Dienstag, 30. August 2016

Venedig 2016: Wir bitten zum Tanz

Der Lido von Venedig präsentiert sich zum Start der 73. Filmfestspiele so aufpoliert wie lange nicht.

"La La Land" (Foto: Biennale di Venezia)
Früher musste auf den Boden achten, wer über den Lido von Venedig zur nächsten Vorführung hastete, denn allerorten entbehrte das Trottoir einer ebenmäßigen Ausgestaltung, weil sich die Natur mit all ihrem Wurzelwerk längst zurückgeholt hatte, was der Menschen vor langer Zeit ebnete. Nicht wenige Journalisten-Kollegen beendeten ihr venezianisches Filmfestival darob im „Ospedale“ im Sestiere Castello, wo manche mit Prellungen, andere mit komplizierten Brüchen eingeliefert worden sind. Auf dem Lido waren die Straßen in einem derartig schlechten Zustand, dass bei einem Wolkenbruch binnen Minuten 30 Zentimeter tiefe Straßenseen den Verkehr lahmlegten. 
Das ist alles Geschichte, denn solche Straßen gibt es hier nicht mehr. Die Stadtgemeinde Venedig hat sich ein Herz gefasst und den maroden Lido zurechtgeputzt, mit neuem, teurem Stein in Zartbeige für die Fußgeher und einer planen, pechschwarzen Asphaltdecke für die wichtigsten Straßen. Die Busse der Actv sparen sich auf diese Weise vermutlich die bisher jährlich zu tauschenden Stoßdämpfer. Die Restaurants an der Gran Viale Santa Maria Elisabetta, der Lebensader der Insel, haben den Umbau genutzt, um selbst frischen Wind in ihre Deko und Bestuhlungen zu bringen. Fußgänger könnten sogar vertieft in ihre Programmhefte zum Palazzo del Cinéma schlurfen, da würden sie über nix mehr stolpern. Höchstens über die Sicherheitsabsperrungen rund um das Festivalgelände, die selbst nach 9/11 nicht so drastisch waren wie heuer.
Nach dem Anschlag von Nizza im Juli will man hier nichts dem Zufall überlassen und hat beim Festivalpalast und dem Casino Straßensperren aus Beton zur Verlangsamung von Fahrzeugen eingerichtet. Solche Maßnahmen, wo Fahrzeuge ein langsames Zickzack fahren müssen, kennt man von Straßen vor gefährdeten Botschaften oder bei Checkpoints in Kriegsgebieten - bei Filmfestivals sind sie neu - jedoch sitzt den Veranstaltern derartiger Großereignisse die Angst im Nacken, jemand könnte mit einem LKW wieder Dutzende Menschen niederfahren. Der Superintendent von Venedig hat die Parole ausgegeben: „Alle Menschen, die den Bereich des Filmfestivals betreten, müssen bereits im Vorfeld kontrolliert worden sein“. Das wird bedeuten: Lange Wartezeiten mit genauer Metalldetektor-Kontrolle. Noch sind hier allerdings bisher immer jegliche Sicherheitsmaßnahmen nach ein paar Tagen der Hypernervosität auf typisch italienische Weise gelockert worden. Repräsentieren war dann immer wichtiger als agieren. Am Ende glänzten die Uniformen der Carabinieri meist noch strahlender als die Stars am roten Teppich. Aber wer weiß, hat sich das alles vielleicht doch geändert.
Der Star-Faktor bleibt für die Filmschau in der Lagunenstadt jedenfalls neben der Filmkunst wohl die wichtigste Legitimation - schließlich ist Venedig das älteste Filmfestival der Welt und kämpft seit Jahren um seine Bedeutung gegenüber des zeitgleich stattfindenden Festivals von Toronto, das mehr und mehr (US-)Prominenz anzieht, ganz einfach, weil es für diese günstiger liegt. Venedig ist dagegen geradezu wie aus der Zeit gefallen, wenn es um Geschwindigkeit geht. Die 40 Minuten vom Bahnhof zum Lido im Express-Vaporetto sind halt verdammt lange, weshalb die meisten Venezianer (und auch schon die Mehrheit der Touristen) scheinbar gar nicht mehr aus dem Fenster sehen, sondern lieber am Smartphone stöbern. Aber die Fotomotive hier, die sind halt im Vergleich zu Toronto noch immer unschlagbar.
Jury-Präsident Sam Mendes im Gespräch (Foto: Sartena)

