HANS HURCH. Der Langzeit-Direktor der Viennale im ausführlichen Gespräch mit Matthias Greuling über den österreichischen Film, die Ignoranz der Politik und seine zwiespältige Einstellung zu den Arbeiten von Ulrich Seidl und Michael Haneke.
Matthias Greuling: Bei der Viennale gibt es nicht so eine
Fluktuation wie in Locarno, wo man alle drei Jahre mit jemand neuem spricht.
Welchen Wert hat es, wenn man ein Festival so lange prägen kann?
Hans Hurch: Mein Vertrag läuft noch für fünf Festivals, ich
werde dann in Summe 20 Viennalen gemacht haben und ich denke, dass das für ein
Filmfestival prinzipiell sehr ungewöhnlich ist. Ich bin dann sozusagen 20 Jahre
in Amt und Würden, ein halbes Leben lang, und das ist mir auch bewusst. Zu den Nachteilen zählt, dass die Viennale wirklich von
einer einzigen Person geprägt wird. Die Viennale arbeitet nicht
Film-Programmern oder eine Kommissionsauswahl, sondern einer wählt die Filme
aus. Mit meiner Person hat sich dieser Modus sicherlich zugespitzt, das muss
ich auch ehrlich zugeben. Wenn eine Haltung, eine Person, ein Stil das Festival
sehr stark prägt, dann ist damit auch die Gefahr verbunden, dass ein Festival
zu wenig in Bewegung ist und sich zu wenig Veränderungen ergeben. Das Positive an einer lange dauernden Leitungsfunktion ist
die Kontinuität, auch im Sinne der
Zusammenarbeit mit dem Team, den Sponsoren, der Politik. Man tut sich
wahrscheinlich leichter, wenn man die Leute schon kennt, und auch die Spielregeln,
als wenn die Ansprechperson ständig wechseln würde. Ich persönlich finde es
sehr schade, dass Olivier Père in Locarno schon nach drei Jahren aufgehört hat.
Ich finde das sogar, ohne dass ich das persönlich beurteilen möchte,
verantwortungslos. Er hat das Festival geprägt, hat es über die Zeit wieder
aufgebaut, hat dem Festival ein neues Gesicht gegeben und hört dann nach drei
Jahren auf. Das finde ich sehr schade. Jetzt fängt wieder jemand neuer an, der
benötigt wieder ein, zwei Jahre, bis er sich eingearbeitet hat. Kontinuität
macht schon Sinn. Wichtig ist aber: Ich bin kein Kulturfunktionär, und ich will
auch keiner werden; ob diese Einschätzung richtig ist, müssen bei mir andere
Personen beurteilen. Man darf nicht sagen, jetzt habe ich den Job, jetzt bin
ich auf der sicheren Seite, denn dann fehlt einem auch das Herz, das Feuer und
die Notwendigkeit, das zu machen. Ich habe das Gefühl, dass mich der Beruf
trotz aller Durchhänger, die ich hatte, immer noch reizt und ich ihn immer noch
gerne mache. Ich merke das immer, wenn ich einen Film sehe, der mir gefällt.
Leider sind das nicht mehr allzu viele. Aber wenn ich etwas Ungewöhnliches oder
Starkes sehe, da merke ich sofort, wie ich wieder aufwache.
Wie vermeidet man
nach so langer Zeit die Betriebsblindheit?
Ich glaube, dass mir der Rhythmus, der durch die Viennale
entsteht, sehr zugute kommt. Ich würde mir sehr schwer tun, meine Stunden in
einem normalen Job, etwa in einem Filmbüro, abzusitzen. Dann hätte ich im
Sommer Urlaub und fahre vielleicht einmal im Jahr auf eine Filmtagung. Hier
würde es mir schwer fallen, mich zu motivieren. Gerade die Viennale steigert
sich aber hin zum Festivaltermin, und hier hat man Monate zuvor schon gar nicht
die Gelegenheit, sich hängen zu lassen.
Hat sich das Festival
als Form des Kunstbetriebes im Zeitalter neuer Medien stark verändert?
Ich glaube, dass alles immer einen Gegensatz produziert. Es
gibt Feinspitze, die zu McDonald’s gehen, um einen Vergleich heranzuziehen. Ich
glaube nicht, dass es eine horizontale Ebene gibt, wodurch die neuen Medien bereits
bestehende eliminieren. Mein Gefühl ist, dass immer neue Bedürfnisse generiert
werden. Die Viennale hat sich unabhängig von mir verändert, doch die Grundform
ist immer noch die gleiche. Für mich ist es einfach eine Bestätigung, dass
viele junge Leute, die meine Kinder sein könnten, die Viennale besuchen. Sie
leben in der Welt der neuen Medien und schauen sich trotzdem diese Filme an.
