Donnerstag, 23. Oktober 2014

Kinoheißhunger: Viennale 2014 eröffnet mit Jessica Hausners "Amour Fou"

Mit viel heimischer Prominenz wurde am Donnerstag Abend im Wiener Gartenbaukino die Viennale eröffnet - und kritische Worte über kleinkarierte Kulturstreitereien gab es auch.
Jessica Hausner (links) und ihre Schauspieler Christian Friedel
und Birte Schnöink stellten "Amour Fou" bereits beim Filmfestival in Cannes vor.
Nach vielen Jahren wurde die Viennale wieder einmal mit einem
österreichischen Film eröffnet. (Foto: Katharina Sartena)
Von einer „Spar-Viennale“ war die Rede, als Hans Hurch kürzlich zugab, dass Viggo Mortensen, sein Wunsch-Gast für 2014, der Filmschau leider doch fernbleiben würde. Kein Stargast, keine Gala, so mancher Glossist verortete gar schon eine Viennale in der Krise.
Davon konnte am Donnerstag Abend im Wiener Gartenbaukino (und beim anschließenden Empfang des Bürgermeisters im Wiener Rathaus mit dem obligatorisch üppigen Buffet) allerdings keine Rede sein - so schwachbrüstig war die Gästeliste an diesem Abend nämlich nicht, auch, wenn sich vorwiegend heimische Prominenz die Ehre gab. 
Karl Markovics ist nicht nur "Viennale-Fan, sondern
mag auch Jessica Hausners Arbeiten sehr gern". (Foto: Katharina Sartena)

Bei windig-frischen Temperaturen gab es im Foyer des Gartenbaukinos dann die bekannten Backofentemperaturen, doch der guten Laune tat das keinen Abbruch: Das Team des Eröffnungsfilms „Amour Fou“ - Regisseurin Jessica Hausner sowie ihr Kameramann Martin Gschlacht und die beiden Hauptdarsteller Christian Friedel und Birte Schnöink - ließ sich beklatschen, und auch ein gut gelaunter Oscar-Gewinner und einstiger Hausner-Lehrer Michael Haneke wollte sich mitsamt Gattin Susi die Premiere von „Amour Fou“ nicht entgehen lassen. Auch Theaterlegende Erni Mangold besuchte das Kino, ebenso wie der iranische (aber in Paris lebende) Regie-Star Abbas Kiarostami, dessen Arbeiten Hausner sehr inspiriert haben sollen.
Stolz und fröhlich auch die Hanekes: Susi und Michael kamen,
um "Amour Fou" zu sehen. Jessica Hausner war einst Schülerin
bei Haneke an der Filmakademie. (Foto: Katharina Sartena)
Auch ganz neugierig auf den Spielfilm, der seine Weltpremiere heuer in Cannes hatte und am 7. November regulär in die Kinos kommt, waren Schauspieler und Regisseur Karl Markovics, Schauspielerin Michou Friesz, zusammen gesehen mit Enfant terrible Paulus Manker, der auch weniger grimmig dreinschaute als üblich. Irgendetwas, das steht fest, muss da die Stimmung der Viennale-Gäste gehörig angefeuert haben, bei so viel strahlenden Gesichtern trotz so miserablem Wetter.
Überraschend fröhlich zeigte sich Paulus Manker, wahrscheinlich
 hatte Schauspielerin Michou Friesz eine gute Pointe für ihn. (Foto: K. Sartena)
Vielleicht  war es einfach die Vorfreude auf die zu erwartende hohe Qualität, die für Freude sorgte: Hausners Film - obwohl ein Stück über die Todessehnsucht und den Doppel-Selbstmord von Heinrich von Kleist und seiner Partnerin - ist bis in jede Ritze von humoriger Feinsinnigkeit und hält für jene, die sich auf den Film einlassen, viele cineastische Glücksmomente bereit.
Der Run, der seit Tagen auf die Viennale-Vorverkaufsstellen stattfindet, zauberte wiederum ein Lächeln auf die Gesichter der Veranstalter und Förderer. „Die Frage, wozu die Viennale, erübrigt sich“, formulierte es Wiens Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny. „Die Antwort lautet nämlich: Weil das Publikum die Filme stürmt“. Kinoheißhunger könnte man das nennen, aber einer, der hinterher keine Übelkeit verursacht.
Angenehm, dass die kürzlich aufgeflammte Debatte um die Frage, ob Wien neben dem Filmmuseum ein zweites Kinokulturhaus (das neu renovierte Metrokino) verträgt, diesmal nur am Rande zur Sprache kam. Es sei eine „entbehrliche“ Debatte, befand Mailath-Pokorny, der allen „Grabenkämpfen“ in der Filmszene eine Absage erteilte. Für Festivalchef Hans Hurch, der in einer „Falter“-Wutrede eine Lanze für den Betreiber des Metrokinos, das Filmarchiv Austria,  brach, das seit jeher im Clinch mit dem Filmmuseum liegt, wäre eine „Diskussion über Kunst, die von Kalkül und Intrigen absieht“, wünschenswert. Es solle wieder mehr um die Sache gehen, nicht um den Kleinkrieg zwischen kulturellen Institutionen und ihren Anhängern.

Hans Hurch (links) mit Überraschungsgast Abbas Kiarostami.
Der Iraner gilt als Superstar des Kunstfilms und war für Jessica Hausner
 "die größte Inspiration". (Foto: Katharina Sartena)
Debatten also, gut 14 Tage vollgestopft mit vielen Filmen, und viele Stars beim Auftakt. Nur ein Star ist dieses Jahr nicht gekommen: Eric Pleskow, Hollywood-Produzentenlegende und als Präsident der Viennale bislang jedes Jahr über den großen Teich in seine Geburtsstadt Wien eingeflogen. Diesmal sei er „nicht so fit, dass er persönlich kommen könnte“, erzählte Mailath-Pokorny. Der Mann ist immerhin 90, und als Dank taufte die Viennale den neuen, zweiten Saal im frisch renovierten Metrokino nach ihm. Eric Pleskow schickte einen Brief. „Die Viennale mit einem Film über einen todessehnsüchtigen Dichter zu beginnen, der dann in einem Doppelselbstmord endet, das ist irgendwie typisch Hurch“, schrieb er. Und weiter: „Es gibt mich noch. I’ll be back! Ich habe vor, noch ein paar Jährchen auf dieser Welt zu bleiben“, so Pleskow. Wenn das kein Versprechen ist. Allerdings eines mit einem gewichtigen Antrieb für Pleskow. „Schließlich“, so schloss er, „möchte ich einmal in jenem Kinosaal sitzen, der nach mir benannt wurde“. 
Matthias Greuling

Dieser Beitrag erschien auch in der Wiener Zeitung

Samstag, 6. September 2014

Roy Andersson: Schwedische Taube holt Goldenen Löwen

Über die Leiden des Filmfestivals von Venedig ist schon viel geschrieben worden: Von seiner schwindenden Bedeutung im Schatten Torontos, der fehlenden Infrastruktur auf dem Lido von Venedig, von ausbleibenden Stars und dem allerorts präsenten Verfall beim ältesten Filmfestival der Welt.
Gewinner: Roy Andersson (Foto: Katharina Sartena)
In diesem Jahr aber war alles ein bisschen anders: Die Filmschau, in den letzten Jahren zu einer Karikatur ihrer selbst erstarrt, musste erst 71 werden, um wieder kräftige Lebenszeichen von sich zu geben. Normalerweise trumpft man ja zu runden Jubiläen mit Frischzellenkuren auf, aber Italien ist eben ein bisschen anders. Alberto Barbera, der Direktor der Filmfestspiele, hat ein wirklich rundes Wettbewerbsprogramm zusammengetragen, in dem es eigentlich keine wirklichen Tiefpunkte gab. Barbera hat sogar etwas Geld in die Hand genommen und die repräsentativsten Kinosäle des Lido renovieren lassen. Die Baugrube, wo einst ein neuer, 100 Millionen Euro teurer Stahl-Glas-Komplex den unter Mussolini erbauten Palazzo del Cinema ersetzen sollte, ist immer noch da, aber mit sechs Millionen an Investitionen ist zumindest die Plane rundherum dicht genug, damit man das brachliegende Elend nicht sehen muss.
Dass dann die Jury unter Führung des Filmkomponisten Alexandre Desplat (und unter Mitwirkung der Wiener Regisseurin Jessica Hausner) bei der Vergabe des Hauptpreises darauf verzichtete, die politisch korrekte Entscheidung zu treffen, spricht auch für eine Neupositionierung (oder Beharrung) des Festivals: Nicht etwa die Doku „The Look of Silence“ von Joshua Oppenheimer holte den Goldenen Löwen, sondern den Großen Preis der Jury; Oppenheimer geht in seiner hervorragenden Doku wie schon in „The Act of Killing“ den Massenmördern des Genozids in Indonesien 1965/66 nach und forscht an diesem bis heute nicht aufgearbeiteten Trauma.
Doch die Jury wollte sich von der Filmkunst an sich inspirieren lassen und zeichnete (hochverdient) den Schweden Roy Andersson mit dem Goldenen Löwen aus. Schließlich geht es bei dieser „Mostra d’Arte Cinematografica“ - wie ihr Name schon sagt - um die Kunst, und nicht nur um politisch motiviertes Kino. Dabei ist Anderssons „A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence“ (etwa „Eine Taube saß auf einem Zweig und dachte über das Leben nach“) neben seiner schrullig-lakonischen Erzählweise auch eine Aphorismensammlung über das Leben an sich - und schon allein deshalb hochpolitisch.
Komik und Tragik liegen in diesem wunderbaren Film ganz nahe beieinander, wie im echten Leben auch. Stilistisch entrückt Andersson seine Geschichte aber in ein statisches Skurrilitäten-Universum ohne Entsprechung.
Andersson folgt zwei Scherzartikel-Vertretern durch Göteborg, die in lustlosen Verkaufsgesprächen eher Begräbnis- als Party-Stimmung verbreiten. Sie haben ein Dracula-Gebiss im Sortiment, eine gruselige Gummimaske und natürlich einen Lachsack. Sie verbinden sketchartige Miniaturen, die sich sehr langsam zu einem Ganzen fügen. Eine tragikomische Versuchsanordnung über das Leben und den Tod, das letztlich die bekannte Moral vertritt, dass das eine ohne dem anderen nicht denkbar wäre.

