Donnerstag, 25. Oktober 2012

50. Viennale: Hans Hurch über Bundeskanzler, ignorante Politik und Ulrich Seidl

HANS HURCH. Der Langzeit-Direktor der Viennale im ausführlichen Gespräch mit Matthias Greuling über den österreichischen Film, die Ignoranz der Politik und seine zwiespältige Einstellung zu  den Arbeiten von Ulrich Seidl und Michael Haneke.

Matthias Greuling:  Bei der Viennale gibt es nicht so eine Fluktuation wie in Locarno, wo man alle drei Jahre mit jemand neuem spricht. Welchen Wert hat es, wenn man ein Festival so lange prägen kann?
Hans Hurch: Mein Vertrag läuft noch für fünf Festivals, ich werde dann in Summe 20 Viennalen gemacht haben und ich denke, dass das für ein Filmfestival prinzipiell sehr ungewöhnlich ist. Ich bin dann sozusagen 20 Jahre in Amt und Würden, ein halbes Leben lang, und das ist mir auch bewusst. Zu den Nachteilen zählt, dass die Viennale wirklich von einer einzigen Person geprägt wird. Die Viennale arbeitet nicht Film-Programmern oder eine Kommissionsauswahl, sondern einer wählt die Filme aus. Mit meiner Person hat sich dieser Modus sicherlich zugespitzt, das muss ich auch ehrlich zugeben. Wenn eine Haltung, eine Person, ein Stil das Festival sehr stark prägt, dann ist damit auch die Gefahr verbunden, dass ein Festival zu wenig in Bewegung ist und sich zu wenig Veränderungen ergeben. Das Positive an einer lange dauernden Leitungsfunktion ist die Kontinuität, auch im Sinne der  Zusammenarbeit mit dem Team, den Sponsoren, der Politik. Man tut sich wahrscheinlich leichter, wenn man die Leute schon kennt, und auch die Spielregeln, als wenn die Ansprechperson ständig wechseln würde. Ich persönlich finde es sehr schade, dass Olivier Père in Locarno schon nach drei Jahren aufgehört hat. Ich finde das sogar, ohne dass ich das persönlich beurteilen möchte, verantwortungslos. Er hat das Festival geprägt, hat es über die Zeit wieder aufgebaut, hat dem Festival ein neues Gesicht gegeben und hört dann nach drei Jahren auf. Das finde ich sehr schade. Jetzt fängt wieder jemand neuer an, der benötigt wieder ein, zwei Jahre, bis er sich eingearbeitet hat. Kontinuität macht schon Sinn. Wichtig ist aber: Ich bin kein Kulturfunktionär, und ich will auch keiner werden; ob diese Einschätzung richtig ist, müssen bei mir andere Personen beurteilen. Man darf nicht sagen, jetzt habe ich den Job, jetzt bin ich auf der sicheren Seite, denn dann fehlt einem auch das Herz, das Feuer und die Notwendigkeit, das zu machen. Ich habe das Gefühl, dass mich der Beruf trotz aller Durchhänger, die ich hatte, immer noch reizt und ich ihn immer noch gerne mache. Ich merke das immer, wenn ich einen Film sehe, der mir gefällt. Leider sind das nicht mehr allzu viele. Aber wenn ich etwas Ungewöhnliches oder Starkes sehe, da merke ich sofort, wie ich wieder aufwache.
Wie vermeidet man nach so langer Zeit die Betriebsblindheit?
Ich glaube, dass mir der Rhythmus, der durch die Viennale entsteht, sehr zugute kommt. Ich würde mir sehr schwer tun, meine Stunden in einem normalen Job, etwa in einem Filmbüro, abzusitzen. Dann hätte ich im Sommer Urlaub und fahre vielleicht einmal im Jahr auf eine Filmtagung. Hier würde es mir schwer fallen, mich zu motivieren. Gerade die Viennale steigert sich aber hin zum Festivaltermin, und hier hat man Monate zuvor schon gar nicht die Gelegenheit, sich hängen zu lassen.
Hat sich das Festival als Form des Kunstbetriebes im Zeitalter neuer Medien stark verändert?
Ich glaube, dass alles immer einen Gegensatz produziert. Es gibt Feinspitze, die zu McDonald’s gehen, um einen Vergleich heranzuziehen. Ich glaube nicht, dass es eine horizontale Ebene gibt, wodurch die neuen Medien bereits bestehende eliminieren. Mein Gefühl ist, dass immer neue Bedürfnisse generiert werden. Die Viennale hat sich unabhängig von mir verändert, doch die Grundform ist immer noch die gleiche. Für mich ist es einfach eine Bestätigung, dass viele junge Leute, die meine Kinder sein könnten, die Viennale besuchen. Sie leben in der Welt der neuen Medien und schauen sich trotzdem diese Filme an. Hier liegt es dann zum Teil doch an dem alt eingeschworenen Gemeinschaftsgefühl, das Kino ausmacht. Das sehe ich auch bei der Viennale. Die Leute kommen gemeinsam Karten kaufen und machen sich schon vorab aus, wer wo sitzt.
Sie sind bekannt dafür, sich öffentlich sehr kritisch gegenüber dem österreichischen Film zu zeigen. Heuer sind viele heimische Produktionen im Programm, auch, wenn Ulrich Seidl seine Filme letztlich wegen Ihrer Programmierung um 18 Uhr zurückgezogen hat.
Ich kann mich erinnern, als ich irgendwann mal etwas Kritisches über den Glawogger-Film „Slumming“ gesagt habe. Sie haben dann gleich auf die Postkarten gedruckt, Hans Hurch sagt folgendes: „Dieses Rotzbubenkino“. Sie haben mich dann sogar noch gefragt, ob sie das verwenden dürfen. Das ist Marketing!
Woran liegt es, dass der österreichische Film relativ wenige Besucher in die Kinos lockt, und wie kann man das ändern?
