Eigentlich hätte es der Abend von Xavier Dolan werden
müssen. Der frankokanadische Regisseur, der gerade einmal 25 Jahre alt ist und
hier im Wettbewerb mit seinem furiosen Mutter-Sohn-Stück „Mommy“ alle
aufrüttelte, hatte schon am roten Teppich vor dem Palais des Festivals
publikumswirksam Tränen vergossen, überwältigt vom Zuspruch für sein Werk. Die
Tatsache, dass man ihn zur Preisverleihung einlud, konnte eigentlich nur
heißen, dass er hier zu den großen Gewinnern zählen würde.
Nuri Bilge Ceylan ist der große Sieger in Cannes (Foto: Katharina Sartena) |
Dass Dolan dann doch „nur“ den dritten Preis, den Prix du
Jury, aus den Händen von Jury-Präsidentin Jane Campion erhielt, ist eine herbe
Enttäuschung. Besonders, weil er ihn mit dem 83-jährigen Regie-Übermenschen
Jean-Luc Godard teilen musste, dessen erster Filmessay in 3D, „Adieu au
langage“, ebenfalls im Wettbewerb lief. Godard kam nicht nach Cannes, das ließ
Dolan dann viel Raum, sich in einer emotionalen, flammenden Rede für die junge
Generation an Filmemachern stark zu machen.
Es hätte eigentlich nichts anderes als die Goldene Palme
sein dürfen für Dolan. Doch die Palme ging an den türkischen Regisseur Nuri
Bilge Ceylan für dessen langsam erzähltes Drama „Winter Sleep“, das ausgiebig
in uriger Landschaft schwelgt. Ceylan sei „überfällig“ gewesen für den Preis,
und das ist offenbar manchmal Kriterium genug. Auch Haneke bekam seine erste
Palme nicht für seinen besten Film „Caché“ (2005), sondern für „Das weiße Band“
(2009).
Wer aber ist dieser Xavier Dolan? Wie kann der Drittplatzierte
es schaffen, trotzdem wie der große Sieger dazustehen (Beispiele aus der
Politik gibt es hierfür ja genug)? Um die Stimmung bei diesen 67.
Filmfestspielen von Cannes zu verstehen, muss man Dolan verstehen.
Sein Charisma ist ausschlaggebend: Ein junger rotziger
Hipster aus Quebec, der zwischen jedem Interview seine bunten Designer-Hemden
wechselt und der ungestüme, wilde Filme macht. „Mommy“ ist schon sein fünfter
Spielfilm, weil er gerne betont: „Ich weiß nicht, wieviel Lebenszeit mir
bleibt, also muss ich hier und jetzt kreativ sein“. Seine Homosexualität war
Thema seines Debüts „Ich habe meine Mutter getötet“ (2009), seine Filme
verhandeln stets sehr persönliche Themen. Mit „Mommy“ hat er nun den ästhetisch wie erzählerischen Höhepunkt seiner
jungen Karriere erreicht.
„Mommy“ ist ein mit viel Verve zugespitzter
hysterisch-knalliger Reigen von Eklats: Zwischen seinen beiden Hauptfiguren
herrscht Dauerkrieg: Der an ADHS leidende 15-jährige Steve (Antoine-Olivier
Pilon) wird aus dem Internat zurück in die Obhut seiner durchgeknallten Mutter
(grandios: Anne Dorval) gegeben; schon beim Einzug ins gemeinsame Zuhause
fliegen die Fetzen. Die kraftvollen Bilder in quadratischem Bildformat, die
Dolan für dieses Beziehungsdrama findet, verunmöglichen jede Beschreibung: Sie
sind eine Wucht, weil sie die Essenz von Emotionen wiedergeben. Wer kann das
sonst noch?
Bis zu dem Zeitpunkt, als „Mommy“ in Cannes lief, entpuppte
sich die 67. Ausgabe als schnarchfades Sammelsurium von Altherren-Kino: Neue
Arbeiten von Ken Loach („Jimmy’s Hall“) und Mike Leigh („Mr. Turner“, Darstellerpreis
für Timothy Spall als Maler William Turner) waren zwar anständig gemacht, Innovation sieht
aber anders aus. Julianne Moore glänzte hingegen in David Cronenbergs immerhin
mystisch-abgründigem „Maps to the Stars“ und erhielt den Preis als beste
Schauspielerin. Fragwürdig hingegen die Prämierung von Bennett Miller als
bester Regisseur für „Foxcatcher“. Da zumindest wäre Dolan besser aufgehoben
gewesen, wenn es schon nicht für die Palme reichte.
In Cannes geht man inzwischen gerne auf Nummer Sicher, zeigt
die neuen Filme der eigenen Zöglinge, auch wenn sie bloß durchschnittlich sind.
Selbst Godards filmische Phantasien sind schon im Vorfeld Gewohnheit, auch wenn
niemand ihren Inhalt versteht. Einzig die Dardenne-Brüder (die schon zwei
Palmen haben), legten mit „Deux jours, une nuit“ ein von Marion Cotillard famos
interpretiertes Drama rund um die Auswirkungen der Wirtschaftskrise vor. Der
Film ging überraschend gänzlich leer aus.
Ebenfalls überraschend: Der „Grand Prix du Jury“ für die
italienische Produktion „La Meraviglie“ von Alice Rohrwacher. Dieser Film
erzählt von einer kauzigen Familie, die in der Provinz Honig macht und deren
Vater sich anfangs weigert, bei einem von Monica Bellucci angepriesenen
Wettbewerb für lokale Agrarprodukte mitzumachen. Rohrwachers autobiografische Arbeit
ist nicht ohne Fehler, sie feiert geradezu das Imperfekte: Sie drehte auf Film,
weil das eine ganz eigene Textur ergibt, die in der digitalen Kinowelt längst
verschwunden ist. „La Meraviglie“ will
ein „handgemachter“ Film sein, einer, der
mindestens ebenso gut schmeckt, wie der handgemachte Honig seiner
Protagonisten.
Bleibt noch Dolan. Der hat sich sichtlich bemüht, sich seine
Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Am Tag vor der Verleihung hat er im Interview noch lauthals verkündet, er würde die Goldene Palme
verdienen. Auch als Signal an eine junge Generation von Filmschaffenden. Die
alten Herren in Cannes sahen das schon bei der Programmierung des Wettbewerbs
eindeutig anders. Das ist schade, denn Dolan hat Recht. Doch er wird
wiederkommen, wenn es seine Lebenszeit erlaubt.
Matthias Greuling, Cannes
Dieser Beitrag ist auch in der Furche erschienen.
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