Hier liegt es dann zum Teil doch an dem alt eingeschworenen
Gemeinschaftsgefühl, das Kino ausmacht. Das sehe ich auch bei der Viennale. Die
Leute kommen gemeinsam Karten kaufen und machen sich schon vorab aus, wer wo
sitzt.
Sie sind bekannt
dafür, sich öffentlich sehr kritisch gegenüber dem österreichischen Film zu
zeigen. Heuer sind viele heimische Produktionen im Programm, auch, wenn Ulrich
Seidl seine Filme letztlich wegen Ihrer Programmierung um 18 Uhr zurückgezogen
hat.
Ich kann mich erinnern, als ich irgendwann mal etwas
Kritisches über den Glawogger-Film „Slumming“ gesagt habe. Sie haben dann
gleich auf die Postkarten gedruckt, Hans Hurch sagt folgendes: „Dieses
Rotzbubenkino“. Sie haben mich dann sogar noch gefragt, ob sie das verwenden
dürfen. Das ist Marketing!
Woran liegt es, dass
der österreichische Film relativ wenige Besucher in die Kinos lockt, und wie
kann man das ändern?
Ich glaube, dass die Leute gar keine Vorstellung davon
haben, was ein österreichischer Film ist. Ein österreichischer Film kann eine
kommerzielle, halblustige Kabarettverfilmung sein, aber auch ein schwerer
Haneke-Film. Ich denke, zum österreichischen Film wird man die Leute nie
bringen, weil sie sagen: „Ah, ein neuer österreichischer Film“. Vielmehr müssen
sie sich gegen die internationale Konkurrenz behaupten, was ich persönlich
besonders bei der Viennale bemerke. Ich kann nicht etwas machen, was die
Amerikaner zehnmal besser können. Versuchen Sie das mal bei einem Wein!
Man muss sich heute bewähren. Das ist der sogenannte
Konkurrenzkapitalismus. Zum Glück gibt es den, und noch keinen
Monopolkapitalismus, weil sonst würde es sicher nur mehr amerikanische Filme
geben. Ich glaube, es scheitert auch daran, dass wir uns den Luxus einer
kulturellen Filmförderung leisten und das sage ich bewusst. Ich finde richtig,
dass es eine Mischform von kommerziellen, aber auch kulturellen Formen gibt,
was den österreichischen Film komplexer werden lässt. Es trägt aber auch dazu
bei, dass es schwierig ist einen österreichischen Film zu vermarkten. Ich kenne
jetzt die Zahlen von „Amour“ nicht, aber ich behaupte, dass er 100.000
Zuschauer haben wird, was für einen österreichischen Film im Vergleich
sicherlich nicht schlecht ist. Ich finde es manchmal interessant, dass sogar
kleine Dokumentarfilme 4.000 bis 5.000 Zuschauer haben und das bedeutet auch
was. Es gibt dieses freche Selbstbewusstsein, zu sagen, wir können es so gut
wie alle anderen, und schaut euch das an. Vielleicht sollte man noch
selbstbewusster artikulieren, aber so was würde Herr Haneke nicht machen. Herr
Haneke hat eigentlich schon etwas Staatstragendes, er ist ein großer
internationaler Künstler, sage ich jetzt ein bisschen sarkastisch. Herr Haneke
begibt sich nicht mehr in die tägliche Grabenschlacht. Er schaut eben, dass er
seine Produktionen macht, was ich auch verstehe. Für mich sind viele österreichische Regisseure relative
„Eigenbrötler“. Im argentinischen Kino zum Beispiel gibt es einen viel stärken
Austausch in der Branche. Hier machen die Produzenten von ganz kleinen bis zu
ganz großen Filmen einfach alles. Ich habe das Gefühl, das ist viel offener.
Bei uns ist das schon etwas sehr Österreichisches: jeder macht so das, was er
will. Das schwächt die österreichische Filmbranche mitunter auch.
Wie ist das mit der
Politik? In Cannes war Kulturministerin Schmied bei der „Amour“-Premiere nicht
vertreten, was Herrn Haneke sehr irritiert hat.
