Berlinale-Chef
Dieter Kosslick hat „Boyhood“, den neuen Film von Richard Linklater („Before
Sunset“, „Before Sunrise“), sehr spät in diesem Wettbewerb programmiert: Erst
am Donnerstag Abend feierte der Film Premiere - das bedeutet, dass Regisseur
und Darsteller bei einer eventuellen Prämierung am Samstag vermutlich noch in
Berlin weilen werden und man sie nicht erst extra einfliegen müsste.
Richard Linklater bei der Pressekonferenz (Foto: Katharina Sartena) |
Kosslick
scheint an den Film zu glauben. Tatsächlich spricht viel für einen der
Hauptpreise für „Boyhood“: Linklaters Langzeitprojekt, das er seit 2002 dreht,
kam nicht nur bei den Kritikern hervorragend an (es gab frenetischen Applaus),
sondern auch beim Publikum: Linklater gelingt in 164 Minuten ein einnehmendes,
berührendes Porträt des Erwachsenwerdens mit all seinen Unwegsamkeiten: Einmal
pro Jahr traf er sich mit den immer gleichen Darstellern, um am Film
weiterzudrehen - am Ende ergibt sich daraus das Abbild des Heranreifens der
zwei Geschwister Mason (Ellar Coltrane) und Samantha (Linklater-Tochter
Lorelei), ohne dass man die Darsteller hätte tauschen müssen - ein
Erwachsenwerden in Echtzeit, sozusagen.
Das Ganze
ist verpackt in eine Spielhandlung, die vom Volksschulalter bis zum Abschluss
der Highschool reicht - mit allen Leiden und Freuden, die das Aufwachsen parat
hält. Die erste Liebe, der Streit der geschiedenen Eltern (Patricia Arquette
und Ethan Hawke), gemeinsame Wochenendausflüge, die Abnabelung von Zuhause.
Linklater beweist viel Fingerspitzengefühl in der Beschreibung der Jugendzeit,
und reflektiert zugleich auch die Sicht der Erwachsenen, die sich dem
alltäglichen Kampf um Beziehung, Job und Karriere stellen.
Das alles
wäre natürlich noch kein filmisches Kunststück, sondern zeugt von guter
Handwerkskunst in der Koordination und Continuity der Dreharbeiten. Trotz der
langen Drehzeit mit je einem Jahr Pause dazwischen wirkt „Boyhood“ stilistisch
und optisch wie aus einem Guss.
Die wahre
Leistung dieses stets unterhaltsamen Films ist aber, dass Linklater ganz
nebenbei auch einen Spiegel der US-Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen
entwirft: Es gibt die typischen All-American Homes, in denen der Großteil der
Handlung spielt, mit großen Küchen, großem Garten, eventuell Pool. Es gibt die
getrennten Paare, die die Narben ihrer Beziehungen mit neuen Partnern und
Stress im Job zu betäuben suchen. Am Wochenende fährt Daddy mit den Kids zum
Camping oder geht ins Stadion zu einem Baseball-Spiel. Morgens isst man
Erdnussbutter-Sandwiches, und es ist obligatorisch, dass Mason zum 15.
Geburtstag vom Opa ein Gewehr bekommt. Schließlich spielt der Film in Texas.
Patricia Arquette (Foto: Katharina Sartena) |
Zwischen
diesem scheinbaren Zelebrieren des US-Lebensgefühls fügt Linklater auch politische
Töne ein: Er erteilt Bush eine Abfuhr (Masons Vater sagt 2004 zu seinen
Kindern: „Wen soll man wählen? Egal, Hauptsache nicht George W. Bush“) und
feiert 2008 Obamas Triumph: Gemeinsam mit seinen Kindern platziert Daddy
Obama-Schilder in den Vorgärten der Nachbarschaft und entfernt kurzerhand eines
von Konkurrent John McCain.
„Boyhood“
zeigt derlei Stimmungsbilder mit einer beiläufigen Leichtigkeit und ist gerade
deshalb eines der vielleicht intensivsten Amerika-Porträts seit vielen Jahren.
Sein Verdienst ist es, das Lebensgefühl einer Nation, die sich als einzige
Weltmacht zementiert sieht, in all seiner Banalität freizulegen und das ganz
ohne Ressentiments. Linklater liebt sein Land und hat gerade deshalb einen so
ehrlichen Film gemacht. Dieser Mut sollte am Samstag mit einem Bären belohnt
werden.
Matthias Greuling, Berlin
Dieser Beitrag erschien auch in der Wiener Zeitung
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