Donnerstag, 13. Februar 2014

Ganz Amerika in einem Film - Richard Linklater und BOYHOOD bei der Berlinale

Die "Boyhood"-Crew in Berlin (Foto: Katharina Sartena)
Berlinale-Chef Dieter Kosslick hat „Boyhood“, den neuen Film von Richard Linklater („Before Sunset“, „Before Sunrise“), sehr spät in diesem Wettbewerb programmiert: Erst am Donnerstag Abend feierte der Film Premiere - das bedeutet, dass Regisseur und Darsteller bei einer eventuellen Prämierung am Samstag vermutlich noch in Berlin weilen werden und man sie nicht erst extra einfliegen müsste.

Richard Linklater bei der Pressekonferenz (Foto: Katharina Sartena)
Kosslick scheint an den Film zu glauben. Tatsächlich spricht viel für einen der Hauptpreise für „Boyhood“: Linklaters Langzeitprojekt, das er seit 2002 dreht, kam nicht nur bei den Kritikern hervorragend an (es gab frenetischen Applaus), sondern auch beim Publikum: Linklater gelingt in 164 Minuten ein einnehmendes, berührendes Porträt des Erwachsenwerdens mit all seinen Unwegsamkeiten: Einmal pro Jahr traf er sich mit den immer gleichen Darstellern, um am Film weiterzudrehen - am Ende ergibt sich daraus das Abbild des Heranreifens der zwei Geschwister Mason (Ellar Coltrane) und Samantha (Linklater-Tochter Lorelei), ohne dass man die Darsteller hätte tauschen müssen - ein Erwachsenwerden in Echtzeit, sozusagen.
Das Ganze ist verpackt in eine Spielhandlung, die vom Volksschulalter bis zum Abschluss der Highschool reicht - mit allen Leiden und Freuden, die das Aufwachsen parat hält. Die erste Liebe, der Streit der geschiedenen Eltern (Patricia Arquette und Ethan Hawke), gemeinsame Wochenendausflüge, die Abnabelung von Zuhause. Linklater beweist viel Fingerspitzengefühl in der Beschreibung der Jugendzeit, und reflektiert zugleich auch die Sicht der Erwachsenen, die sich dem alltäglichen Kampf um Beziehung, Job und Karriere stellen.
Das alles wäre natürlich noch kein filmisches Kunststück, sondern zeugt von guter Handwerkskunst in der Koordination und Continuity der Dreharbeiten. Trotz der langen Drehzeit mit je einem Jahr Pause dazwischen wirkt „Boyhood“ stilistisch und optisch wie aus einem Guss.
Die wahre Leistung dieses stets unterhaltsamen Films ist aber, dass Linklater ganz nebenbei auch einen Spiegel der US-Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen entwirft: Es gibt die typischen All-American Homes, in denen der Großteil der Handlung spielt, mit großen Küchen, großem Garten, eventuell Pool. Es gibt die getrennten Paare, die die Narben ihrer Beziehungen mit neuen Partnern und Stress im Job zu betäuben suchen. Am Wochenende fährt Daddy mit den Kids zum Camping oder geht ins Stadion zu einem Baseball-Spiel. Morgens isst man Erdnussbutter-Sandwiches, und es ist obligatorisch, dass Mason zum 15. Geburtstag vom Opa ein Gewehr bekommt. Schließlich spielt der Film in Texas.
Patricia Arquette (Foto: Katharina Sartena)
Zwischen diesem scheinbaren Zelebrieren des US-Lebensgefühls fügt Linklater auch politische Töne ein: Er erteilt Bush eine Abfuhr (Masons Vater sagt 2004 zu seinen Kindern: „Wen soll man wählen? Egal, Hauptsache nicht George W. Bush“) und feiert 2008 Obamas Triumph: Gemeinsam mit seinen Kindern platziert Daddy Obama-Schilder in den Vorgärten der Nachbarschaft und entfernt kurzerhand eines von Konkurrent John McCain.
„Boyhood“ zeigt derlei Stimmungsbilder mit einer beiläufigen Leichtigkeit und ist gerade deshalb eines der vielleicht intensivsten Amerika-Porträts seit vielen Jahren. Sein Verdienst ist es, das Lebensgefühl einer Nation, die sich als einzige Weltmacht zementiert sieht, in all seiner Banalität freizulegen und das ganz ohne Ressentiments. Linklater liebt sein Land und hat gerade deshalb einen so ehrlichen Film gemacht. Dieser Mut sollte am Samstag mit einem Bären belohnt werden.

Matthias Greuling, Berlin

Dieser Beitrag erschien auch in der Wiener Zeitung

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