Ich glaube, dass die Leute gar keine Vorstellung davon haben, was ein österreichischer Film ist. Ein österreichischer Film kann eine kommerzielle, halblustige Kabarettverfilmung sein, aber auch ein schwerer Haneke-Film. Ich denke, zum österreichischen Film wird man die Leute nie bringen, weil sie sagen: „Ah, ein neuer österreichischer Film“. Vielmehr müssen sie sich gegen die internationale Konkurrenz behaupten, was ich persönlich besonders bei der Viennale bemerke. Ich kann nicht etwas machen, was die Amerikaner zehnmal besser können. Versuchen Sie das mal bei einem Wein!
Man muss sich heute bewähren. Das ist der sogenannte Konkurrenzkapitalismus. Zum Glück gibt es den, und noch keinen Monopolkapitalismus, weil sonst würde es sicher nur mehr amerikanische Filme geben. Ich glaube, es scheitert auch daran, dass wir uns den Luxus einer kulturellen Filmförderung leisten und das sage ich bewusst. Ich finde richtig, dass es eine Mischform von kommerziellen, aber auch kulturellen Formen gibt, was den österreichischen Film komplexer werden lässt. Es trägt aber auch dazu bei, dass es schwierig ist einen österreichischen Film zu vermarkten. Ich kenne jetzt die Zahlen von „Amour“ nicht, aber ich behaupte, dass er 100.000 Zuschauer haben wird, was für einen österreichischen Film im Vergleich sicherlich nicht schlecht ist. Ich finde es manchmal interessant, dass sogar kleine Dokumentarfilme 4.000 bis 5.000 Zuschauer haben und das bedeutet auch was. Es gibt dieses freche Selbstbewusstsein, zu sagen, wir können es so gut wie alle anderen, und schaut euch das an. Vielleicht sollte man noch selbstbewusster artikulieren, aber so was würde Herr Haneke nicht machen. Herr Haneke hat eigentlich schon etwas Staatstragendes, er ist ein großer internationaler Künstler, sage ich jetzt ein bisschen sarkastisch. Herr Haneke begibt sich nicht mehr in die tägliche Grabenschlacht. Er schaut eben, dass er seine Produktionen macht, was ich auch verstehe. Für mich sind  viele österreichische Regisseure relative „Eigenbrötler“. Im argentinischen Kino zum Beispiel gibt es einen viel stärken Austausch in der Branche. Hier machen die Produzenten von ganz kleinen bis zu ganz großen Filmen einfach alles. Ich habe das Gefühl, das ist viel offener. Bei uns ist das schon etwas sehr Österreichisches: jeder macht so das, was er will. Das schwächt die österreichische Filmbranche mitunter auch.
Wie ist das mit der Politik? In Cannes war Kulturministerin Schmied bei der „Amour“-Premiere nicht vertreten, was Herrn Haneke sehr irritiert hat.
Aus Sicht der Filmemacher hat man in Cannes dieses Jahr ein hohes Maß an Ignoranz von Seiten der Politik gesehen. Kaum ein Land ist mit zwei Filmen in Cannes beim Wettbewerb vertreten, und keiner hält es für würdig, dort offiziell aufzutreten. Das hat auch einen hohen symbolischen Wert. Ich finde persönlich nicht so wichtig, dass Frau Schmied dort anwesend ist, aber es hat Signalcharakter. Warum fährt denn der Bundeskanzler, verkleidet wie ein Kasperl mit einer Windjacke auf die Streif nach Kitzbühel? Weil die Medien dort sind und weil es eben einen hohen Symbolcharakter hat. Im Grunde genommen hätte Frau Schmied genau das gleiche machen müssen, Cannes, das war die kulturelle Streif. Dort waren alle Journalisten, alle haben davon berichtet und sie hätte eine große Pressewirksamkeit auf sich gezogen. Ich glaube ehrlich, dass es hier eine ganz große Ignoranz gibt, und zwar nicht nur auf der Ebene der Ministerin, sondern auch auf der Ebene ihrer Berater, die ihre Termine machen. Ich denke, dass es dort einfach am Bewusstsein und an der Sensibilität krankt. Wir sind noch immer autoritär erzogen. Und wenn die Oben was sagen, macht das eben immer noch Eindruck. Ich finde das einfach schade, dass man das so sehr versäumt hat. Ich muss positiv anmerken, dass der Wiener Kulturstadtrat Mailath-Pokorny nach Locarno gefahren ist, wo auch österreichische Filme waren. Das war sein Urlaub! Auch am Lido war Pokorny bei der Premierenfeier von Ulrich Seidls „Paradies: Glaube“.
Wo hingegen die meiste heimische Presse ausgesperrt blieb, mit dem Verweis, es sei eine intime Team-Feier.
Das ist ein Fehler. Und jetzt sieht man wieder wie alles zusammenwirkt. Zuerst die Filmemacher, dann die Politiker, und dann hat man einen Film im Wettbewerb. Der Politiker kommt her, und dann, sage ich mal völlig unzynisch, wird das vermarktungstechnisch nicht genützt. Das ist ein Fehler und das darf nicht sein. Nicht einmal die Kronen Zeitung wurde eingeladen und egal, ob ich jetzt ein großer Freund der Kronen Zeitung bin, oder nicht. Gerade bei der Viennale versorge ich die Kronen Zeitung mit allem Material, was ich habe. Ich glaube, dass es bei uns manches Mal ein gewisses Maß an Unprofessionalität und gar keine Absicht ist, wenn so etwas daneben geht. Ich glaube nicht, dass sich jemand ernsthaft überlegt den „Standard“ einzuladen, die Krone aber nicht. Es besteht einfach keine optimale Kommunikation. Das wäre so, als würde ich einen Prominenten zur Viennale einladen, und dann verstecke ich ihn, das ist doch absurd.
