Über die Leiden des Filmfestivals von Venedig ist schon viel
geschrieben worden: Von seiner schwindenden Bedeutung im Schatten Torontos, der
fehlenden Infrastruktur auf dem Lido von Venedig, von ausbleibenden Stars und
dem allerorts präsenten Verfall beim ältesten Filmfestival der Welt.
Gewinner: Roy Andersson (Foto: Katharina Sartena) |
In diesem Jahr aber war alles ein bisschen anders: Die
Filmschau, in den letzten Jahren zu einer Karikatur ihrer selbst erstarrt,
musste erst 71 werden, um wieder kräftige Lebenszeichen von sich zu geben.
Normalerweise trumpft man ja zu runden Jubiläen mit Frischzellenkuren auf, aber
Italien ist eben ein bisschen anders. Alberto Barbera, der Direktor der
Filmfestspiele, hat ein wirklich rundes Wettbewerbsprogramm zusammengetragen,
in dem es eigentlich keine wirklichen Tiefpunkte gab. Barbera hat sogar etwas
Geld in die Hand genommen und die repräsentativsten Kinosäle des Lido
renovieren lassen. Die Baugrube, wo einst ein neuer, 100 Millionen Euro teurer
Stahl-Glas-Komplex den unter Mussolini erbauten Palazzo del Cinema ersetzen
sollte, ist immer noch da, aber mit sechs Millionen an Investitionen ist
zumindest die Plane rundherum dicht genug, damit man das brachliegende Elend
nicht sehen muss.
Dass dann die Jury unter Führung des Filmkomponisten
Alexandre Desplat (und unter Mitwirkung der Wiener Regisseurin Jessica Hausner)
bei der Vergabe des Hauptpreises darauf verzichtete, die politisch korrekte
Entscheidung zu treffen, spricht auch für eine Neupositionierung (oder
Beharrung) des Festivals: Nicht etwa die Doku „The Look of Silence“ von Joshua
Oppenheimer holte den Goldenen Löwen, sondern den Großen Preis der Jury;
Oppenheimer geht in seiner hervorragenden Doku wie schon in „The Act of
Killing“ den Massenmördern des Genozids in Indonesien 1965/66 nach und forscht
an diesem bis heute nicht aufgearbeiteten Trauma.
Doch die Jury wollte sich von der Filmkunst an sich
inspirieren lassen und zeichnete (hochverdient) den Schweden Roy Andersson mit
dem Goldenen Löwen aus. Schließlich geht es bei dieser „Mostra d’Arte Cinematografica“
- wie ihr Name schon sagt - um die Kunst, und nicht nur um politisch motiviertes
Kino. Dabei ist Anderssons „A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence“
(etwa „Eine Taube saß auf einem Zweig und dachte über das Leben nach“) neben
seiner schrullig-lakonischen Erzählweise auch eine Aphorismensammlung über das
Leben an sich - und schon allein deshalb hochpolitisch.
Komik und Tragik liegen in diesem wunderbaren Film ganz nahe
beieinander, wie im echten Leben auch. Stilistisch entrückt Andersson seine
Geschichte aber in ein statisches Skurrilitäten-Universum ohne Entsprechung.
Andersson folgt zwei Scherzartikel-Vertretern durch
Göteborg, die in lustlosen Verkaufsgesprächen eher Begräbnis- als
Party-Stimmung verbreiten. Sie haben ein Dracula-Gebiss im Sortiment, eine
gruselige Gummimaske und natürlich einen Lachsack. Sie verbinden sketchartige
Miniaturen, die sich sehr langsam zu einem Ganzen fügen. Eine tragikomische
Versuchsanordnung über das Leben und den Tod, das letztlich die bekannte Moral
vertritt, dass das eine ohne dem anderen nicht denkbar wäre.
Dass am Lido wieder die Filmkunst gefeiert werden darf,
zeigt auch der Regiepreis für den Russen Andrej Kontschalowski: Der hat in „The
Postman’s White Nights“ eine ähnlich absurde Ausgangslage wie Andersson: Er
erzählt von einem Postler, der im Norden Russlands in großen Seengebieten die
einsam versprengten Einwohner mit Briefen und allem Lebensnotwendigen versorgt.
Eine stille Kontemplation karger Existenzen, in deren Alltag es aber trotzdem
so etwas wie Humor und Lebensbejahung gibt: In grandiosen Bildern und mit
Laiendarstellern, die allesamt sich selbst spielen, zeigt Kontschalowski, dass
das Leben im Abseits keineswegs eine Entbehrung sein muss. Es kommt nur darauf
an, wie man Entbehrung definiert. Schon allein deshalb waren die 71.
Filmfestspiele am Lido von Venedig ihre vielen Unwegsamkeiten wert: Wo bekommt
man heute in all der Hektik noch zu sehen, wie fabelhaft einfach der Anspruch
an Erfüllung sein kann?
Matthias Greuling, Venedig
(Dieser Beitrag ist auch in der Furche erschienen)
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