszeniert, das mit viel Dialog hantiert, ohne sich jemals zum Sprechstück zu reduzieren. Redfords Regie und auch sein Spiel sind überaus geradlinig, und das ist eine beinahe schon gängige Eigenschaft des anspruchsvolleren US-Unterhaltungskinos: Es will eine Message transportieren, und die soll von jedem verstanden werden. Genauso wie Redfords eindeutige Wahlempfehlung für Obama.

Dienstag, 4. September 2012

Olivier Assayas über "Après Mai" in Venedig

„Dieser Film ist wirklich sehr persönlich“, sagt der französische Regisseur Olivier Assayas. „Après Mai“, in Venedig im Wettbewerb zu sehen, ist die Geschichte von jugendlichen Revoluzzern, die in den 70er Jahren in der Pariser Vorstadt für Unruhe sorgen, Protestplakate malen, Sprayer-Aktionen durchführen und Flugzettel mit politischen Parolen drucken – um gegen bestehende soziale und politische Verhältnisse aufzubegehren. In meinem Interview spricht der 57-Jährige über seinen Film.

Monsieur Assayas, inwieweit erzählt „Après Mai“ auch ihre eigene Jugendgeschichte?
Olivier Assayas: Es ist mein persönlichster Film bisher. Aber ich glaube nicht an ein autobiografisches Kino, und nicht alles, was man im Film sieht, ist tatsächlich passiert. Was mir wichtiger war, ist, eine gewisse Stimmung der 70er Jahre, so wie ich sie erlebt habe, einzufangen. Das beginnt ja bei den Drehorten, beim Dekor und den Autos. Auch bei der Kleidung, ja sogar bei den Flugzetteln, die wir damals von Hand druckten. Oder die Plattencover von damals. Das sind alles Dinge, die meine Generation definiert haben. Nach meinem Film „Carlos“ (2010) über den gleichnamigen Terroristen, der ja auch in den 70er Jahren spielt, hatte ich das Gefühl, diese Zeit nicht nur aus politischer, sondern auch aus persönlicher Sicht wiedergeben zu müssen. Das passiert mir häufig bei meinen Filmen: Dass sie sich quasi automatisch ergeben und sich mir aufdrängen.


"Après Mai" von Olivier Assayas (Foto: La Biennale di Venezia)
Dabei ist ihnen wichtig, nicht von der 68er-Generation zu berichten, sondern bewusst von jener Zeit der 70er Jahre, in denen Revolutionen jeder Art gerade bei der Jugend beliebt waren.
Genau. Die 70er waren eine Zeit, in denen man so ziemlich alles ausprobiert hat, was möglich ist. Das hat es zuvor und auch danach nie mehr gegeben. Ich schildere die sehr naiven Träume junger Menschen von damals, wie ich auch einer war. Alle erträumten sich eine bessere Welt und dachten, das sie wirklich etwas verändern könnten. Erst in den 80ern wurden sie alle brutal in die Realität zurückgeholt.

Gerade auf der optischen Ebene funktioniert „Après Mai“ hervorragend. Die Stimmung ist ganz wunderbar rekonstruiert. Wie gehen Sie dabei vor? Steht das alles bereits im Drehbuch?
Nein, gar nicht. Ich bin ein sehr knapp formulierender Drehbuchschreiber. Denn wenn ich da alles reinschreiben würde, was ich mir denke, würde mich das später beim Drehen verrückt machen, geradezu einengen. Ich mag es lieber, wenn ich die Geschichte nach dem Schreiben am Set noch weiterentwickeln kann. Bis zu einem gewissen Grad muss man natürlich vorplanen, wegen der Geldgeber und auch wegen der Schauspieler, die das Drehbuch ja als Arbeitsunterlage brauchen. Aber die visuelle Gestaltung lasse ich mir völlig offen, um den Stoff ständig überarbeiten und verbessern zu können.