Dass am Lido wieder die Filmkunst gefeiert werden darf, zeigt auch der Regiepreis für den Russen Andrej Kontschalowski: Der hat in „The Postman’s White Nights“ eine ähnlich absurde Ausgangslage wie Andersson: Er erzählt von einem Postler, der im Norden Russlands in großen Seengebieten die einsam versprengten Einwohner mit Briefen und allem Lebensnotwendigen versorgt. Eine stille Kontemplation karger Existenzen, in deren Alltag es aber trotzdem so etwas wie Humor und Lebensbejahung gibt: In grandiosen Bildern und mit Laiendarstellern, die allesamt sich selbst spielen, zeigt Kontschalowski, dass das Leben im Abseits keineswegs eine Entbehrung sein muss. Es kommt nur darauf an, wie man Entbehrung definiert. Schon allein deshalb waren die 71. Filmfestspiele am Lido von Venedig ihre vielen Unwegsamkeiten wert: Wo bekommt man heute in all der Hektik noch zu sehen, wie fabelhaft einfach der Anspruch an Erfüllung sein kann?
Matthias Greuling, Venedig

(Dieser Beitrag ist auch in der Furche erschienen)

Freitag, 5. September 2014

Pasolini: Abel Ferraras spätes Meisterstück

Das letzte Interview seines Lebens gab er am Tage seines Todes. Pier Paolo Pasolini, italienischer Dichter, Filmemacher, Denker und ja, in seinen Schriften auch: (politischer) Aktivist. In der Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen des Jahres 1975 wurde Pasolini brutal ermordet; seine Leiche fand man am Strand von Ostia, vor den Toren Roms. Viele Mythen ranken sich um sein Ableben, und doch: Die unbewiesenen Verschwörungstheorien, die hinter seinem Tod einen Auftragsmord vermuteten, sind berechtigt, weil Pasolini kurz zuvor noch über eine Verstrickung des italienischen Staates in Terroranschläge recherchierte und dazu auch öffentlich den Mund aufmachte.

Willem Dafoe mit Abel Ferrara (Foto: Katharina Sartena)
Bei Regisseur Abel Ferrara ist alles banaler: Da fuhr Pasolini mit einem jungen Stricher in seinem Alfa 2000 GT an den Strand. Dort wollte er Sex mit ihm haben, aber eine zufällig vorbeikommende Gang beschloss, auf die "dreckige Schwuchtel" einzudreschen und sie anschließend mit ihrem Alfa zu überrollen.

"Wir sind alle in Gefahr"

Doch gar so banal ist dieser Film nicht: Vieles, was Abel Ferrara in "Pasolini" zwischen den Zeilen versteckt, muss erst gefunden werden. Kaum ein Film schied am Lido so sehr die Geister wie dieser: Von oberflächlicher Inhaltslosigkeit sprachen die einen, von einem Meisterwerk der Poesie die anderen. Wir gehören eher zu den Letzteren: "Pasolini" ist nicht nur eine Chronologie des letzten Tages im Leben seines titelgebenden Protagonisten (apathisch, nachdenklich und kämpferisch dargestellt von Willem Dafoe), sondern auch der metaphernschwangere Versuch, sich diesem Künstler anzunähern, seine Welt(bilder) zu verstehen, die (nicht nur) im Italien der 70er Jahre angeeckt haben mussten. Ein scheinbar furchtloser Intellektueller, der sich bei den einfachen Menschen auf der Straße wohler fühlte als in den Kreisen der von ihm verhassten Bourgeoisie. Pasolini, der Aufgeklärte, der Journalisten mit einer gewissen Schulmeisterlichkeit gerne seine Ideen vom gesellschaftlichen Zusammenleben diktierte, zugleich auch vor dem drohenden Untergang warnte. Dem Journalisten seines letzten Interviews verordnete er die Artikel-Überschrift: "Schreiben Sie, ‚Wir sind alle in Gefahr‘."
"Pasolini" ist auch deshalb ein Meisterwerk, weil Ferrara ganz assoziativ mit seinem Protagonisten umgeht: Da wird das tägliche Wecken durch Pasolinis Mutter mit seinen intellektuellen Ideen von einer idealen Gesellschaft konterkariert, da folgt einer Diskussion über die Pläne für seinen nächsten, ungedrehten Film (den Ferrara dann als Film im Film mit Pasolinis zeitweiligem Lebenspartner Ninetto Davoli inszeniert) ganz selbstverständlich eine Szene in einer Schwulenbar.
Wenn "Pasolini" in Venedig am Samstagabend leer ausgeht, muss an der Dramaturgie solcher kultureller Großevents zu zweifeln begonnen werden: Natürlich eignet sich kein Platz der Welt besser für ein "Pasolini"-Biopic, das die letzten Stunden seines Lebens nachzeichnet, und darin aber doch sein ganzes Leben subsumiert. Welch Bildnis gäbe das: Der schwule Linke Pasolini, ermordet von rechten Homophoben, ausgezeichnet an einem Festival, das die Faschisten erfanden?

Russischer Alltag

Doch auch sonst zeigte sich der Wettbewerb überraschend stark: Alberto Barbera hat, allen Unkenrufen zum Trotz, ein stimmiges Programm aufgestellt, in dem es wenige echte Tiefpunkte gab. Erst spät in diesem Wettbewerb war die brillante Tragikomödie "A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence" zu sehen, der Schwede Roy Andersson hätte sich dafür mindestens den Regiepreis verdient, so verschroben lakonisch und sympathisch zeigt sich seine filmische Lebenssinnsuche. Auch der Russe Andrej Koncaloskij zeichnet einen Lebensalltag in Nordrussland in "The Postman’s White Nights" als Quasi-Komödie der Einsamkeit: Ein Postler liefert mit seinem Schnellboot die wenigen Poststücke und Zeitungen aus, die in dieser Einöde auf ihre Empfänger warten. Koncaloskij zeigt dabei in grandiosen Bildern ein Russland örtlicher, aber auch mentaler Distanzen. Der Chinese Wang Xiaoshuai wiederum erzählt in "Red Amnesia" im Stil eines Thrillers, wie eine ältere Dame in Peking zunächst scheinbares Opfer seltsamer Attacken wird, ehe man herausfindet, dass alles Lüge ist. Andrew Niccol zeigt in "Good Kill" Ethan Hawke als desillusionierten Ex-Armee-Flieger, der von einem Container in Nevada aus Drohnen steuert und in Afghanistan potenzielle Terroristen abschießt. Niccol erzählt mit den allzu glatten Mitteln des Blockbusterkinos, doch gerade dadurch wird dieser Film zu einer zugänglichen Anklageschrift gegen eine Nation, die den Kampf gegen den Terror längst selbst mit Terror führt.