Und vor allem sinnlos, ihn dann einzuladen.
Es ist nicht nur Unprofessionalität, sondern da fehlt es einfach auch an Erfahrung. Außerdem fehlt es an sozialer Phantasie: Welche Leute bringe ich wann und wo zusammen, wie will ich das kommunizieren, das sind grundlegende Fragen. Ich habe auch den ORF beim Seidl-Fest nicht gesehen, was mich sehr gewundert hat. Herr Wrabetz war dort, dann würde ich mir sofort den ORF dort hinbestellen. Mailath-Pokorny hat mir einmal gesagt, es werde ihm vorgeworfen, sich das ganze Jahr nicht dafür zu interessieren und jetzt stelle er sich dort hin. Das können unsere Politiker, aber morgen interessiert es sie eh wieder nicht. Mailath hat ein bisschen verbittert gesagt: Sind wir dort, ist es falsch, kommen wir nicht, ebenso. Das ist auch was Österreichisches.
Bei aller Provokation, die Ulrich Seidl mit „Paradies: Glaube“ verursacht hat: Funktioniert diese Schiene noch?
Ich denke, dass seine Filme viele Leute nicht mehr aufregen. Ich war etwa in der Pressvorführung von „Paradies: Glaube“ in Venedig, wo über 2.000 Leute waren, doch hier gab es weder Buh-Rufe noch tosenden Applaus. Es gab auch Lacher während der Vorstellung, und ich hatte nicht den Eindruck, dass er jetzt an einem gefährlichen Skandal vorbeischrammt. Ich mag es nicht, dass weiß Herr Seidl auch, wenn er im Persönlichen Leute exponiert, und Leute zu einfach darstellt und zu wenig ins Detail geht. Es gibt einfach eine Ebene, die mich stört, und auch befremdet, die ich auch einfach zu billig und oberflächlich finde. Dann gibt es aber auch die andere Seite, wo er Dinge hervorbringt, die auch wahnsinnig stark sind. Ich finde, dass „ Paradies Glaube“ wirklich einer seiner stärkeren Filme geworden ist. Der hat eine gewisse Kohärenz und Konsistenz, die sich vor allem in den Figuren, Orten, Erzählungen und Geschichten widerspiegelt. Herr Seidl ist ein großer realistischer Filmemacher. Er zeigt wirklich Dinge, die ein Österreicher unmittelbar spürt, etwa die Sprache.
In diesem Film setzt sich Herr Seidl mit etwas auseinander, was er kennt. Ich bin selbst sehr christlich aufgewachsen. Stellt man sich das Fegefeuer vor, wo Leute gepfählt werden oder verbrannt werden, kann man sich schon die Frage stellen: Ist das ein Sadomaso-Film, oder was ist das? Gerade die katholische Kirche, finde ich, muss doch in diesem Film eine total verrückte Liebe erkennen zu dem Thema. So einfach ist Herr Seidl nicht, er ist kein Vernichter. Darum finde ich diesen Film von der Thematik und den Figuren wirklich stark. Mir hat auch „Jesus, du weißt“ gut gefallen. Das ist etwas, da ist Herr Seidl zu Hause. Dann gibt es aber den Film „Tierische Liebe“, das weiß Herr Seidl eh, den finde ich schrecklich. Den werde ich immer schrecklich finden, dass da ein paar Leute mit Schäferhunden herum schlecken, das ist einfach cheap.
Sie sind auch bekannt für Ihre Kritik an den Arbeiten von Michael Haneke.
Ich habe immer eine große Ambivalenz gegenüber Herrn Haneke verspürt. Filme wie „Funny Games“ oder „Benny’s Video“ haben mich wahnsinnig befremdet. Diese Filme befassen sich mit der moralischen Haltung, was Gewalt in Menschen bewirkt, außerdem vermischt er seine eigene Gewaltfaszination hinein. Das ist, woraus Herr Haneke seine Stärke bezieht, aber auch genau das, was mich so befremdet. Brecht hat einmal gesagt: „Die Beschreibung einer Verwirrung darf keine verwirrte Beschreibung sein“. Sondern man muss eine Form finden, die Verwirrung zu beschreiben und vielleicht ist manchmal die Form, um eine Verwirrung zu beschreiben, ganz straight und ganz genau. Wenn sich bei Herrn Seidl oder Herrn Haneke die Dinge anfangen zu vermischen, wo das was sie zeigen, sie auch ein bisschen geil macht, etwas anklagt und beide auch fasziniert, dann stört mich das. Es gibt auch in dem neuen Seidl-Film Aspekte, die mir nicht gefallen. Das habe ich ihm auch gesagt. Die Szene mit der russischen Nutte fällt aus dem Film heraus, die stimmt einfach nicht. Herr Haneke wiederum muss nach „Amour“ aufpassen, dass er nicht in einem gewissen Klassizismus erstarrt. Ich hoffe nicht, dass er jetzt zum Dostojewski wird und sich nur mehr mit großen Filmen beschäftigt. Das wäre schade, aber das wird man in der Zukunft sehen. Was ich Herrn Haneke vorwerfe, ist das was man mir genauso vorwerfen kann: eine gewisse Eitelkeit, eine gewisse Kritiklosigkeit sich selbst gegenüber, eine gewisse Humorlosigkeit, das werfe ich ihm schon vor. Ich gehe davon aus, dass das viele Menschen haben und das ist auch etwas Lebendiges. Wer mich überhaupt nicht interessiert in diesem Zusammenhang ist Herr Glawogger. Er hat nicht die Radikalität vom Herrn Seidl und das insistierende, starke Spiel, sondern ist für mich immer noch ein pubertierender Filmemacher. Der interessiert mich von den bekannten Namen eigentlich am wenigsten.