Aus Sicht der Filmemacher hat man in Cannes dieses Jahr ein
hohes Maß an Ignoranz von Seiten der Politik gesehen. Kaum ein Land ist mit
zwei Filmen in Cannes beim Wettbewerb vertreten, und keiner hält es für würdig,
dort offiziell aufzutreten. Das hat auch einen hohen symbolischen Wert. Ich
finde persönlich nicht so wichtig, dass Frau Schmied dort anwesend ist, aber es
hat Signalcharakter. Warum fährt denn der Bundeskanzler, verkleidet wie ein
Kasperl mit einer Windjacke auf die Streif nach Kitzbühel? Weil die Medien dort
sind und weil es eben einen hohen Symbolcharakter hat. Im Grunde genommen hätte
Frau Schmied genau das gleiche machen müssen, Cannes, das war die kulturelle
Streif. Dort waren alle Journalisten, alle haben davon berichtet und sie hätte
eine große Pressewirksamkeit auf sich gezogen. Ich glaube ehrlich, dass es hier
eine ganz große Ignoranz gibt, und zwar nicht nur auf der Ebene der Ministerin,
sondern auch auf der Ebene ihrer Berater, die ihre Termine machen. Ich denke,
dass es dort einfach am Bewusstsein und an der Sensibilität krankt. Wir sind
noch immer autoritär erzogen. Und wenn die Oben was sagen, macht das eben immer
noch Eindruck. Ich finde das einfach schade, dass man das so sehr versäumt hat.
Ich muss positiv anmerken, dass der Wiener Kulturstadtrat Mailath-Pokorny nach
Locarno gefahren ist, wo auch österreichische Filme waren. Das war sein Urlaub!
Auch am Lido war Pokorny bei der Premierenfeier von Ulrich Seidls „Paradies:
Glaube“.
Wo hingegen die
meiste heimische Presse ausgesperrt blieb, mit dem Verweis, es sei eine intime
Team-Feier.
Das ist ein Fehler. Und jetzt sieht man wieder wie alles
zusammenwirkt. Zuerst die Filmemacher, dann die Politiker, und dann hat man
einen Film im Wettbewerb. Der Politiker kommt her, und dann, sage ich mal
völlig unzynisch, wird das vermarktungstechnisch nicht genützt. Das ist ein
Fehler und das darf nicht sein. Nicht einmal die Kronen Zeitung wurde
eingeladen und egal, ob ich jetzt ein großer Freund der Kronen Zeitung bin,
oder nicht. Gerade bei der Viennale versorge ich die Kronen Zeitung mit allem
Material, was ich habe. Ich glaube, dass es bei uns manches Mal ein gewisses
Maß an Unprofessionalität und gar keine Absicht ist, wenn so etwas daneben
geht. Ich glaube nicht, dass sich jemand ernsthaft überlegt den „Standard“
einzuladen, die Krone aber nicht. Es besteht einfach keine optimale
Kommunikation. Das wäre so, als würde ich einen Prominenten zur Viennale
einladen, und dann verstecke ich ihn, das ist doch absurd.
Und vor allem
sinnlos, ihn dann einzuladen.
Es ist nicht nur Unprofessionalität, sondern da fehlt es
einfach auch an Erfahrung. Außerdem fehlt es an sozialer Phantasie: Welche
Leute bringe ich wann und wo zusammen, wie will ich das kommunizieren, das sind
grundlegende Fragen. Ich habe auch den ORF beim Seidl-Fest nicht gesehen, was
mich sehr gewundert hat. Herr Wrabetz war dort, dann würde ich mir sofort den
ORF dort hinbestellen. Mailath-Pokorny hat mir einmal gesagt, es werde ihm
vorgeworfen, sich das ganze Jahr nicht dafür zu interessieren und jetzt stelle
er sich dort hin. Das können unsere Politiker, aber morgen interessiert es sie
eh wieder nicht. Mailath hat ein bisschen verbittert gesagt: Sind wir dort, ist
es falsch, kommen wir nicht, ebenso. Das ist auch was Österreichisches.
Bei aller
Provokation, die Ulrich Seidl mit „Paradies: Glaube“ verursacht hat:
Funktioniert diese Schiene noch?
Ich denke, dass seine Filme viele Leute nicht mehr aufregen.