Und dann war da noch Joshua Oppenheimers herausragende Doku "The Look of Silence" über die Täter des Genozids in Indonesien. Relevanter kann dokumentarisches Kino kaum sein. Es hätte wohl auch Pasolini gefallen.
Matthias Greuling, Venedig

Dienstag, 2. September 2014

Roy Andersson ist Favorit / Venedig 2014

Ist es Komödie, ist es Tragödie? So genau weiß man das bei „A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence“ (etwa „Eine Taube saß auf einem Zweig und dachte über das Leben nach“) des schwedischen Regisseurs Roy Andersson nicht. Sicher ist nur: Vieles in diesem Wettbewerbsbeitrag, das komisch sein könnte, ist zum Weinen, vieles, das uns trübe stimmen sollte, bringt zum Lachen. Und nach der Pressevorstellung am Dienstag in Venedig wusste man nicht nur, dass damit der Wettbewerb zur Hälfte des Festivals durchwegs anzog, sondern auch, dass es jetzt einen echten Favoriten gab. 
Roy Andersson (Mitte) mit seinen Darstellern. (Foto: Katharina Sartena)
Roy Andersson vollendet mit seinem neuen Film „eine Trilogie darüber, was es heißt, ein Mensch zu sein“, wie er im Vorspann betont. Der Regisseur hatte seine filmischen Tableaus bereits in „Songs from the Second Floor“ und „You, the Living“ als ziemlich unverwechselbar in der Arthaus-Szene etabliert, und mit „A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence“ setzt er seinem schnoddrigen Mix aus Stillleben und Nummernrevue die Krone auf. 
Andersson folgt zwei Handels-Vertretern durch Göteborg, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, ihren Kunden mit ihren Produkten zu „helfen, ein bisschen Spaß zu haben“, die ihre Verkaufsgespräche in stets entfärbtem Dekor aber so lakonisch und ernst vortragen, als seien sie auf einem Begräbnis. Sie bieten Dracula-Gebisse mit extra langen Zähnen feil, einen Lachsack haben sie auch im Programm, und eine gruselige Gummi-Maske. Die beiden dienen Andersson als Verbindungsglied zwischen seinen beinahe schon sketchartigen Miniaturen, die sich sehr langsam zu einem Ganzen fügen. Wenn zu Beginn ein Mann durch ein naturhistorisches Museum von Exponat zu Exponat wandert, so gibt das die Struktur des folgenden Films vor: Der Zuschauer wird die kommenden 100 Minuten das gleiche tun. „A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence“ hat 39 Szenen, also 39 Exponate. „Meine Ambition war es, dass jede dieser Szenen dem Publikum eine künstlerische Erfahrung bieten kann“, sagt Andersson.

Anderssons tragikomische Versuchsanordnung über das Leben und seine absurden Momente, über Stillstand und über den Tod ist dank seiner visuellen Umsetzung auch ein Forschungsobjekt am Menschsein: Die statische Kamera kommt nie näher als drei, vier Meter an die Protagonisten heran, man ist ihnen somit niemals zu nahe, kann sie dennoch eingehend observieren und hat auch den Eindruck, ein Gemälde zu betrachten. Andersson ließ sich für die Arbeit an seinem Film von Bildern von Otto Dix, Georg Scholz und Bruegel inspirieren. 
Innerhalb dieses Rahmens entwickelt Andersson eine komplexe, zugleich simpel wirkende Mise-en-scène, die stetig mit den Erwartungen des Zuschauers bricht und so trotz minutenlanger Einstellungen die Aufmerksamkeit erhält. „A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence“ gehört schon allein seiner Präzision wegen zu den stärksten Arbeiten dieses Festivals. Und auch inhaltlich: Was hier vor der Kamera passiert, ist so absurd, dass es keine Entsprechung kennt. Der Film hat außerdem eine Moral: Komödie und Tragödie, das lernen wir hier in diesem surrealen Setting, liegen manchmal nur Millimeter auseinander. Und dann sind wieder Kilometer dazwischen. Wie im echten Leben eben. 
Matthias Greuling, Venedig

Montag, 1. September 2014

Halbzeit beim Filmfestival Venedig: Fest der Spekulanten

“Was taugt der Wettbewerb bisher?”, fragt Benoît Jacquot zu Beginn des Interviews mit der “Wiener Zeitung”. Der französische Regisseur ist in Venedig mit seinem Liebesthriller “3 Coeurs” im Wettbewerb um den Goldenen Löwen vertreten. “Ich will Ihre Meinung hören, denn wenn der Wettbewerb insgesamt schwach ist, dann hat mein Film größere Chancen auf einen Preis”, schmunzelt Jacquot.
Ein Filmfestival ist immer auch ein Wettlauf um die goldenen Statuetten, um die Medienaufmerksamkeit und um die Präsenz, die Filme innerhalb des Festivals durch ihre Programmierung erhalten. Da können die idealistischen Gedanken vieler Filmemacher (“Filme sollten untereinander nicht konkurrieren”) getrost außen vor bleiben: Selbst im Arthaus- und Kunstfilm existiert ein Wettstreit darüber, wer den “besten” Film macht. Filme werden in den Kontext einer “Competition” gebracht, und verlieren damit den eigentlichen Sinn ihrer Entstehung: Um Geschichten zu erzählen, braucht es nämlich keine Awards, sondern Ideen.
Doch der Wettbewerbsgedanke ist so manchem Film in Venedig förmlich anzusehen: “Birdman”, mit dem hier eröffnet wurde, hat sich zur Aufgabe gemacht, die gestörte Schauspielerseele in fiebrigen, schwebenden Bildern einzufangen, und bietet am Ende doch nur eine gut konstruierte Startrampe ins Oscar-Rennen 2014 – vor allem für Michael Keaton und Edward Norton. Nicht viel anders ist das in Peter Bogdanovichs (erfrischender) Komödie “She’s Funny That Way” (außer Konkurrenz) mit Owen Wilson und Imogen Poots, die hier ungeniert, aber gelungen im cineastischen Fundus von Woody Allen wildert. Auch die beiden Filme mit Al Pacino, “The Humbling” von Barry Levinson und der Wettbewerbsbeitrag “Manglehorn” von David Gordon Green zielen letztlich auf die Oscars: Sie zeigen zwei solide Auftritte des Alt-Stars Pacino, auch, wenn die Filme drumherum überaus bemüht wirken.
Al Pacino, fotografiert von Katharina Sartena
Auch Fatih Akins neues Werk “The Cut” gehört in die Kategorie “bemüht”: Sein episch breit angelegtes Aufrollen des Völkermordes an den Armeniern im Jahr 1915 durch das Osmanische Reich (in der Türkei spricht man bis heute nicht von Völkermord) erschöpft sich in langen Wüsten-Überlebenskämpfen von vom Schicksal versprengten Existenzen, die trotz oder gerade wegen ihrer western-haften Machart am Thema vorbeischießen: Man spürt in jeder Einstellung die Last des gewichtigen Themas, die hier auf Akins Schultern gelegen haben muss.
“The Look of Silence” geht da ganz anders an ein ähnliches Thema heran. Der Film ist kompromissloses Forschungskino an der menschlichen Psyche: Joshua Oppenheimer hat ein “Sequel” zu “The Act of Killing” gedreht. Diesmal konfrontiert er eine Opferfamilie mit den Protagonisten des Genozids in Indonesien in den Jahren 1965/66. Die einstigen Massentötungen an “Kommunisten” sind auch nach 50 Jahren nicht aufgearbeitet, und die Täter können bis heute ihre Taten rechtfertigen – oder sie schweigen. Dieses Schweigen im Angesicht eines Verbrechens sorgte bislang für die stärksten Bilder dieses Festivals. 
Mit starken Bildern arbeitet auch Ramin Bahranis “99 Homes”. Spiderman-Darsteller Andrew Garfield spielt darin einen Mann, der aus seinem Haus delogiert wird; Bahrani bricht die Immobilienkrise von 2008 auf ein Einzelschicksal herunter, die Abwärtsspirale im Leben des Protagonisten lässt sich nicht mehr stoppen. Es ist ein entrischer Film. 

Catherine Deneuve, fotografiert von Katharina Sartena
Im Verbund dieser bisherigen Arbeiten könnte Benoît Jacquot mit “3 Coeurs” tatsächlich gute Chancen haben: Jacquot erzählt die Geschichte zweier bourgeoiser Schwestern aus der Provinz, die sich in den selben Pariser Finanzbeamten verlieben. Jacquots Melodram ist ebenso ein cleveres Konstrukt: Charlotte Gainsbourg und Chiara Mastroianni sind die Schwestern, Catherine Deneuve spielt die Mutter der beiden (und ist die Mutter von Mastroianni), Benoît Poelvoorde den begehrten Mann. Schon zu Beginn wummert ein bedrohliches Streicher-Ensemble aus dem Off, was die Stimmung des Films vorgibt. Jacquot hat einen Liebes-Krimi erzählt, in dem man sich niemals wohlfühlt, dem man sich dank der Promi-Besetzung aber auch nur schwer entziehen kann. “3 Coeurs” als spekulativ besetzte Stilübung? Warum denn nicht? Machen ja alle so.
Matthias Greuling, Venedig


Dieser Text ist auch in der Wiener Zeitung erschienen.