Im Film geht es auch um Liebe und sexuelle Erfahrungen, dennoch scheinen diese Dinge anders als noch bei den 68ern eine Nebenrolle zu spielen.
Damals in dem Alter fühlte es sich normal an, sich eher politisch oder künstlerisch zu engagieren als emotional. Ich erinnere mich, dass ich stets ein Beobachter der sexuellen Revolution der 60er war. Damals war das „Ich“ in einer Liebesaffäre nicht sehr bedeutend. In heutigen Filmen sind Jugendliche oft fanatisch obsessiv, wenn es um Sex geht; sie sind getrieben von Lust – solche Porträts finde ich grotesk. Die 70er brachten sicher ein Freiheitsdenken in sexueller Hinsicht, vor allem, weil Sex bis dahin kaum diskutiert wurde. Aber im Vordergrund stand nie der Sex, sondern immer die Sache, für die gerade gekämpft wurde. Die eigenen Emotionen waren sicher nicht das Zentrum der Welt.

Matthias Greuling, Venedig

Sonntag, 2. September 2012

Wunderschön: "To the Wonder" von Terrence Malick in Venedig

Mit dem Alter wird dieser Mann offenbar richtig produktiv: Terrence Malick („Badlands“, „The Tree of Life“) hat bisher in 40 Jahren nur sechs abendfüllende Spielfilme gedreht, zwischen denen manchmal sogar 20 Jahre lagen. Aber mit 69 hat der öffentlichkeitsscheue Regisseur, der 2011 die Goldene Palme für „The Tree of Life“ bekam, gleich vier neue Filme in Planung, drei davon sollen 2013 erscheinen. Dafür macht sich der Regisseur rar: Malick tritt nie in der Öffentlichkeit auf, es gibt kein aktuelles Foto von ihm, nur eines, das mindestens 15 Jahre alt ist.


Ben Affleck und Rachel McAdams in Terrence Malicks
"To the Wonder" (Foto: La Biennale di Venezia)
Dieser Ausnahmekünstler hat seinen späten, intensiven Schaffensdrang nun mit seinem neuesten Film bestätigt: „To the Wonder“, ein elegisches, aber auch episches Liebesdrama, wurde bei seiner Presse-Premiere im Wettbewerb um den Goldenen Löwen in Venedig gleichermaßen mit Applaus und Buh-Rufen bedacht; viele Kritiker sprachen in ersten Reaktionen von einer inhaltsleeren Restverwertung von „Tree fo Life“, auch, weil der Film in diesem ganz eigentümlichen visuellen Stil einer sich ständig bewegenden Untersicht verbleibt, die schon „Tree of Life“ eine beinahe kindliche Perspektive auf die Welt verlieh. Andere monierten die offensichtliche Verliebtheit des Regisseurs in die wunderschönen Züge seiner russischen Hauptdarstellerin Olga Kurylenko; das Ex-Bond-Girl aus „Ein Quantum Trost“ lässt sich als (traum-)tänzerische Frau auf der Suche nach wahrer Liebe sprichwörtlich  in die Arme von Ben Affleck fallen und (lust)wandelt einer Ballerina gleich durch unzählige Sonnenauf- und –untergänge. Eine Altherrenphantasie sei das, eine ästhetisierte Fleischbeschau zwischen sexy Augenaufschlag und Körperbildern einer elfenhaften Kindfrau.
Natürlich, so kann man diesen Film sehen, aber man kann auch hinter den Effekt von Malicks Bildern blicken, auf den Kern dieser poetischen, feinsinnigen Abbildung über das Betrügen und über das Betrogenwerden. Die Geschichte erschließt sich über die sehnsüchtigen Bilder und die noch sehnsüchtigeren Voice-Over-Texte der Protagonisten. Klassisch filmisch aufgelöste Szenen und Sequenzen gibt es hier nicht, alles gleitet wundersam ineinander, ist ein ruhiger Fluss ohne sichtbare Ufer, wie das Leben selbst. Die Struktur des Films gleicht mehr einer fließenden, nach allen Richtungen offenen Komposition denn einer abgeschlossenen Filmerzählung im 3-Akte-Schema.
„To the Wonder“ beginnt als Liebesromanze am Mont St. Michel in Frankreich, zu dem das verliebte Paar Marina und Neil (Kurylenko, Affleck) pilgert. „We climbed up the steps to the wonder“, heißt es im Off, während sie die Stufen emporsteigen und oben in gemeinsamer Glückseligkeit verharren. Später wird man in „To the Wonder“ wieder Stufen sehen, auf die Malick überdeutlich hinweist; es sind die Stufen zu einem Stundenhotel, in dem Marina Neil mit einem Fremden betrügen wird, weil sich in ihrer Gefühlswelt so einiges verschoben hat. Aber auch Neil wird mit seiner Jugendliebe Jane (Rachel McAdams) intim. Ein Priester (Javier Bardem) zweifelt dazwischen immer wieder an seiner Gottes-Berufung und bringt damit Malicks Thema auf den Punkt: Das Konzept einer lebenslangen, ewig lodernden Liebe darf zumindest angezweifelt werden, und niemand kann darauf vertrauen, die  eigenen Gefühle auf Dauer bändigen zu können.
„To the Wonder“ ist zudem ein Zeugnis von Terrence Malicks ungeheurem Urverständnis für die Ästhetik der Natur und die überwältigende Kraft der tiefstehenden Sonne, die alles Tun in ihrem Lichte romantisiert, verklärt, aber auch bedrohlich werden lassen kann. Der visuelle Link zu „Tree of Life“ weist aber keine Resteverwertung übriggebliebener Ideen auf, sondern erweitert das Spektrum des Familiendramas um den Aspekt der romantischen Verklärung zwischenmenschlicher Beziehungen, aus denen es meist ein böses Erwachen gibt. „To the Wonder“ ist eine visuell wie auch erzählerisch intelligente Auseinandersetzung mit der „Lust & Trust“-Unvereinbarkeit modernen Zusammenlebens. Er ist aber auch eine betörend schöne Abbildung seelischer Pein und sehnsüchtiger Erwartung. Wenn Olga Kurylenko den ganzen Film über immer wieder im Spitzlicht der Sonne tanzt, dann sind das schwebend-leichtfüßige Momente voller kinematografischer Kraft, in einem der schönsten Filme seit vielen Jahren.
- Matthias Greuling, Venedig