Ich war etwa in der Pressvorführung von „Paradies: Glaube“ in Venedig, wo über
2.000 Leute waren, doch hier gab es weder Buh-Rufe noch tosenden Applaus. Es
gab auch Lacher während der Vorstellung, und ich hatte nicht den Eindruck, dass
er jetzt an einem gefährlichen Skandal vorbeischrammt. Ich mag es nicht, dass
weiß Herr Seidl auch, wenn er im Persönlichen Leute exponiert, und Leute zu
einfach darstellt und zu wenig ins Detail geht. Es gibt einfach eine Ebene, die
mich stört, und auch befremdet, die ich auch einfach zu billig und
oberflächlich finde. Dann gibt es aber auch die andere Seite, wo er Dinge
hervorbringt, die auch wahnsinnig stark sind. Ich finde, dass „ Paradies
Glaube“ wirklich einer seiner stärkeren Filme geworden ist. Der hat eine
gewisse Kohärenz und Konsistenz, die sich vor allem in den Figuren, Orten,
Erzählungen und Geschichten widerspiegelt. Herr Seidl ist ein großer
realistischer Filmemacher. Er zeigt wirklich Dinge, die ein Österreicher
unmittelbar spürt, etwa die Sprache.
In diesem Film setzt sich Herr Seidl mit etwas auseinander,
was er kennt. Ich bin selbst sehr christlich aufgewachsen. Stellt man sich das
Fegefeuer vor, wo Leute gepfählt werden oder verbrannt werden, kann man sich
schon die Frage stellen: Ist das ein Sadomaso-Film, oder was ist das? Gerade
die katholische Kirche, finde ich, muss doch in diesem Film eine total
verrückte Liebe erkennen zu dem Thema. So einfach ist Herr Seidl nicht, er ist
kein Vernichter. Darum finde ich diesen Film von der Thematik und den Figuren
wirklich stark. Mir hat auch „Jesus, du weißt“ gut gefallen. Das ist etwas, da
ist Herr Seidl zu Hause. Dann gibt es aber den Film „Tierische Liebe“, das weiß
Herr Seidl eh, den finde ich schrecklich. Den werde ich immer schrecklich
finden, dass da ein paar Leute mit Schäferhunden herum schlecken, das ist
einfach cheap.
Sie sind auch bekannt
für Ihre Kritik an den Arbeiten von Michael Haneke.
Ich habe immer eine große Ambivalenz gegenüber Herrn Haneke
verspürt. Filme wie „Funny Games“ oder „Benny’s Video“ haben mich wahnsinnig
befremdet. Diese Filme befassen sich mit der moralischen Haltung, was Gewalt in
Menschen bewirkt, außerdem vermischt er seine eigene Gewaltfaszination hinein.
Das ist, woraus Herr Haneke seine Stärke bezieht, aber auch genau das, was mich
so befremdet. Brecht hat einmal gesagt: „Die Beschreibung einer Verwirrung darf
keine verwirrte Beschreibung sein“. Sondern man muss eine Form finden, die
Verwirrung zu beschreiben und vielleicht ist manchmal die Form, um eine
Verwirrung zu beschreiben, ganz straight und ganz genau. Wenn sich bei Herrn
Seidl oder Herrn Haneke die Dinge anfangen zu vermischen, wo das was sie
zeigen, sie auch ein bisschen geil macht, etwas anklagt und beide auch
fasziniert, dann stört mich das. Es gibt auch in dem neuen Seidl-Film Aspekte,
die mir nicht gefallen. Das habe ich ihm auch gesagt. Die Szene mit der russischen
Nutte fällt aus dem Film heraus, die stimmt einfach nicht. Herr Haneke wiederum
muss nach „Amour“ aufpassen, dass er nicht in einem gewissen Klassizismus
erstarrt. Ich hoffe nicht, dass er jetzt zum Dostojewski wird und sich nur mehr
mit großen Filmen beschäftigt. Das wäre schade, aber das wird man in der
Zukunft sehen. Was ich Herrn Haneke vorwerfe, ist das was man mir genauso
vorwerfen kann: eine gewisse Eitelkeit, eine gewisse Kritiklosigkeit sich
selbst gegenüber, eine gewisse Humorlosigkeit, das werfe ich ihm schon vor. Ich
gehe davon aus, dass das viele Menschen haben und das ist auch etwas
Lebendiges. Wer mich überhaupt nicht interessiert in diesem Zusammenhang ist
Herr Glawogger. Er hat nicht die Radikalität vom Herrn Seidl und das insistierende,
starke Spiel, sondern ist für mich immer noch ein pubertierender Filmemacher.
Der interessiert mich von den bekannten Namen eigentlich am wenigsten.
-Interview: Matthias Greuling