Freitag, 29. August 2014

Ulrich Seidl IM KELLER beim Filmfestival Venedig: Hodenstrecker und Warzensauen

Wenn Herr Ochs einen Anruf am Handy kriegt, dann ertönt als Klingelton die Kennmelodie aus der "Deutschen Wochenschau" des Dritten Reiches. Sein Keller beherbergt einen Führer-Schrein mit allerlei feinsäuberlich drapierten einschlägigen Devotionalien. "In diesem Raum", sagt Ochs, "treffen wir uns eigentlich immer, der ist am gemütlichsten." Sein Führer-Porträt staubt er mit einem Wedel in Schwarz-Rot-Gold ab.
"Im Keller" von Ulrich Seidl (Foto: Stadtkino)

Es gibt noch mehr dieser feinsäuberlich versperrten Keller in Ulrich Seidls neuem Film: Der verkappte Opernsänger ("Ich hätte große Partien singen können, habe es aber nie probiert") entpuppt sich als Waffennarr, der am Schießstand unter Tage vom Ende der Burka träumt. Der Jäger, der stolz seine Trophäen - vom Bock bis zum Affen - zeigt und erzählt, wie er einem Freund ein "Wiener Schnitzel aus einer Warzensau" gemacht hat.

Die Caritas-Mitarbeiterin, die dominiert werden möchte und sich darob regelmäßig auspeitschen lässt - bevorzugt mit einem Beachball-Schläger. Der ist besonders schmerzhaft, "ein Kinderspielzeug vom Toys’r’us". Und den Nachtwächter des Burgtheaters, der als Sklave in einer Beziehung lebt, wo das Sauberlecken der Duschwand mit der Zunge noch zu den angenehmsten Tätigkeiten zählt. Er muss sonst nämlich noch die Genitalien seiner Herrin nach dem Urinieren säubern oder sich drei Kilogramm schwere Gewichte an den Hodensack montieren lassen. "Und jetzt mach den Abwasch", sagt seine Herrin.

Selbst nach Filmen wie "Tierische Liebe", "Hundstage" oder der "Paradies"-Trilogie gelingen Ulrich Seidl noch immer Bilder der Provokation, wie die Reaktionen beim Filmfestival Venedig zeigten. Jedoch ist sein Kino der scheinbaren Skurrilitäten an einem Punkt angekommen, an dem die schaurigsten Momente nicht mehr die sexuellen Praktiken oder die Verherrlichung von Gedankengut sind, sondern die, in denen dunkle Obsessionen gelebt werden: Eine Frau, die lebensechte Puppen im Keller hortet und liebkost, kann - auch, wenn sie erfunden ist - einem viel mehr Schrecken einjagen als der am Seil gespannte Penis eines SM-Sklaven. Der Horror ist dort, wo man ihn nicht sieht: im Kopf.

Ulrich Seidl im Interview. (Foto: Matthias Greuling)

Ich traf Ulrich Seidl in Venedig zum Interview:

Matthias Greuling: Herr Seidl, wieso finden die Freiheiten vieler Menschen scheinbar vorwiegend unter Tage statt?

Ulrich Seidl: Weil man im Keller intim sein kann, weil man dort so sein kann, wie man sein möchte. Der Keller ist uneinsehbar. Der Keller bietet die Möglichkeit, sich vor der Öffentlichkeit zu verstecken. Offensichtlich sind viele Menschen so angelegt, dass sie ihren Leidenschaften gerne im Keller frönen, um ungestört zu sein.

Woher stammt denn die Idee zu diesem Film?

Die Idee kam mir bei der Arbeit an meinem Film "Hundstage". Das geht schon sehr lange zurück. Ich habe damals im Zuge der Recherchen entdeckt, dass bei vielen Einfamilienhäusern der Österreicher die Kellerräumlichkeiten sehr großzügig angelegt waren, oft großzügiger als die Wohnräumlichkeiten. Das hat mich selbst erstaunt. Der Keller hat in unserem Bewusstsein und auch im Unterbewusstsein ganz bestimmte Bedeutungen, für jeden von uns.

Zum Beispiel?

Der Keller ist einerseits der Ort der Dunkelheit, der Ort der Angst. Wer geht schon gerne in den Keller, wo alles schwarz ist? Real war der Keller immer auch ein Ort des Missbrauchs, des Verbrechens, des Versteckens. Das Interesse für den Keller steckt tief in uns drinnen, auch und gerade, weil er unter der Erde liegt. Ich würde nicht sagen, dass das typisch österreichisch ist, denn wir wissen ja nicht, was es sonst noch in den Kellern dieser Welt gibt. Diese Fälle sind halt in Österreich ans Tageslicht gekommen, aber es ist durchaus denkbar, dass es in anderen Ländern ähnliche Verbrechen gibt.

Sie zeigen verschiedene Keller-Obsessionen, reißen einige aber nur an. Der Hobbyeisenbahner hat Sie nicht so sehr interessiert wie der Sado-Maso-Sklave.

Die Eisenbahnen im Keller werden weniger, sie sterben aus, weil Kinder sich heutzutage nicht mehr mit Eisenbahnen beschäftigen. Ich habe bewusst nach Abgründen gesucht und nicht nach Harmlosigkeiten. Sich mit einer Eisenbahn zu beschäftigen, gehört nicht zu den Abgründen.

Dann sprechen wir über den Prototypen vom "Kellernazi", den Sie auch zeigen. Wie bekamen Sie diesen Mann dazu, so offen von seiner Verehrung für Hitler zu sprechen?

Dieser Mann geht in seiner Ortschaft öffentlich damit um. Alle im Ort kennen ihn und wissen von diesem Keller. Der Film zeigt auch, dass die Mitglieder seiner Musikkapelle häufig in seinem Keller musizieren und auch gesellig beisammen sitzen. Er steht dazu, was er tut und denkt.

Müssen solche Protagonisten, etwa auch der SM-Sklave, der als Nachtwächter im Burgtheater arbeitet, nach diesem Film nicht um ihren Job bangen?

Ich kann das nicht sagen. Er muss sich dessen bewusst sein, dass seine Mitwirkung möglicherweise Probleme ergibt. In der SM-Szene habe ich besonders lange und gründlich recherchiert und viele Leute kennengelernt. Ich wollte aber Leute für den Film gewinnen, die ganz normalen Tätigkeiten nachgehen, und nicht jene, die die SM-Szene trendig finden und sich deshalb mit ihr befassen.

Der Mann aus dem Burgtheater hatte schließlich das größte Vertrauen in Sie?

Letztlich hat das seine Herrin entschieden. Sie hat gesagt: Das machen wir. Er hat da gar nicht so viel zu sagen, denke ich. Ich glaube, dieses Paar wollte die Gelegenheit nützen, das zu zeigen, was es lebt und wovon es überzeugt ist.

Eine der grusligsten Protagonistinnen des Films ist jene Frau, die im Keller in Schachteln ihre lebensechten Puppen lagert und sie täglich zum Streicheln besuchen geht.

Ja, das ist gruselig. Aber diese Episode ist eine Mischung aus Wahrheit und Fiktion. Es gibt diese Puppen, diese "Reborn Babies", die in Handarbeit hergestellt werden und mit denen unter dem Motto gehandelt wird: Wer hat die authentischsten Puppen? Dass die Frau diese Puppen in Schachteln verbirgt, ist eine fiktionale Geschichte. Da kann man vieles hineininterpretieren: Entweder geht es um gewünschte oder verlorene Kinder. Aber Babys im Keller lösen bei uns schon etwas aus. Man erinnere sich nur an den Fund von Embryonen in der Tiefkühltruhe.

Was haben Sie uns bei diesem Film vorenthalten? Gibt es Material, das Sie nicht zeigen wollten?

Die Schwierigkeit bei diesem Film war, Menschen zu finden, die bereit sind, ihre Abgründe zu zeigen. Wir suchten Leute, die einen besonderen Keller hatten. Wir hatten einen ziemlich großen Fundus. Ich habe mir dann die Keller angeschaut, die mich interessiert haben. Und ich kann heute sagen: Die Wirklichkeit ist viel ärger, als der Film sie zeigt. Ich habe Dinge gesehen, die ich niemals hätte filmen können.

Was ist eigentlich in Ihrem Keller?

In meinem Keller ist Wein.

Interview: Matthias Greuling

Dieser Beitrag ist auch in der "Wiener Zeitung" erschienen.

