Freitag, 12. August 2016

Locarno: Zum Finale ein paar Favoriten

Das Filmfestival von Locarno ist für sein künstlerisch hochwertiges (und darob manchmal auch sperriges) Wettbewerbsprogramm bekannt. Auch die 69. Ausgabe der Filmschau im Tessin macht da keine Ausnahme: Festivalleiter Carlo Chatrian zeigt abseits der Piazza Grande, die für die populäreren Filme reserviert ist, Filmkunst auf höchstem Niveau. Zugleich ist auch der Anteil von Filmen, die von Frauen gemacht wurden, überdurchschnittlich hoch. Kein anderes A-Festival der Welt zeigt so viele Regiearbeiten von Frauen wie dieses.
"Inimi cicatrizate" des Rumänen Radu Jude (Foto: Festival Locarno)

Qualitätsmerkmal ist das per se noch keines, aber da hat Locarno ohnehin längst den Diskurs erreicht, in dem Kritiker laut über zu viel oder zu wenig Anspruch klagen, je nachdem, für welches Medium sie arbeiten.
Im Hauptbewerb um den Goldenen Leoparden, der heute, Samstag, in Locarno verliehen wird, sind jedenfalls spröde, zugleich auch kurzweilige, humorvolle Arbeiten mit Tiefgang zu finden. So hat die Argentinierin Milagros Mumenthaler mit "La idea de un lago" beschrieben, wie Persönliches oft von größeren Zusammenhängen bestimmt wird. Eine schwangere Fotografin will vor der Geburt ihres Kindes mit der eigenen Kindheit abschließen und ein Fotoalbum zusammenstellen. Darin ist auch die einzige Aufnahme ihres Vaters zu finden, der seit Beginn der Militärdiktatur spurlos verschwunden ist. Der Vater auf dem Foto, das an einem See aufgenommen wurde, ist Projektionsfläche und Sehnsuchtspunkt gleichermaßen. Mumenthaler lässt ihre Figuren keine Traurigkeit empfinden, aber doch einiges an Wehmut.
Wehmütig sollte auch der erst 29-jährige Knochentuberkulose-Patient aus "Inimi cicatrizate" des Rumänen Radu Jude sein. Der liegt nämlich einkaserniert in einem Sanatorium an der Schwarzmeerküste darnieder, fest einbandagiert und ans Bett gefesselt. Die Zeit des Siechtums bis zum absehbaren Ende wird hier aber nicht mit Trübsal gefüllt, sondern mit Lebenslust kompensiert, bei der auch die Liebe zu einer Patientin eine Rolle spielt. Radu Jude verleiht dem auf dem autobiografischen Roman "Vernarbte Herzen" des rumänischen Schriftstellers Max Blecher basierenden Film eine sympathisch-groteske Note, die "Inimi cicatrizate" zu einem der Favoriten macht.
Ebenso humorvoll und ein Stück weit grotesk ist "Mister Universo" des österreichischen Filmerpaares Tizza Covi und Rainer Frimmel. Ein Zirkusdompteur geht auf die Suche nach seinem verlorenen Talisman und bereist dafür halb Italien, bis er den ehemaligen Mister Universum ausfindig macht, der ihm den Glücksbringer einst geschenkt hat. Unterwegs schildern Covi und Frimmel in gewohnt dokumentarischen, aber nie zu distanzierten Bildern, wie der Dompteur zwischen Bangen und Hoffnungslosigkeit pendelt, denn Aberglaube ist ein gewichtiger Faktor im Zirkus. Die Welt außerhalb des Zirkuszelts ist ein Italien der Stadtränder und Peripherien, der Armut und des Chaos, und doch ist "Mister Universo" ein zutiefst optimistischer Film: Und zwar einer, der sich wundersamen Phänomenen verschreibt und wo sogar das Wasser bergauf fließen kann.
Aberglauben und Humor gibt es auch in "O Ornitólogo" des Portugiesen João Pedro Rodrigues über einen Vogelkundler, dessen Reise in die Wildnis auf ganz famos humorvolle Weise auch eine Reise zu sich selbst wird.

Matthias Greuling, Locarno


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