-Interview: Matthias Greuling

Montag, 10. September 2012

Venedig-Preise: Vertrauen statt Dogmatismus

Es war eine stark religiös geprägte Mostra del cinema von Venedig, im Jahr eins des neuen Programm-Machers Alberto Barbera. Da gab es eine Anzeige wegen Blasphemie gegen Ulrich Seidls „Paradies: Glaube“, da gab es charismatisch-fanatische Sektenführer in Paul Thomas Andersons „The Master“, oder auch die „Pieta“, zumindest im Titel des gleichnamigen Films des Koreaners Kim Ki-duk, der am Ende als großer Sieger dastand und den Goldenen Löwen bekam. Die Jury rund um US-Regisseur Michael Mann („Collateral“) hat die Glaubens-Programmatik bei der Preisvergabe mitgetragen und damit vielleicht ein kleines Ausrufezeichen dahingehend gegeben, wie wichtig im Menschsein die Verquickung von Religion und Alltag noch immer ist. Oder: Heute wieder ist.
Für Ulrich Seidl war es ein „Zufall“, wie er betonte, dass der zweite Teil seiner „Paradies“-Trilogie mit dem Titel „Glaube“ ausgerechnet im katholischen Italien zur Uraufführung gelangte; für Festival-Beobachter ist diese Positionierung hingegen nur logisch: Nirgends sonst hätte Seidl mit der inzwischen legendären Masturbationsszene mit dem Kruzifix mehr Aufsehen erregt als hier am Lido – prompt ging die Taktik auf, italienische Medien schrieben von einem Skandal und die ultrakonservative katholische Gruppierung NO 194 (die ihren Namen aus dem italienischen Gesetzesparagrafen für Abtreibung bezieht, gegen den sie auftritt) zeigte Seidl und das Festival wegen Blasphemie an.
Dass Seidl nun den Spezialpreis der Jury für seine Geschichte über eine missionierende Krankenschwester (Maria Hofstätter) bekam, ist wie ein Kontrapunkt zum Sturm der Entrüstung. Es ist aber auch, und erneut, eine Art Trostpreis: Schon 2001 hatte Seidl genau denselben Preis für „Hundstage“ erhalten, und damals wie heute hätte er durchaus den Goldenen Löwen verdient. Aber auch das ist Realität im Kunstbetrieb: Als Künstler muss man oft jahrzehntelang reifen, ehe sich Festival-Jurys zu einem Hauptpreis hinreißen lassen: Michael Hanekes etwa hatte seit 1997 jeden Kinofilm in Cannes im Wettbewerb gezeigt, etliche Preise gewonnen und erst 2009 für „Das weiße Band“ die Goldene Palme geholt. Es war nicht sein bester Film. 2012 wiederholte er das Kunststück mit „Liebe“.
Goldene Löwen, Palmen, Bären, das sind eben oft auch Preise für ein ganzes Lebenswerk von Künstlern mit eigener und eigenwilliger Handschrift. Nicht anders verhält es sich mit „Pieta“ von Kim Ki-duk. Der Mann, der die letzten paar Jahre als Einsiedler in einer Waldhütte verbrachte, um durch eine schwere Depression zu gehen, zeigte sich mit seinem neuen Film in alter Form und hat – nach mehreren Anläufen und einem Silbernen Regie-Löwen für „Bin-jip“ (2004) – nun die Gold-Version erhalten. Kim Ki-duks Kino ist voller archaischer Gewalt, es ist pessimistisch und depressiv, da macht auch „Pieta“ keine Ausnahme. Im Zentrum steht ein junger Mann, der als brutaler Geldeintreiber arbeitet. Eines Tages taucht eine Frau auf, die behauptet, seine Mutter zu sein, die ihn nach seiner Geburt ablehnte und nun um Gnade bittet. Eine Katastrophe in der nur noch zaghaft vorhandenen Gefühlswelt dieses Mannes, die am Ende zum umgekehrten Bild führt, dass man von der Pietà hat: Hier schmiegt sich ein Sohn an die tote Mutter, und es sieht so aus, dass all seine Gewalt hätte verhindert werden können, wäre er nur rechtzeitig geliebt worden. „Pieta“ ist ein würdiger Preisträger, aber er ist eben auch eine Auszeichnung fürs Lebenswerk dieses Regisseurs, der in all seinen Filmen die Gewalt als einzig passende Darstellungsform von Liebe benutzt, niemals aus dem Drang heraus, zu provozieren. Darin ähnelt er wiederum Seidl, der Provokation als Triebfeder für seine Filmschilderungen stets abgelehnt hat, sondern lieber darauf verweist, nur die Wirklichkeit menschlicher Abgründe abbilden zu wollen.
Der dritte im Bunde der Preisträger ist „The Master“, Paul Thomas Andersons Sekten-Drama, der für die beste Regie sowie für die Darsteller Philip Seymour Hoffman und Joaquin Phoenix prämiert wurde. Erzählt wird die Relation eines charismatischen Sektenführers (Hofmann) zu seinem am Leben gescheiterten Jünger (Phoenix) zwischen Hörigkeit, Skepsis und Fanatismus – die perfekte Ergänzung zum Religions-Thema dieser 69. Mostra, denn gerade dieser Film zeigte: Glaube funktioniert nicht über Dogmatismus, sondern allein über Vertrauen.
Matthias Greuling, Venedig

