Richard Linklater stand die Enttäuschung ins Gesicht
geschrieben: Für seinen Film „Boyhood“ (ausführliche Kritik hier) erhielt er
zwar hochverdient den Silbernen Bären als bester Regisseur, jedoch hatte man
nach dem ersten Presse-Screening des Films nur mehr noch ihn auf der Liste für
den Goldenen Bären, den Hauptpreis der 64. Berlinale. Aber die Jury hat ihre
Eigenwilligkeit unterstrichen und mehrere Preise, darunter eben auch den
Hauptpreis, an das asiatische Kino vergeben. Dort ist im Moment am meisten „los“,
es ist ein boomender Kinomarkt und die Produktionen werden einerseits
mehrheitsfähiger, andererseits zahlreicher und dadurch differenzierter.
"Bai ri yan huo" (Schwarze Kphle, dünnes Eis) von Yinan Diao. (Foto: Berlinale) |
Und noch zwei Preise gingen nach Asien: Der Preis für die
beste Kamera für Jian Zeng und das Drama „Tui Na“ (China), sowie der
Schauspielerinnen-Preis an Haru Kuroki in „Chiisai Ouchi” (The Little House)
von Yoji Yamada (Japan).
Der Verwunderung nicht genug, vergab die Jury rund um ihren
Präsidenten, den Produzenten und Drehbuchautor James Schamus, den
Alfred-Bauer-Preis für innovatives, zukunftsweisendes Kino ausgerechnet an
Alain Resnais‘ Arbeit „Aimer, boire et chanter“. Der 92-jährige Regisseur
zeigte damit allerdings mehr Stillstand als Innovation: Seit vielen Jahren sind
seine Dramen theatralische Sprechstücke, zwar von hoher Qualität, aber weit
entfernt vom Begriff „Zukunftsweisend“. „Aimer, boire et chanter“ macht da
keine Ausnahme.
Neben Linklaters Regiepreis ist auch der große Preis der
Jury als eine Art Trostpreis zu werten: Wes Anderson wurde für seinen
stilistisch einfallsreichen, wenngleich auch stringent statischen
Eröffnungsfilm „Grand Budapest Hotel“ in Abwesenheit ausgezeichnet. Viele
hätten auch in ihm einen Bären-Kandidaten gesehen. Keinen vom Format von „Boyhood“
zwar, denn der hatte nun wirklich alle beglückt: Arthaus-Fans,
Unterhaltungsliebhaber, Kunstkritiker, ja sogar fast die gesamte deutsche und
österreichische Filmkritik.
Für das deutsche Kino gab es nur einen Preis, obwohl vier
deutsche (und überwiegend durchschnittliche) Filme im Bewerb standen. „Kreuzweg“
bekam den Bären fürs beste Drehbuch, das die Geschwister Anna und Dietrich
Brüggemann verfassten; sie erzählen eine in nur 14 Einstellungen gedrehte
Geschichte, in der ein 14-jähriges Mädchen unter der streng und fanatisch religiösen
Erziehung der Eltern leidet. Und weil es um die Pius-Bruderschaft geht, die
kirchenintern als Ultra-Hardliner gilt, fand das auch die Ökumenische Jury gut
und verlieh dem Film ihren Preis.
Der österreichische Wettbewerbsbeitrag „Macondo“ über das
Schicksal eines tschetschenischen Flüchtlingsbuben in Wien-Simmering,
inszeniert von Sudabeh Mortezai, begeisterte die Jury nicht und blieb ohne
Preis. Sozialpolitische Stoffe, wie es sie bei den Berlinale-Preisträgern immer wieder gibt, hatten in diesem Jahr keine
Chance.
Das ist grundsätzlich ein gutes Zeichen – nicht immer muss
man sperriges Sozial-Kino für preiswürdig befinden, nur weil der Film ein wichtiges
Anliegen vertritt, die Qualität aber nicht entspricht. Obwohl genau das das
Markenzeichen der letzten Dekade der Berlinale gewesen ist, hat man sich nun
deutlich davon distanziert: Allerdings mit der Prämierung der falschen Filme.
Denn Linklaters „Boyhood“ zeigte eindrucksvoll, dass sozial- und
gesellschaftspolitisch relevantes Kino durchaus mit zugänglicher, aber zugleich
sinnlich-anspruchsvoller Erzählung vereinbar ist. „Boyhood“ ist eindeutig der
Goldene Bär der Herzen.
Matthias Greuling, Berlin
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