Samstag, 1. September 2012

Ulrich Seidl im Video-Interview zu Paradies: Glaube

Beim Filmfestival von Venedig habe ich heute Ulrich Seidl zum Gespräch getroffen, und erste Video-Ausschnitte daraus gibt es nun hier:



Matthias Greuling, Venedig

Jesus ein Dildo? "Paradies: Glaube" von Ulrich Seidl in Venedig

Am Anfang steht die Selbstgeißelung, am Ende hat die Person die Rute, mit der sie sich selbst auspeitscht, gegen jemand anderen gerichtet. Dazwischen wird gebetet und gekämpft, begehrt und bekehrt, in Versuchung geführt und gefoltert. Nachdem „Paradies: Liebe“ bereits in Cannes aufgeführt wurde, hatte Ulrich Seidls „Paradies: Glaube“, der zweite Teil dieser Trilogie, nun beim Filmfestival von Venedig Premiere. Es gibt kaum einen passenderen Ort als das katholische Italien, um über Religion und ihre komplexen Auswirkungen auf unseren Alltag zu sprechen.

Maria Hofstätter als Anna Maria in "Paradies: Glaube" (Foto: Stadtkino)
Eine Frau, sie heißt Anna Maria (Maria Hofstätter), will die Sünde von der Erde nehmen und wandert mit ihren hölzernen Madonnenstatuen von Haustür zu Haustür, um die Gottlosen dahinter zur Umkehr zu bringen. Sie tut dies mit Nachdruck; aber sie hat kaum Erfolg. Niemand von all jenen, die Seidl hier mit seiner Kamera besucht, hält viel von der katholischen Lehre, nicht das in wilder Ehe lebende, ältere Paar, nicht die junge Russin, die ihren Gott im Alkohol gefunden hat. Auch nicht der Messie in seiner Unordnung,  der nur mehr am Totenbett der Mutter Platz für die Wandermadonna hat und nicht einmal das Vater Unser auswendig kann.
Die eigentliche Erzählung in „Paradies: Glaube“  findet aber  im Eigenheim der Predigerin statt; dort lebt sie allein, bis ihr lange Zeit verschwundener Ehemann, ein Muslim aus Ägypten (Nabil Saleh), plötzlich wieder auftaucht. Er sitzt im Rollstuhl, ist auf ihre Hilfe angewiesen, und bald schon wird Anna Maria, die sich erst nach seinem Verschwinden ihrer Liebe zu Jesus hingab, einen regelrechten Kleinkrieg gegen ihren Mann führen. Er will ihre Zuneigung, sie will in Keuschheit leben, allerhöchstens nur mehr Gott selbst an ihr Fleisch lassen. Interessant, wie Seidl den Muslimen hier als durchaus gemäßigt zeichnet, während seine fanatische Ehefrau den katholischen Glauben als radikal-fundamentale Lebensaufgabe begreift.
Seidl verhandelt hier die Rangelei zweier großer Weltreligionen anhand ihrer kleinsten denkbaren Einheit: Die Familie ist in allen Religionen heilig, und „in allen Religionen hättest du die Pflicht, als Ehefrau abzuwaschen und zu putzen“, sagt ihr der erzürnte Ehemann. Später beschimpft er sie als Hure, „eine Hure, wie alle in Österreich“. Der Muslim wird vom Rollstuhl aus all ihre in jedem Raum montierten Kreuze von den Wänden schlagen und auch das Foto von Papst Benedikt XVI. in der Küche. Sie wird ihm dafür den Rollstuhl verstecken und  ihren Herrn anrufen: „Warum strafst du mich so?“