Donnerstag, 6. September 2012

Robert Redford: Geradliniges Suspense-Drama in Venedig

Die Message ist simpel: Die großen Fische der Wall Street werden durch die Krise noch reicher, als sie ohnehin schon sind, die Durchschnittsbevölkerung wird darunter leiden, die Republikaner hätten es in ihrer Wahlkampfstrategie bloß auf jenes eine Prozent der US-Bürger abgesehen, die man gemeinhin die „Superreichen“ nennt, und Obama ist der einzige Hoffnungsträger.

"The Company You Keep", von und mit Robert Redford (Foto: La Biennale di Venezia)
Robert Redford hat sich bei seinem Auftritt in Venedig gewohnt politisch geäußert; der 76-jährige Schauspieler, Regisseur und Sundance-Filmfestival-Gründer, der für seine Fans längst Legendenstatus hat, ist mit einem neuen Film im Gepäck angereist, und, erraten: es handelt sich um ein Polit-Suspense-Drama. Denn Redford lebt dafür, mit seinen Filmen auch relevante Aussagen zum Zustand der Politik zu treffen. „The Company You Keep“, in Venedig außer Konkurrenz gelaufen, befasst sich mit einem wahren Ereignis der US-Geschichte, aber Redford interessiert weniger das Historische an der Buchvorlage von Neil Gordon, sondern die Auswirkung einstiger Ereignisse auf das Heute. In seiner letzten Regiearbeit „Die Lincoln Verschwörung“ (2010) hat er das noch im historischen Gewand versucht, als er zwischen den Zeilen einen Brückenschlag vom 19. Jahrhundert zum Post-9/11-Trauma zog. Jetzt hingegen verhandelt er aus heutiger Sicht lange zurückliegende Ereignisse.
Redford spielt den Anwalt Jim Grant, der von dem jungen Journalisten Ben Shepard (Shia LaBeouf) mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird: Vor 30 Jahren war Grant Mitglied einer bis heute untergetauchten Terrorgruppe, die mit Anschlägen unter anderem gegen den Vietnam-Krieg protestierten. Als Shepard Grants wahre Identität lüftet, wird Grant zum Gejagten und taucht unter. Ein solide inszeniertes und ebenso gespieltes Polit-Drama, das diese wahren Ereignisse rund um das radikale Manifest von „The Weather Underground“ thematisiert. Diese linksextreme Gruppierung ging in den 60er und 70er Jahren in den USA mit Bombenanschlägen gegen Regierungsgebäude vor, auch, um ihren Frust über die Kriegs-(Vietnam-)Politik der Mächtigen abzubauen.
„Für mich war es an der Zeit, diesen Teil unserer Geschichte fürs Kino zu erzählen“, sagte Redford in Venedig. „Aus heutiger Sicht kann man die Ereignisse der radikalen Antikriegs-Protestbewegung als Teil der amerikanischen Geschichte betrachten. Ich konnte mir einen Blick hinter die Kulissen der Geschichte erlauben, und betrachte nun, was jene Menschen, die damals aktiv waren, heute, 30 Jahre später, tun“. Die Protestler von einst haben sich falsche Identitäten zugelegt und lebten jahrzehntelang unentdeckt. „Das hat für mich etwas von ‚Les Misérables‘“, so Redford. „Da ist also jemand, der sich einen neuen Namen gibt, ein neues Leben, Kinder bekommt, aber am Ende weiß er: Er wird bis an sein Lebensende gejagt werden. Mich hat interessiert, wie diese Menschen mit solchem Druck umgehen und ob sie ihre Einstellung zu ihrem damaligen Handeln ändern oder nicht“.

Redford hat „The Company You Keep” als effektarmes, aber suspensegeladenes Drama inszeniert, das mit viel Dialog hantiert, ohne sich jemals zum Sprechstück zu reduzieren. Redfords Regie und auch sein Spiel sind überaus geradlinig, und das ist eine beinahe schon gängige Eigenschaft des anspruchsvolleren US-Unterhaltungskinos: Es will eine Message transportieren, und die soll von jedem verstanden werden. Genauso wie Redfords eindeutige Wahlempfehlung für Obama.

Dienstag, 4. September 2012

Olivier Assayas über "Après Mai" in Venedig

„Dieser Film ist wirklich sehr persönlich“, sagt der französische Regisseur Olivier Assayas. „Après Mai“, in Venedig im Wettbewerb zu sehen, ist die Geschichte von jugendlichen Revoluzzern, die in den 70er Jahren in der Pariser Vorstadt für Unruhe sorgen, Protestplakate malen, Sprayer-Aktionen durchführen und Flugzettel mit politischen Parolen drucken – um gegen bestehende soziale und politische Verhältnisse aufzubegehren. In meinem Interview spricht der 57-Jährige über seinen Film.