Mittwoch, 27. August 2014

Birdman in Venedig: Das Ego, eine Qual

Irgendwann in „Birdman“ dreht Riggan Thomson (Michael Keaton) in seiner Garderobe völlig durch und schlägt alles kurz und klein. Schminkkoffer fliegen, Spiegel klirren, Regale stürzen. Eine Stimme aus dem Off flüstert ihm allerlei Gewissensbisse zu, Riggan selbst hat gerade schlechte Kritiken einstecken müssen, und das ist das Schlimmste im Leben eines Schauspielers: Von der Presse geprügelt zu werden und darob am Ende in der Versenkung zu verschwinden.
Edward Norton (Foto: Katharina Sartena)
Dabei wollte Riggan doch nur sein Comeback an einer Broadway-Bühne feiern, mit einem von ihm bearbeiteten Stück, unter seiner Regie und mit ihm selbst in der Hauptrolle. Doch ein neues Ensemblemitglied (Edward Norton) erweist sich als egoistischer Selbstdarsteller und stiehlt Riggan die Show im eigenen Stück. 
Weil Riggan ohnehin ein gebrochener Schauspieler ist, der seit Jahren nicht von seiner Rolle als Actionheld „Birdman“ loskommt, verdichten sich hier seine Selbstzweifel und die stetig zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt wechselnden Stimmungen zu einem gefährlichen Cocktail aus Selbsthass und Zerstörungswut. Das eigene Ego ist die größte Qual.
Alejandro Gonzalez Inarritu („Amores Perros“, „Babel“) hat mit „Birdman“ (hier im Wettbewerb zu sehen) seine erste Komödie gemacht, wie er in Venedig betonte. „Ich dachte, es wäre nach all den Dramen einmal an der Zeit, am Set eines Filmes auch lachen zu dürfen“, so Inarritu in Venedig. Zugleich ist „Birdman“ aber auch eine millimetergenaue Untersuchung des Schauspieler-Selbstverständnisses zwischen Größenwahn und Wahnsinn. Selten hat ein Film so eindringlich vermittelt, was auf dem Weg von den ersten Proben bis zur Premiere im Inneren dieser sensibelsten aller Künstler vorzugehen scheint. Und das ist, wohlgemerkt, nicht zum Lachen.
Emma Stone (Foto: Katharina Sartena)
Mit ein Grund für diese eindringliche Analyse ist die Machart des Films. „Birdman“ sieht aus, als bestünde er aus nur einer einzigen Einstellung. Die stets entfesselte Steadycam fängt minutenlange Takes ein, die durch „unsichtbare“ Schnitte an wenig auffälligen Stellen verbunden wurden. „Das klingt vielleicht sehr simpel als Konzept“, gibt Inarritu zu. „Dem voraus gehen aber detaillierte, umfangreiche Proben, damit dann auch wirklich alles klappt, wenn die Kamera läuft“. Für Emma Stone, die im Film Michael Keatons Tochter spielt, „eine besondere Herausforderung, so lange Takes zu spielen. Ich würde den Film am liebsten gleich noch einmal drehen“, sagte sie. 
Michael Keaton und Edward Norton liefern sich sowohl auf der Broadway-Bühne als auch hinter deren Kulissen oscarreife Schlagabtäusche, sodass man sicher sein darf: diese beiden werden bei den Academy Awards 2015 nicht unberücksichtigt bleiben. Vor allem für Keaton ist der Riggan Thomson aus „Birdman“ auch eine selbstironische Rolle: Keaton hatte 1989 und 1992 in Tim Burtons beiden Batman-Verfilmungen den Superhelden gespielt. „Auch an mir haftete diese Rolle sehr lange“, sagte Keaton. „Aber ich konnte damit umgehen. Und schließlich waren diese Filme damals quasi die Blaupause für heutige Superhelden-Movies“. Keaton war darin – anders als sein unglücklicher Held „Birdman“ – ein vielschichtiger Charakter und wurde zu einer Ikone der Popkultur. Das von sich zu behaupten, wäre nicht einmal egoistisch. 

Matthias Greuling, Venedig

Samstag, 16. August 2014

Locarno: Lav Diaz erhält Goldenen Leoparden

In Locarno gewinnt die Entschleunigung: Lav Diaz‘ 338 Minuten langer Film „Mula sa kung ano ang noon“ erhielt den Goldenen Leoparden

"Mula sa kung ano ang noon" von Lav Diaz (Foto: Festival Locarno)
Eine Frau fährt auf einem Fluss in einem einfachen Boot. Es treibt langsam den Flusslauf hinab, die Frau macht einen unglücklichen Eindruck. Minutenlang verharrt die Kamera auf ihr, das schwarzweiße Bild bekommt dadurch etwas Monumentales, obwohl es keine Monumente abbildet.
Wie alles in „Mula sa kung ano ang noon“ ist auch diese Szene geprägt von einer unheilvollen Vorahnung: Regisseur Lav Diaz wurde für sein 338 Minuten langes Klage-Epos soeben in Locarno mit dem Hauptpreis, dem Goldenen Leoparden, ausgezeichnet. Für einen Film, der Historisches verhandelt, aber auch eine Zustandsbeschreibung des menschlichen Daseins an sich ist.
Die Handlung spielt 1972 auf den Philippinen. Geschlachtete Kühe säumen den Weg, blutüberströmte Leichen allerorten, brennende Häuser. Das Land steht kurz vor der Diktatur: Ferdinand Marcos putschte sich damals mit Bombenterror und Repressalien an die Macht, verhaftete Oppositionelle und erklärte im September 1972 das Kriegsrecht. Just jene Zeit untersucht Lav Diaz in ruhigen, schwarzweißen Bildern, die das Unheil zum Teil vorausahnen lassen, zum Teil schon in aller Brutalität abbilden.
„Der Film basiert auf meinen Erinnerungen an meine Kindheit“, sagt Regisseur Lav Diaz. „Es geht um die zwei Jahre, bevor das Kriegsrecht auf den Philippinen deklariert wurde. Diese Zeit markierte die dunkelste Stunde in der Geschichte meiner Heimat. Alles in dem Film schöpfe ich aus Erinnerungen, alle Figuren sind echt, alle Bilder habe ich so oder ähnlich miterlebt“.
Die Jury von Locarno hat somit nicht nur ein gesellschaftlich relevantes, sehr persönliches Filmkunstwerk prämiert, sondern auch eines der Langsamkeit: Die 338 Minuten Spielzeit erfordern Sitzfleisch, dennoch erweist sich „Mula sa kung ano ang noon“ aber als überaus zugänglich. Ein Sieg der Entschleunigung in einer immer schneller werdenden Medienwelt.
Zu den weiteren Preisträgern beim 67. Filmfestival von Locarno gehören der Portugiese Pedro Costa (Regiepreis für seinen Film „Cavalo Dinheiro“) sowie der US-Amerikaner Alex Ross Perry (Spezialpreis der Jury für „Listen Up Philip“).