"Wir sind treu bis in den Tod" (Foto: La Biennale di Venezia)
Dazwischen blitzt immer wieder auch Fanatismus auf. In der Bibelrunde skandiert Anna Maria mit anderen Gläubigen „Wir sind die Sturmtruppe des Glaubens“ und „Wir sind treu bis in den Tod. Wir schwören, dass Österreich wieder katholisch wird“.
Man kann „Paradies: Glaube“  als Provokation auffassen, als ein Ausspielen der Religionen gegeneinander, als eine gewitzt-einfallsreiche Sadisten-Beziehung voller (Selbst-)Folter, die ihre Methoden unter dem Deckmantel des Glaubens legitimiert. Aber das wäre nur die Oberfläche. Denn darunter liegt, wie so oft bei Seidl, nicht bloße Provokation, sondern ein ganzer Fragenkatalog, den er stellen will. Es wäre zu einfach, den Film als provokantes, aber simples Pamphlet für die Fragen unserer Zeit abzutun; dafür zeigen seine Figuren zu viele Ambivalenzen in ihrem Verhältnis zueinander, und in ihrem Verhältnis zu Gott. Nein, hier sind es Verzweiflungstäter, die zwischen Gottvertrauen und Lebenslust hin- und hergerissen scheinen und die zur Stillung ihrer natürlichen Triebe gerne auch mal mit Jesus am Kreuze zu Bett gehen und sich damit selbstbefriedigen. Wenig überraschend orteten nach der Pressevorstellung einige italienische Medien aufgrund dieser Szene bereits einen handfesten Skandal.
Stilistisch arbeitet Seidl noch intensiver als in „Paradies: Liebe“ mit der von ihm so geliebten Cadrage, in der er seine Figuren zentriert anordnet. Aber wie auch in „Liebe“ ist der ursprünglich als Einteiler angelegte Episodenfilm, den Seidl auf drei Filme ausbreitet, voller  repetitiver Elemente, langatmig fast, wenig effizient in seiner Erzählstruktur. Bei „Glaube“ erscheint dies aber als nachvollziehbares Stilmittel, denn auch die Predigt des immer gleichen Gottglaubens kennt die Elemente der penetranten Wiederholung. Die visuelle Form von „Paradies: Glaube“ illustriert damit perfekt die von Anna Maria leidenschaftlich gelebte Askese, die sich in der quälenden Langsamkeit des Films manifestiert.
Seidl hat mit „Paradies:Glaube“ aber auch eine sehr persönliche Geschichte erzählt: „Ich bin stark katholisch geprägt, entstamme einem sehr religiösen Elternhaus, habe christliche Internatsschulen besucht. Aber in meiner Jugend habe ich rebelliert gegen die Autorität, die Verlogenheit, die Scheinmoral der Kirche“. Eine Abrechnung mit dem katholischen Glauben ist der Film dennoch nicht geworden. Seidl:  „Wir leben in einer Gesellschaft, die über Jahrhunderte katholisch geprägt war. Ich trage die urchristlichen Werte in mir. Davon kann man kann sich nicht lösen.“  
Matthias Greuling, Venedig