Monsieur Assayas, inwieweit erzählt „Après Mai“ auch ihre eigene Jugendgeschichte?
Olivier Assayas: Es ist mein persönlichster Film bisher. Aber ich glaube nicht an ein autobiografisches Kino, und nicht alles, was man im Film sieht, ist tatsächlich passiert. Was mir wichtiger war, ist, eine gewisse Stimmung der 70er Jahre, so wie ich sie erlebt habe, einzufangen. Das beginnt ja bei den Drehorten, beim Dekor und den Autos. Auch bei der Kleidung, ja sogar bei den Flugzetteln, die wir damals von Hand druckten. Oder die Plattencover von damals. Das sind alles Dinge, die meine Generation definiert haben. Nach meinem Film „Carlos“ (2010) über den gleichnamigen Terroristen, der ja auch in den 70er Jahren spielt, hatte ich das Gefühl, diese Zeit nicht nur aus politischer, sondern auch aus persönlicher Sicht wiedergeben zu müssen. Das passiert mir häufig bei meinen Filmen: Dass sie sich quasi automatisch ergeben und sich mir aufdrängen.


"Après Mai" von Olivier Assayas (Foto: La Biennale di Venezia)
Dabei ist ihnen wichtig, nicht von der 68er-Generation zu berichten, sondern bewusst von jener Zeit der 70er Jahre, in denen Revolutionen jeder Art gerade bei der Jugend beliebt waren.
Genau. Die 70er waren eine Zeit, in denen man so ziemlich alles ausprobiert hat, was möglich ist. Das hat es zuvor und auch danach nie mehr gegeben. Ich schildere die sehr naiven Träume junger Menschen von damals, wie ich auch einer war. Alle erträumten sich eine bessere Welt und dachten, das sie wirklich etwas verändern könnten. Erst in den 80ern wurden sie alle brutal in die Realität zurückgeholt.

Gerade auf der optischen Ebene funktioniert „Après Mai“ hervorragend. Die Stimmung ist ganz wunderbar rekonstruiert. Wie gehen Sie dabei vor? Steht das alles bereits im Drehbuch?
Nein, gar nicht. Ich bin ein sehr knapp formulierender Drehbuchschreiber. Denn wenn ich da alles reinschreiben würde, was ich mir denke, würde mich das später beim Drehen verrückt machen, geradezu einengen. Ich mag es lieber, wenn ich die Geschichte nach dem Schreiben am Set noch weiterentwickeln kann. Bis zu einem gewissen Grad muss man natürlich vorplanen, wegen der Geldgeber und auch wegen der Schauspieler, die das Drehbuch ja als Arbeitsunterlage brauchen. Aber die visuelle Gestaltung lasse ich mir völlig offen, um den Stoff ständig überarbeiten und verbessern zu können.

Im Film geht es auch um Liebe und sexuelle Erfahrungen, dennoch scheinen diese Dinge anders als noch bei den 68ern eine Nebenrolle zu spielen.
Damals in dem Alter fühlte es sich normal an, sich eher politisch oder künstlerisch zu engagieren als emotional. Ich erinnere mich, dass ich stets ein Beobachter der sexuellen Revolution der 60er war. Damals war das „Ich“ in einer Liebesaffäre nicht sehr bedeutend. In heutigen Filmen sind Jugendliche oft fanatisch obsessiv, wenn es um Sex geht; sie sind getrieben von Lust – solche Porträts finde ich grotesk. Die 70er brachten sicher ein Freiheitsdenken in sexueller Hinsicht, vor allem, weil Sex bis dahin kaum diskutiert wurde. Aber im Vordergrund stand nie der Sex, sondern immer die Sache, für die gerade gekämpft wurde. Die eigenen Emotionen waren sicher nicht das Zentrum der Welt.

Matthias Greuling, Venedig

Sonntag, 2. September 2012

Wunderschön: "To the Wonder" von Terrence Malick in Venedig

Mit dem Alter wird dieser Mann offenbar richtig produktiv: Terrence Malick („Badlands“, „The Tree of Life“) hat bisher in 40 Jahren nur sechs abendfüllende Spielfilme gedreht, zwischen denen manchmal sogar 20 Jahre lagen. Aber mit 69 hat der öffentlichkeitsscheue Regisseur, der 2011 die Goldene Palme für „The Tree of Life“ bekam, gleich vier neue Filme in Planung, drei davon sollen 2013 erscheinen. Dafür macht sich der Regisseur rar: Malick tritt nie in der Öffentlichkeit auf, es gibt kein aktuelles Foto von ihm, nur eines, das mindestens 15 Jahre alt ist.