Matthias Greuling, Locarno


Alle Preisträger unter www.pardo.ch

Samstag, 9. August 2014

Armin Mueller-Stahl: Der Brad Pitt der DDR / Locarno 2014

Armin Mueller-Stahl ist ein wenig müde. Schließlich ist er, gemeinsam mit seiner Frau, gerade erst 1.200 Kilometer mit dem Auto gefahren. Von Berlin nach Locarno, um sich hier seinen goldenen Ehrenleoparden abzuholen, für sein Lebenswerk. Doch hinter dem müden Antlitz stechen seine blitzblauen Augen hervor. „Ich fahre sehr gerne mit dem Auto“, sagt der 83-jährige Schauspieler. „Erst kürzlich bin ich mit meiner Frau in Amerika von Key West bis Los Angeles gefahren. Die Schnelllebigkeit unserer Zeit lehne ich ab: Rein in die Maschine, abheben, landen. Das ist sehr langweilig“.
Armin Mueller-Stahl beim Gespräch, gesehen von Katharina Sartena.
Armin Mueller-Stahl braucht diese Selbstbestimmung, dieses Freiheitsgefühl. Schließlich hat der 1930 in Tilsit geborene Schauspieler bis 1980 in der DDR gelebt und Karriere gemacht, ehe seine Ausreise nach Westdeutschland genehmigt wurde. „Wenn Sie wissen, Sie werden überwacht, dann hören Sie irgendwann auf, darüber nachzudenken“, sagt er. Freiheit, das ist für Mueller-Stahl das Entdecken der Welt, ohne Grenzen, ohne Limits. „Und ich genieße es, dass meine Frau mit dabei ist, denn dann muss ich ihr nicht erklären, was ich alles gesehen habe“.
Dass Armin Mueller-Stahl bereits 2006 mit der Schauspielerei aufgehört und sich seither verstärkt der Malerei zugewandt hat, hindert die Organisatoren beim Filmfestival in Locarno allerdings nicht daran, ihn für sein Lebenswerk auszuzeichnen. „Dass ich hier einen Preis fürs Lebenswerk bekomme, nun ja. So einen Preis bekomme ich schon zum fünften Mal!“, lacht Mueller-Stahl. „Das macht mich ein bisschen nachdenklich, denn ich bin ja noch immer unterwegs. Sorry! Aber man kriegt so einen Preis und weiß, dass man etwas im Leben gemacht hat, das nicht ganz verkehrt war."
Armin Mueller-Stahl beim Gespräch, gesehen von Katharina Sartena.
Immerhin war Mueller-Stahl schon in seinen DDR-Zeiten ein gefeierter Star. „Ich war fünf Mal beliebtester Schauspieler der DDR? Das mag sein, ich habe es nicht gezählt. Aber da war ich noch ein hübscher Junge. Das ist lange her, damals war ich sozusagen der Brad Pitt der DDR“, lacht er. Überhaupt ist Mueller-Stahl von seiner Erscheinung her ein fröhlicher Mensch. Beim Interview in einem Luxus-Hotel in Ascona gibt es keine Spur von Alterspessimismus. Sondern nur die Gewissheit, auf ein reiches Leben zurück zu blicken. „Ich spüre keine Angst in Bezug auf das Altern. Ich weiß: Die Zukunft ist nicht mehr unendlich. Und ich weiß auch, wie mein eigenes Ende aussehen wird. Es wird so aussehen wie Ihres. Das ist die einzige wirkliche Gerechtigkeit auf diesem Planeten“, meint Armin Mueller-Stahl. „Angst spüre ich hingegen bei Vorgängen, die in die Nähe von Krieg führen. Die merkwürdigen Unsicherheiten, die es derzeit auf der Welt gibt. Die Technik und die Computer, das sind die Geister, die wir riefen, die wir aber nicht in den Griff kriegen. Der Irak, Syrien, die Ukraine. Es ist in der Welt scheußlich wie schon lange nicht“.
Trotzdem hat Armin Mueller-Stahl für sich eine Methode gefunden, mit der Welt ins Reine zu kommen. Er nennt das Glück, und es ist ein flüchtiges Gefühl. „Glück ist kein Dauerzustand, sondern besteht nur aus Momenten. Ein Glücksmoment ist zum Beispiel, jetzt hier zu sitzen, auf diesen tollen grünen Garten zu schauen und von dieser hübschen Fotografin fotografiert zu werden“, lacht er.

Armin Mueller-Stahl beim Gespräch, gesehen von Katharina Sartena.
Armin Mueller-Stahl blickt gern zurück auf seine lange Karriere; er lobt Fassbinder, weil der den stärksten Einfluss auf ihn gehabt hat: „Wir beide waren nicht wie Brüder, sondern eher wie Vater und Sohn, und ich war der Vater“. Auch an seine Zeit in Amerika denkt er gern: „Ich habe mit knapp 60 dort meine dritte Karriere begonnen, ohne ein Wort Englisch zu beherrschen. Ich spreche heute noch miserabel Englisch. Das hat damit zu tun, dass ich in Amerika immer nur Ausländer gespielt habe, die gebrochenes Englisch sprachen, entweder jiddisch gefärbt oder russisch“. Er imitiert einige seiner Filmdialoge, sichtlich mit Freude.
Dennoch hat er mit dem Film abgeschlossen: „Das Filmedrehen ist in meinem Fall ein Auslaufmodell. Das habe ich übermäßig lange getan, es hat mein Leben dominiert. Ich drehe nicht mehr, obwohl gerade ein Angebot auf meinem Tisch liegt, eine Auschwitz-Geschichte. Aber ich habe abgesagt. Die amerikanischen Produzenten versuchten mich zu locken und verdoppelten meine Gage. Geld interessiert mich schon, aber nicht so, dass ich plötzlich meine Contenance verliere.“ Sind Schauspieler überbezahlt? „100-prozentig, wenn Sie die Stars ansehen. Zehn oder 20 Millionen für einen Film zu bekommen, das ist doch idiotisch“.
Armin Mueller-Stahl widmet sich nun lieber seinen anderen Talenten, die bisher „immer außen vor blieben: Bei der Malerei bin ich endlich die Fesseln des Films los. Beim Film ist man abhängig, vom Drehbuch, vom Partner, vom Wetter, vom Regisseur, vom Kameramann. Die Malerei ist der einzige Moment, wo ich wirklich fliege. Ich bin frei. Gelingt es mir nicht, übermale ich es. Das genieße ich.“ Mueller-Stahl sagt auch noch, die Malerei fiele ihm leicht. „Ich dachte immer, was mir leicht fällt, ist nichts wert, eine These, die natürlich verkehrt ist. Das Zeichnen fällt mir wirklich sehr leicht. Schauspielerei ist viel komplizierter“.

Hat Armin Mueller-Stahl im Alter also doch seine wahre Berufung gefunden? „Ja, das hoffe ich sehr“, sagt er ruhig. „Es wurde ja auch Zeit“.

Matthias Greuling, Locarno

Dieser Beitrag erschien auch in der Wiener Zeitung

Donnerstag, 7. August 2014

Melanie Griffith mag 50 Shades of Grey nicht sehen - Locarno 2014

Melanie Griffith genießt das Rampenlicht. Zu lange schon ist es ihr künstlerisch verwehrt geblieben, hatten Schlagzeilen bestenfalls über ihre Schönheits-OPs oder über die Trennung von ihrem Mann Antonio Banderas berichtet. Das soll jetzt vorbei sein: „Ich bin mittlerweile schon so alt, dass ich über der unbarmherzigen Hollywood-Regel drüberstehe. Jene Regel, die besagt, dass man ab 40 zum alten Eisen gehört“, gibt sich die Schauspielerin kämpferisch. Am 9. August feiert sie ihren 57. Geburtstag.

Melanie Griffith, entspannt in Locarno. (Foto: Katharina Sartena)
In Locarno zelebriert Griffith ihre erste, zaghafte Rückkehr ins Rampenlicht: Die Jung-Regisseurin Rachel McDonald konnte Griffith für ihren 24-minütigen Kurzfilm „Thirst“ („Durst“) gewinnen, in dem Griffith eine Alkoholikerin spielt. „Ich spiele das, weil ich selbst Alkoholikerin bin und genau weiß, wie sich das anfühlt“, sagte sie in Locarno. „Und außerdem möchte ich dieser jungen Regisseurin durch meine Mitwirkung weitere Projekte ermöglichen. Sie ist sehr talentiert, ihren Namen sollten Sie sich merken“.

Filmangebote gesucht

Und weil sich Melanie Griffith wieder bereit für Filmangebote fühlt, betonte sie auch, dass sie „zu haben“ wäre: „Denn momentan halten sich die Angebote noch in Grenzen“, erzählte sie. Der Altersbonus, den sie nunmehr ihr Eigen wähnt, habe nämlich den Vorteil, „dass ich jetzt wirklich alles spielen kann, zumal bald alle meine Kinder aus dem Haus sind“. Sie drückt es so aus: „I’m gonna do whatever the fuck I wanna do!“



Die nächste Generation im Hause Griffith steht übrigens schon in den Karriere-Startlöchern: Die 24-jährige Dakota Johnson, Griffiths gemeinsame Tochter mit Ex-Partner Don Johnson, wird demnächst in der Verfilmung des Skandal-Buchs „50 Shades of Grey“ in der Hauptrolle zu sehen sein. „Sie ist einfach großartig“, jubelt Griffith. „Und sie wird all die Fehler ihrer Mutter und auch ihrer Großmutter (Schauspielerin Tipi Hedren, Anm.) nicht mehr machen“. So sieht eine stolze Mama aus. 


Jedoch: So richtig teilhaben am Erfolg von Dakota will Melanie nicht: „Wir haben das schon im Vorfeld vereinbart: Ich wünsche ihr alles Gute für diese Rolle, aber anschauen werde ich mir diesen Film sicher nicht“.

Matthias Greuling, Locarno

Dieser Beitrag ist auch in der Wiener Zeitung erschienen.

Luc Besson bringt LUCY nach Locarno

Er ist ein Mann von gewichtiger Durchsetzungskraft. Das hat aber wenig mit der stattlichen Figur Luc Bessons zu tun als vielmehr mit seiner ihm immanenten Zielstrebigkeit: Für die Filme seiner Produktionsfirma Europacorp unternimmt er seit Jahren große Anstrengungen, um internationale Kinohits Made in Europe herzustellen. Dazu gehören unter anderem seine eigenen Regiearbeiten wie „Das fünfte Element“, „Léon, der Profi“ oder „Nikita“, aber auch von ihm produzierte und/oder geschriebene Action-Franchises wie die „Taxi“-Reihe oder die „Transporter“-Filme.
Luc Besson (rechts) mit Locarno-Chef Carlo Chatrian (Foto: Katharina Sartena)
Wie geht das, alle Berufe – vom Produzenten über den Drehbuchautor bis hin zum Regisseur – in einer Person zu vereinen? „Ganz einfach: Das ist genauso wie wenn Sie Ehemann, Vater, Sohn oder Cousin zugleich sind. Alle vier sind anstrengende Jobs, und genauso kann man Regisseur, Autor oder Produzent zugleich sein“. Die einfachste Aufgabe sei dabei der Produzentenjob, findet Besson: „Als Autor stehe ich früh morgens um 4 auf und verbringe die Zeit nur mit mir und einem Computer. Ein sehr einsamer Job. Als Produzent muss ich meine Visionen nur mit meiner Crew teilen, das ist leicht. Die schwierigste Aufgabe jedoch ist es, den Film als Regisseur draußen im Feld zu inszenieren“, findet Besson.

