"Mommy" von Xavier Dolan. (Foto: Festival de Cannes) |
Cannes hat einen neuen Stern am Himmel: Der kanadische Jung-Regisseur Xavier Dolan ist gerade erst 25 Jahre alt, und doch schon ein „alter Hase“ im Filmgeschäft: Seit gut sechs, sieben Jahren dreht er Filme, mit schöner Regelmäßigkeit, aber immer in jugendlich ungestümer Weise. Jetzt steht er mit „Mommy“ im Wettbewerb um die Goldene Palme, und nicht wenige sehen in ihm den sicheren Sieger dieser bislang von den Alt-Stars des Weltkinos beherrschten Szenerie: Dolan hat sein Mutter-Sohn-Drama gekonnt und mit viel Verve zugespitzt auf einen hysterisch-knalligen Reigen von Eklats: Zwischen seinen beiden Hauptfiguren herrscht sozusagen Dauerkrieg: Der an ADHS leidende 15-jährige Steve (Antoine-Olivier Pilon) wird aus dem Internat zurück in die Obhut seiner durchaus als durchgeknallt zu bezeichnenden Mutter (grandios: Anne Dorval) gegeben; die will es dem Jüngling nicht leicht machen, und schon beim Einzug ins gemeinsame Zuhause fliegen die Fetzen. Zu einer stotternden Nachbarin (Suzanne Clément) entsteht ein wechselseitiges Verhältnis, das allen nützt: Steve wird ein Stück zugänglicher, die Nachbarin bringt bald auch ganze Sätze ohne Stottern heraus. Die kraftvollen Bilder, die Dolan für dieses Beziehungsdrama findet, verunmöglichen jede Beschreibung: Sie sind eine Wucht, weil sie die Essenz von Emotionen wiedergeben. Wer kann das sonst noch?
Dolan ist einer der jungen Wilden des Weltkinos. Ihn kümmern keine Konventionen, denn die zwischenmenschlichen Barrieren im Umgang miteinander löst er in „Mommy“ vollständig auf. Alles muss schnell, ungestüm, roh und furios passieren, immer am Limit, immer an der äußerten vorstellbaren Grenze. Dem entgegen setzt Dolan in „Mommy“ ein eng begrenztes Bildformat von 1,25:1, das entspricht 5:4 (das alte TV hatte 4:3). Das Bild ist mehr hoch als breit, nur stellenweise weitet es sich auf volle die Breite, und zwar dann, wenn Steve endlich auch einmal in seinem Leben Freude empfindet; ein simpler visueller Trick zwar, aber er ist effektiv.
Xavier Dolan hat ein hohes Tempo im Erzählen, ebenso wie in der Zeitspanne, in der er neue Filme dreht. Dolan erinnert nicht nur deshalb an Fassbinder, der seine kurze Lebenszeit mit sehr vielen Filmen füllte. Dolan vergleicht das Filmemachen mit einer Droge: „Man will immer mehr davon. Ich weiß nicht, wieviel Lebenszeit ich haben werde, also will ich jetzt und hier kreativ sein“.
Die Szenen zwischen Steve und seiner Mutter sind jedenfalls von solcher Energie und Intensität, dass sie keine Entsprechung im neueren Kino finden. Man kann, aber man muss diesen Film nicht mögen, um ihm zu attestieren, dass er wohl die bislang größte Berechtigung unter allen Mitbewerbern hat, sich heuer mit der Goldenen Palme zu schmücken. Dolan selbst würde das als Signal werten: „Es wäre eine Auszeichnung für die Jungen und für ihren Weg, mit Filmen Geschichten zu erzählen.“
Matthias Greuling, Cannes
Dieser Beitrag ist auch in der Wiener Zeitung erschienen
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