Ben Affleck und Rachel McAdams in Terrence Malicks
"To the Wonder" (Foto: La Biennale di Venezia)
Dieser Ausnahmekünstler hat seinen späten, intensiven Schaffensdrang nun mit seinem neuesten Film bestätigt: „To the Wonder“, ein elegisches, aber auch episches Liebesdrama, wurde bei seiner Presse-Premiere im Wettbewerb um den Goldenen Löwen in Venedig gleichermaßen mit Applaus und Buh-Rufen bedacht; viele Kritiker sprachen in ersten Reaktionen von einer inhaltsleeren Restverwertung von „Tree fo Life“, auch, weil der Film in diesem ganz eigentümlichen visuellen Stil einer sich ständig bewegenden Untersicht verbleibt, die schon „Tree of Life“ eine beinahe kindliche Perspektive auf die Welt verlieh. Andere monierten die offensichtliche Verliebtheit des Regisseurs in die wunderschönen Züge seiner russischen Hauptdarstellerin Olga Kurylenko; das Ex-Bond-Girl aus „Ein Quantum Trost“ lässt sich als (traum-)tänzerische Frau auf der Suche nach wahrer Liebe sprichwörtlich  in die Arme von Ben Affleck fallen und (lust)wandelt einer Ballerina gleich durch unzählige Sonnenauf- und –untergänge. Eine Altherrenphantasie sei das, eine ästhetisierte Fleischbeschau zwischen sexy Augenaufschlag und Körperbildern einer elfenhaften Kindfrau.
Natürlich, so kann man diesen Film sehen, aber man kann auch hinter den Effekt von Malicks Bildern blicken, auf den Kern dieser poetischen, feinsinnigen Abbildung über das Betrügen und über das Betrogenwerden. Die Geschichte erschließt sich über die sehnsüchtigen Bilder und die noch sehnsüchtigeren Voice-Over-Texte der Protagonisten. Klassisch filmisch aufgelöste Szenen und Sequenzen gibt es hier nicht, alles gleitet wundersam ineinander, ist ein ruhiger Fluss ohne sichtbare Ufer, wie das Leben selbst. Die Struktur des Films gleicht mehr einer fließenden, nach allen Richtungen offenen Komposition denn einer abgeschlossenen Filmerzählung im 3-Akte-Schema.
„To the Wonder“ beginnt als Liebesromanze am Mont St. Michel in Frankreich, zu dem das verliebte Paar Marina und Neil (Kurylenko, Affleck) pilgert. „We climbed up the steps to the wonder“, heißt es im Off, während sie die Stufen emporsteigen und oben in gemeinsamer Glückseligkeit verharren. Später wird man in „To the Wonder“ wieder Stufen sehen, auf die Malick überdeutlich hinweist; es sind die Stufen zu einem Stundenhotel, in dem Marina Neil mit einem Fremden betrügen wird, weil sich in ihrer Gefühlswelt so einiges verschoben hat. Aber auch Neil wird mit seiner Jugendliebe Jane (Rachel McAdams) intim. Ein Priester (Javier Bardem) zweifelt dazwischen immer wieder an seiner Gottes-Berufung und bringt damit Malicks Thema auf den Punkt: Das Konzept einer lebenslangen, ewig lodernden Liebe darf zumindest angezweifelt werden, und niemand kann darauf vertrauen, die  eigenen Gefühle auf Dauer bändigen zu können.
„To the Wonder“ ist zudem ein Zeugnis von Terrence Malicks ungeheurem Urverständnis für die Ästhetik der Natur und die überwältigende Kraft der tiefstehenden Sonne, die alles Tun in ihrem Lichte romantisiert, verklärt, aber auch bedrohlich werden lassen kann. Der visuelle Link zu „Tree of Life“ weist aber keine Resteverwertung übriggebliebener Ideen auf, sondern erweitert das Spektrum des Familiendramas um den Aspekt der romantischen Verklärung zwischenmenschlicher Beziehungen, aus denen es meist ein böses Erwachen gibt. „To the Wonder“ ist eine visuell wie auch erzählerisch intelligente Auseinandersetzung mit der „Lust & Trust“-Unvereinbarkeit modernen Zusammenlebens. Er ist aber auch eine betörend schöne Abbildung seelischer Pein und sehnsüchtiger Erwartung. Wenn Olga Kurylenko den ganzen Film über immer wieder im Spitzlicht der Sonne tanzt, dann sind das schwebend-leichtfüßige Momente voller kinematografischer Kraft, in einem der schönsten Filme seit vielen Jahren.
- Matthias Greuling, Venedig

Samstag, 1. September 2012

Ulrich Seidl im Video-Interview zu Paradies: Glaube

Beim Filmfestival von Venedig habe ich heute Ulrich Seidl zum Gespräch getroffen, und erste Video-Ausschnitte daraus gibt es nun hier:



Matthias Greuling, Venedig

Jesus ein Dildo? "Paradies: Glaube" von Ulrich Seidl in Venedig

Am Anfang steht die Selbstgeißelung, am Ende hat die Person die Rute, mit der sie sich selbst auspeitscht, gegen jemand anderen gerichtet. Dazwischen wird gebetet und gekämpft, begehrt und bekehrt, in Versuchung geführt und gefoltert. Nachdem „Paradies: Liebe“ bereits in Cannes aufgeführt wurde, hatte Ulrich Seidls „Paradies: Glaube“, der zweite Teil dieser Trilogie, nun beim Filmfestival von Venedig Premiere. Es gibt kaum einen passenderen Ort als das katholische Italien, um über Religion und ihre komplexen Auswirkungen auf unseren Alltag zu sprechen.