Starvehikel "Lucy"

Sein neues Action-Vehikel „Lucy“ ist derzeit der Sommer-Kinohit in den USA. Die Studentin Lucy (Scarlett Johansson) gerät unvermittelt zu einem Job als Drogenkurierin. Weil die Droge in ihrem Körper aus der Verpackung platzt, hat sie – anstatt zu sterben – plötzlich übersinnliche Fähigkeiten. Ein Action-Rausch von Minute eins an – mit spektakulären Verfolgungsjagden durch Paris und einem am Ende doch recht sinnfreien Ausgang.
„Ich wollte eine Figur zeigen, die nichts Besonderes ist, sondern erst durch außergewöhnliche Umstände besonders wird“, sagt Besson. „Im Unterschied zu meinen bisherigen weiblichen Filmheldinnen wie Jeanne d’Arc, Nikita oder Leeloo: die brachten schon eine gewisse weibliche Power mit auf die Leinwand“.
Weil in diesem Jahr auch Roman Polanski beim Filmfestival in Locarno weilen wird, sprach man Besson auch auf jene Petition für die Freilassung Polanskis an, die viele Künstler 2011 unterzeichnet hatten, als Polanski in Zürich festgenommen wurde und monatelang unter Hausarrest stand, nicht wissend, ob man ihn an die USA ausliefern würde. Besson hatte damals nicht unterzeichnet. „Ich wurde aber missverstanden“, sagt er. „Ich liebe Polanski. Alles, was ich damals gesagt habe, war, dass jemand, der in Schwierigkeiten mit dem Gericht ist, diese selbst klären sollte. Ich spreche nicht für und nicht gegen Polanski und ich kann auch keine Petition unterzeichnen, wenn ich den Sachverhalt nicht kenne, was damals wirklich passiert ist“, so Besson.

Dass man den 55-jährigen Franzosen für den amerikanischsten aller französischen Filmemacher hält, kümmert ihn kaum. „Das kann schon sein, aber ich glaube nicht, dass Kunst einen Reisepass benötigt. Ich bin ein Künstler, und da ist es doch egal, welche Herkunft ich habe“. Gerade die Amerikaner seien in diesem Bereich extrem aufgeschlossen, Ideen aus aller Welt zu effektgeladenen Filmen zu machen, sagt Besson. „Und ganz ehrlich: Die multikulturelle Welt ist schon toll: Ich kann heute in Island sitzen, Sushi essen und dabei Reggae-Musik hören. Das ist doch wunderbar“.

Matthias Greuling, Locarno

Dieser Beitrag ist auch in "Wiener Zeitung" erschienen.

Mittwoch, 28. Mai 2014

Cannes: Vorstellung der Mutlosen

Eigentlich hätte es der Abend von Xavier Dolan werden müssen. Der frankokanadische Regisseur, der gerade einmal 25 Jahre alt ist und hier im Wettbewerb mit seinem furiosen Mutter-Sohn-Stück „Mommy“ alle aufrüttelte, hatte schon am roten Teppich vor dem Palais des Festivals publikumswirksam Tränen vergossen, überwältigt vom Zuspruch für sein Werk. Die Tatsache, dass man ihn zur Preisverleihung einlud, konnte eigentlich nur heißen, dass er hier zu den großen Gewinnern zählen würde.
Nuri Bilge Ceylan ist der große Sieger in Cannes (Foto: Katharina Sartena)
Dass Dolan dann doch „nur“ den dritten Preis, den Prix du Jury, aus den Händen von Jury-Präsidentin Jane Campion erhielt, ist eine herbe Enttäuschung. Besonders, weil er ihn mit dem 83-jährigen Regie-Übermenschen Jean-Luc Godard teilen musste, dessen erster Filmessay in 3D, „Adieu au langage“, ebenfalls im Wettbewerb lief. Godard kam nicht nach Cannes, das ließ Dolan dann viel Raum, sich in einer emotionalen, flammenden Rede für die junge Generation an Filmemachern stark zu machen.
Es hätte eigentlich nichts anderes als die Goldene Palme sein dürfen für Dolan. Doch die Palme ging an den türkischen Regisseur Nuri Bilge Ceylan für dessen langsam erzähltes Drama „Winter Sleep“, das ausgiebig in uriger Landschaft schwelgt. Ceylan sei „überfällig“ gewesen für den Preis, und das ist offenbar manchmal Kriterium genug. Auch Haneke bekam seine erste Palme nicht für seinen besten Film „Caché“ (2005), sondern für „Das weiße Band“ (2009).
Wer aber ist dieser Xavier Dolan? Wie kann der Drittplatzierte es schaffen, trotzdem wie der große Sieger dazustehen (Beispiele aus der Politik gibt es hierfür ja genug)? Um die Stimmung bei diesen 67. Filmfestspielen von Cannes zu verstehen, muss man Dolan verstehen.
Sein Charisma ist ausschlaggebend: Ein junger rotziger Hipster aus Quebec, der zwischen jedem Interview seine bunten Designer-Hemden wechselt und der ungestüme, wilde Filme macht. „Mommy“ ist schon sein fünfter Spielfilm, weil er gerne betont: „Ich weiß nicht, wieviel Lebenszeit mir bleibt, also muss ich hier und jetzt kreativ sein“. Seine Homosexualität war Thema seines Debüts „Ich habe meine Mutter getötet“ (2009), seine Filme verhandeln stets sehr persönliche Themen. Mit „Mommy“ hat er nun den  ästhetisch wie erzählerischen Höhepunkt seiner jungen Karriere erreicht.
„Mommy“ ist ein mit viel Verve zugespitzter hysterisch-knalliger Reigen von Eklats: Zwischen seinen beiden Hauptfiguren herrscht Dauerkrieg: Der an ADHS leidende 15-jährige Steve (Antoine-Olivier Pilon) wird aus dem Internat zurück in die Obhut seiner durchgeknallten Mutter (grandios: Anne Dorval) gegeben; schon beim Einzug ins gemeinsame Zuhause fliegen die Fetzen. Die kraftvollen Bilder in quadratischem Bildformat, die Dolan für dieses Beziehungsdrama findet, verunmöglichen jede Beschreibung: Sie sind eine Wucht, weil sie die Essenz von Emotionen wiedergeben. Wer kann das sonst noch?
Bis zu dem Zeitpunkt, als „Mommy“ in Cannes lief, entpuppte sich die 67. Ausgabe als schnarchfades Sammelsurium von Altherren-Kino: Neue Arbeiten von Ken Loach („Jimmy’s Hall“) und Mike Leigh („Mr. Turner“, Darstellerpreis für Timothy Spall als Maler William Turner)  waren zwar anständig gemacht, Innovation sieht aber anders aus. Julianne Moore glänzte hingegen in David Cronenbergs immerhin mystisch-abgründigem „Maps to the Stars“ und erhielt den Preis als beste Schauspielerin. Fragwürdig hingegen die Prämierung von Bennett Miller als bester Regisseur für „Foxcatcher“. Da zumindest wäre Dolan besser aufgehoben gewesen, wenn es schon nicht für die Palme reichte.
In Cannes geht man inzwischen gerne auf Nummer Sicher, zeigt die neuen Filme der eigenen Zöglinge, auch wenn sie bloß durchschnittlich sind. Selbst Godards filmische Phantasien sind schon im Vorfeld Gewohnheit, auch wenn niemand ihren Inhalt versteht. Einzig die Dardenne-Brüder (die schon zwei Palmen haben), legten mit „Deux jours, une nuit“ ein von Marion Cotillard famos interpretiertes Drama rund um die Auswirkungen der Wirtschaftskrise vor. Der Film ging überraschend gänzlich leer aus.
Ebenfalls überraschend: Der „Grand Prix du Jury“ für die italienische Produktion „La Meraviglie“ von Alice Rohrwacher. Dieser Film erzählt von einer kauzigen Familie, die in der Provinz Honig macht und deren Vater sich anfangs weigert, bei einem von Monica Bellucci angepriesenen Wettbewerb für lokale Agrarprodukte mitzumachen. Rohrwachers autobiografische Arbeit ist nicht ohne Fehler, sie feiert geradezu das Imperfekte: Sie drehte auf Film, weil das eine ganz eigene Textur ergibt, die in der digitalen Kinowelt längst verschwunden ist. „La Meraviglie“  will ein  „handgemachter“ Film sein, einer, der mindestens ebenso gut schmeckt, wie der handgemachte Honig seiner Protagonisten.