Damit das so bleibt, musste auch ein wenig an der Infrastruktur geschraubt werden - und dabei ist man zur Überraschung aller endlich in der Lage gewesen, das seit bald einem Jahrzehnt klaffende Asbest-Loch neben dem Casino zuzuschütten, wo man eigentlich einen Neubau des angegrauten Palazzo del Cinema aus der Mussolini-Ära geplant hatte. Daraus wurde nichts, die Kosten explodierten, die Asbest-Grube blieb notdürftig abgedeckt für viele Jahre geöffnet. 
Jetzt steht an ihrem Platz die „Area Giardino“, also ein Garten mit einem roten Kubus in der Mitte, einem neuen Kinosaal. Der „Sala del Giardino“ fasst 446 Sitzplätze und erhöht die Festivalkapazität an Kinosessel auf 5832. Paulo Baratta, der Präsident der Biennale, deren Teil das Filmfestival ist, hat „diesen Tag schon sehr lange herbeigesehnt“, und dem ist nichts hinzuzufügen. 
All das sind aufmunternde Lebenszeichen vom Festival von Venedig, das sich in den letzten Jahren vermehrt der Kritik aussetzen musste, in Schönheit erstarrt dem Untergang geweiht zu sein. 
Doch man reißt sich am Riemen und probt den Gefälligkeits-Aufstand. Denn auch im Filmprogramm der 73. Festspiele ist so etwas wie ein Ruck zu spüren, das gilt sowohl für die populären Star-Filme, die das Festival mit eben jenen Fotomotiven so weltberühmt gemacht haben, wie auch für die Filmkunst. Vorbei scheint die Zeit, in der man seinen Film „lieber zur Berlinale oder nach Cannes“ eingereicht hat.
Bei den publikumsträchtigen Filmen stechen etliche Prestige-Projekte der Studios hervor, die bald schon auch im Oscarrennen mitmischen dürften. Etwa der Eröffnungsfilm, das Musical „La La Land“ von Damien Chazelle („Whiplash“), in dem Emma Stone und Ryan Gosling im Tanzschritt eine Hommage an das goldene Zeitalter des Hollywood-Musicals wagen. Für Venedigs Festivalchef Alberto Barbera ist „La La Land“ ein „Neubeginn des Musical-Genres“, weshalb er dieses Starvehikel auch im Wettbewerb um den Goldenen Löwen zeigt. Außer Konkurrenz dürfte Antoine Fuquas Remake von „Die glorreichen Sieben“ zu den Highlights gehören, ebenso wie Mel Gibsons Kriegsdrama „Hacksaw Ridge“ mit Teresa Palmer und Andrew Garfield. In den Wettbewerb hat Barbera zudem weitere klingende Namen eingeladen: Francois Ozon zeigt sein Drama „Frantz“, das vom Ersten Weltkrieg erzählt, Modeschöpfer Tom Ford bringt seine zweite Regiearbeit, den Künstler-Thriller „Nocturnal Animals“, mit, und Wim Wenders vertieft einmal mehr seine seit 1996 währende Kollaboration mit Peter Handke als Drehbuchautor und verfilmte das gemeinsam geschaffene Werk „Die schönen Tage von Aranjuez“, nach „Pina“ Wenders’ zweiter Film in 3D.
Die Dichte hochkarätiger Werke nimmt im Festivalverlauf nicht wie früher ab, als hier alle ab dem Montag nach dem ersten Wochenende nach Toronto abhauten. Heuer bleibt das Niveau konstant hoch. Die neuen Filme von Denis Villeneuve („Arrival“), Andrei Konchalovsky („Paradise“) oder Terrence Malick („Voyage of Time: Life’s Journey) stehen auf dem Programm, besonders gespannt wartet man auf das US-Debüt des Chilenen Pablo Trapero, der mit „Jackie“ ein Bio-Pic über Jackie Kennedy gedreht hat, mit Natalie Portman in der Titelrolle.

Auch Österreich ist vertreten, wenngleich nicht im Wettbewerb: Ulrich Seidls Doku „Safari“ über Jagdtouristen in Afrika läuft außer Konkurrenz, Ronny Trocker bringt seinen Spielfilm „Die Einsiedler“ in die Reihe „Orizzonti“ mit, ebenso wie Michael Palm seinen Essay „Cinema Futures“. Der passt wie die Faust aufs Auge dieser runderneuerten „Mostra del cinéma“ auf dem blank polierten Lido: Geht es darin doch um nichts weniger als um die Zukunft des Kinos im Zeitalter der digitalen Revolution. Alles analoge muss dem Digitalen Platz machen, und das birgt Chancen, aber auch Gefahren. Ein bisschen wehmütig denkt man da an die Farben der Musicals aus der Technicolor-Ära zurück, an die uns „La La Land“ erinnern will. An all die Projektionen, bei denen das Filmmaterial gerissenen ist, oder an die leicht vibrierenden Bildstände der 35mm-Projektion, an die Kratzer, an das Unperfekte. An die Wurzeln, die das Trottoir empor drückten. Man erinnert sich, wie gerne man mit dem Auto durch die 30 Zentimeter tiefen Regenlachen auf dem Lido gefahren wäre. Aber diese Form der Unterbodenwäsche hat man sich dann doch nie getraut. 

Matthias Greuling, Venedig

(Auch in der Wiener Zeitung erschienen)

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