Bleibt noch Dolan. Der hat sich sichtlich bemüht, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Am Tag vor der Verleihung hat er im Interview noch lauthals verkündet, er würde die Goldene Palme verdienen. Auch als Signal an eine junge Generation von Filmschaffenden. Die alten Herren in Cannes sahen das schon bei der Programmierung des Wettbewerbs eindeutig anders. Das ist schade, denn Dolan hat Recht. Doch er wird wiederkommen, wenn es seine Lebenszeit erlaubt.

Matthias Greuling, Cannes

Dieser Beitrag ist auch in der Furche erschienen.

Donnerstag, 22. Mai 2014

Xavier Dolan könnte mit "Mommy" die Palme holen

"Mommy" von Xavier Dolan. (Foto: Festival de Cannes)
Cannes hat einen neuen Stern am Himmel: Der kanadische Jung-Regisseur Xavier Dolan ist gerade erst 25 Jahre alt, und doch schon ein „alter Hase“ im Filmgeschäft: Seit gut sechs, sieben Jahren dreht er Filme, mit schöner Regelmäßigkeit, aber immer in jugendlich ungestümer Weise. Jetzt steht er mit „Mommy“ im Wettbewerb um die Goldene Palme, und nicht wenige sehen in ihm den sicheren Sieger dieser bislang von den Alt-Stars des Weltkinos beherrschten Szenerie: Dolan hat sein Mutter-Sohn-Drama gekonnt und mit viel Verve zugespitzt auf einen hysterisch-knalligen Reigen von Eklats: Zwischen seinen beiden Hauptfiguren herrscht sozusagen Dauerkrieg: Der an ADHS leidende 15-jährige Steve (Antoine-Olivier Pilon) wird aus dem Internat zurück in die Obhut seiner durchaus als durchgeknallt zu bezeichnenden Mutter (grandios: Anne Dorval) gegeben; die will es dem Jüngling nicht leicht machen, und schon beim Einzug ins gemeinsame Zuhause fliegen die Fetzen. Zu einer stotternden Nachbarin (Suzanne Clément) entsteht ein wechselseitiges Verhältnis, das allen nützt: Steve wird ein Stück zugänglicher, die Nachbarin bringt bald auch ganze Sätze ohne Stottern heraus. Die kraftvollen Bilder, die Dolan für dieses Beziehungsdrama findet, verunmöglichen jede Beschreibung: Sie sind eine Wucht, weil sie die Essenz von Emotionen wiedergeben. Wer kann das sonst noch?
Dolan ist einer der jungen Wilden des Weltkinos. Ihn kümmern keine Konventionen, denn die zwischenmenschlichen Barrieren im Umgang miteinander löst er in „Mommy“ vollständig auf. Alles muss schnell, ungestüm, roh und furios passieren, immer am Limit, immer an der äußerten vorstellbaren Grenze. Dem entgegen setzt Dolan in „Mommy“  ein eng begrenztes Bildformat von 1,25:1, das entspricht 5:4 (das alte TV hatte 4:3). Das Bild ist mehr hoch als breit, nur stellenweise weitet es sich auf volle die Breite, und zwar dann, wenn Steve endlich auch einmal in seinem Leben Freude empfindet; ein simpler visueller Trick zwar, aber er ist effektiv.
Xavier Dolan hat ein hohes Tempo im Erzählen, ebenso wie in der Zeitspanne, in der er neue Filme dreht. Dolan erinnert nicht nur deshalb an Fassbinder, der seine kurze Lebenszeit mit sehr vielen Filmen füllte. Dolan vergleicht das Filmemachen mit einer Droge: „Man will immer mehr davon. Ich weiß nicht, wieviel Lebenszeit ich haben werde, also will ich jetzt und hier kreativ sein“. 

Die Szenen zwischen Steve und seiner Mutter sind jedenfalls von solcher Energie und Intensität, dass sie keine Entsprechung im neueren Kino finden. Man kann, aber man muss diesen Film nicht mögen, um ihm zu attestieren, dass er wohl die bislang größte Berechtigung unter allen Mitbewerbern hat, sich heuer mit der Goldenen Palme zu schmücken. Dolan selbst würde das als Signal werten: „Es wäre eine Auszeichnung für die Jungen und für ihren Weg, mit Filmen Geschichten zu erzählen.“

Matthias Greuling, Cannes

Dieser Beitrag ist auch in der Wiener Zeitung erschienen

Alte Herren bilden Legenden: Cannes feiert seine Ikonen

Sophia Loren unter Fotografen in Cannes (Foto: Katharina Sartena)
Es ist die Woche der Kinolegenden in Cannes: Die glänzenden Namen der Vergangenheit lässt man hier an der Croisette gerne aufleben, zumal viele von ihnen letztlich für den Ruf dieses weltbekannten Festivals mitverantwortlich sind.
Da ist zum einen Marcello Mastroianni, der vom diesjährigen Festivalplakat herunterlächelt und so wie ein Patron über die 67. Ausgabe der Festspiele wacht. Dann sind da die betagten Legenden wie etwa Sophia Loren, die vom Festival als Ehrengast eingeladen wurde und hier eine Lecture über die großen Tage des Kinos hielt. Die Loren wird im September 80, zeigte sich aber in jugendlicher Vergnügtheit am roten Teppich. Für die Fotografen hatte sich die Loren sogar den Spaß gemacht, sich selbst in deren Mitte fotografieren zu lassen.
Nicht minder gut gelaunt gab sich Cathérine Deneuve, ebenfalls schon 70, aber niemals arbeitsmüde: Sie kam zur Premiere des außer Konkurrenz laufenden neuen Films von André Téchiné, der bei der Kritik (zurecht) durchfiel. Deneuve nahm’s gelassen und zündete sich beim Fototermin partout eine Zigarette an.
Auch Gérard Depardieu gehört zur alten Garde der Kinogrößen: Er spielt in Abel Ferraras neuem Film „Welcome to New York“ die Hauptrolle, der sich um einen Sex-Skandal, angelehnt an den Fall Dominique Strauss-Kahn, dreht. Der Film wurde nicht nach Cannes eingeladen, und so organisierten die Produzenten kurzerhand selbst ein Screening in einem der Kinos der Stadt. Der Film kommt auch nicht in die Kinos, sondern wurde von Ferrara zum Gratis-Download ins Netz gestellt. Über den offiziellen roten Teppich ging Depardieu dann trotzdem, auch, weil er eine Art französisches Nationalheiligtum ist.
Und dann ist da nicht zuletzt „Nouvelle Vague“-Legende Jean-Luc Godard, dessen neuer Film-Essay „Adieu au langage“ (sein erster in 3D) im Wettbewerb läuft. Allein: Von Godard gibt es in diesem Jahr keine Fotos, denn der 83-jährige Wahlschweizer ist erst gar nicht nach Cannes gereist, sondern schickte nur seine Schauspieler. Jemand wie er setzt sich dem Gekreische einfach nicht mehr aus.
Vielleicht ist Godards Fernbleiben gar nicht so schlecht für das Festival, und auch ein Zeichen. Schließlich hat man mehr und mehr das Gefühl,  es regiere hier ein elitärer Altherren-Club, der die immer gleichen Regisseure einlädt (Ken Loach, Mike Leigh, David Cronenberg, etc.) und sich mehr u
Catherine Deneuve raucht gern. (Foto: Katharina Sartena)

nd mehr selbst zu feiern scheint. Die Essenz von Cannes ist da schnell nur mehr noch seine eigene Reproduktion, wenn man nicht bald mehr auf junge Impulse im Wettbewerb setzt.

Jane Campion, bislang die einzige Frau, die eine Goldene Palme gewann, hätte mit ihrer Jury am Samstag die Möglichkeit, das Bild von Cannes als führendes, innovatives Filmfestival wieder zurecht zu rücken, indem sie die Preise entsprechend vergibt. Naomi Kawases Film „Futatsume no mado“ aus Japan wäre ein Kandidat (und die zweite Palme für eine Frau), aber an den Schwergewichten der traditionsbewussten Auswahl wird schwer vorbeizukommen sein: Die Dardenne-Brüder liegen gut im Rennen, aber auch der Türke Nuri Bilge Ceylan. Sie sind auch nicht mehr die jüngsten, aber immerhin haben ihre Arbeiten Qualität und nicht den Charakter eines filmischen Museums. 

Matthias Greuling, Cannes

Dieser Beitrag ist auch in der Wiener Zeitung erschienen.