Maria Hofstätter als Anna Maria in "Paradies: Glaube" (Foto: Stadtkino)
Eine Frau, sie heißt Anna Maria (Maria Hofstätter), will die Sünde von der Erde nehmen und wandert mit ihren hölzernen Madonnenstatuen von Haustür zu Haustür, um die Gottlosen dahinter zur Umkehr zu bringen. Sie tut dies mit Nachdruck; aber sie hat kaum Erfolg. Niemand von all jenen, die Seidl hier mit seiner Kamera besucht, hält viel von der katholischen Lehre, nicht das in wilder Ehe lebende, ältere Paar, nicht die junge Russin, die ihren Gott im Alkohol gefunden hat. Auch nicht der Messie in seiner Unordnung,  der nur mehr am Totenbett der Mutter Platz für die Wandermadonna hat und nicht einmal das Vater Unser auswendig kann.
Die eigentliche Erzählung in „Paradies: Glaube“  findet aber  im Eigenheim der Predigerin statt; dort lebt sie allein, bis ihr lange Zeit verschwundener Ehemann, ein Muslim aus Ägypten (Nabil Saleh), plötzlich wieder auftaucht. Er sitzt im Rollstuhl, ist auf ihre Hilfe angewiesen, und bald schon wird Anna Maria, die sich erst nach seinem Verschwinden ihrer Liebe zu Jesus hingab, einen regelrechten Kleinkrieg gegen ihren Mann führen. Er will ihre Zuneigung, sie will in Keuschheit leben, allerhöchstens nur mehr Gott selbst an ihr Fleisch lassen. Interessant, wie Seidl den Muslimen hier als durchaus gemäßigt zeichnet, während seine fanatische Ehefrau den katholischen Glauben als radikal-fundamentale Lebensaufgabe begreift.
Seidl verhandelt hier die Rangelei zweier großer Weltreligionen anhand ihrer kleinsten denkbaren Einheit: Die Familie ist in allen Religionen heilig, und „in allen Religionen hättest du die Pflicht, als Ehefrau abzuwaschen und zu putzen“, sagt ihr der erzürnte Ehemann. Später beschimpft er sie als Hure, „eine Hure, wie alle in Österreich“. Der Muslim wird vom Rollstuhl aus all ihre in jedem Raum montierten Kreuze von den Wänden schlagen und auch das Foto von Papst Benedikt XVI. in der Küche. Sie wird ihm dafür den Rollstuhl verstecken und  ihren Herrn anrufen: „Warum strafst du mich so?“
"Wir sind treu bis in den Tod" (Foto: La Biennale di Venezia)
Dazwischen blitzt immer wieder auch Fanatismus auf. In der Bibelrunde skandiert Anna Maria mit anderen Gläubigen „Wir sind die Sturmtruppe des Glaubens“ und „Wir sind treu bis in den Tod. Wir schwören, dass Österreich wieder katholisch wird“.
Man kann „Paradies: Glaube“  als Provokation auffassen, als ein Ausspielen der Religionen gegeneinander, als eine gewitzt-einfallsreiche Sadisten-Beziehung voller (Selbst-)Folter, die ihre Methoden unter dem Deckmantel des Glaubens legitimiert. Aber das wäre nur die Oberfläche. Denn darunter liegt, wie so oft bei Seidl, nicht bloße Provokation, sondern ein ganzer Fragenkatalog, den er stellen will. Es wäre zu einfach, den Film als provokantes, aber simples Pamphlet für die Fragen unserer Zeit abzutun; dafür zeigen seine Figuren zu viele Ambivalenzen in ihrem Verhältnis zueinander, und in ihrem Verhältnis zu Gott. Nein, hier sind es Verzweiflungstäter, die zwischen Gottvertrauen und Lebenslust hin- und hergerissen scheinen und die zur Stillung ihrer natürlichen Triebe gerne auch mal mit Jesus am Kreuze zu Bett gehen und sich damit selbstbefriedigen. Wenig überraschend orteten nach der Pressevorstellung einige italienische Medien aufgrund dieser Szene bereits einen handfesten Skandal.
Stilistisch arbeitet Seidl noch intensiver als in „Paradies: Liebe“ mit der von ihm so geliebten Cadrage, in der er seine Figuren zentriert anordnet. Aber wie auch in „Liebe“ ist der ursprünglich als Einteiler angelegte Episodenfilm, den Seidl auf drei Filme ausbreitet, voller  repetitiver Elemente, langatmig fast, wenig effizient in seiner Erzählstruktur. Bei „Glaube“ erscheint dies aber als nachvollziehbares Stilmittel, denn auch die Predigt des immer gleichen Gottglaubens kennt die Elemente der penetranten Wiederholung. Die visuelle Form von „Paradies: Glaube“ illustriert damit perfekt die von Anna Maria leidenschaftlich gelebte Askese, die sich in der quälenden Langsamkeit des Films manifestiert.
Seidl hat mit „Paradies:Glaube“ aber auch eine sehr persönliche Geschichte erzählt: „Ich bin stark katholisch geprägt, entstamme einem sehr religiösen Elternhaus, habe christliche Internatsschulen besucht. Aber in meiner Jugend habe ich rebelliert gegen die Autorität, die Verlogenheit, die Scheinmoral der Kirche“. Eine Abrechnung mit dem katholischen Glauben ist der Film dennoch nicht geworden. Seidl:  „Wir leben in einer Gesellschaft, die über Jahrhunderte katholisch geprägt war. Ich trage die urchristlichen Werte in mir. Davon kann man kann sich nicht lösen.“  
Matthias Greuling, Venedig

Donnerstag, 30. August 2012

"The Iceman": Nicht Held, nicht Unmensch

Um neun Uhr morgens hat man uns in Venedig heute einen brutalen Killer-Thriller gezeigt: „The Iceman“ von Ariel Vromen handelt von Richie Kuklinski, einem Auftragskiller, der lange Jahre ein Doppelleben führte: Für die Mafia tötete er über 100 Menschen, während er daheim den liebenden Familienvater spielte. Diese wahre Geschichte ist Grundlage für den Film, der mit Michael Shannon in der Rolle von Kuklinski, Winona Ryder als seine nichtsahnende Ehefrau und Ray Liotta als Mafioso prominent besetzt ist.

Natürlich sind morgendlich konsumierte brutale Filmmorde nicht jedem Magen zuzumuten, und Vromen legt sich auch ordentlich ins Zeug, um den Killer in all seiner Kaltblütigkeit in einem kühl-distanzierten 70er-Jahre-Dekor abzubilden; die Hauptarbeit der an sich überaus konventionellen Inszenierung leistet dabei aber Michael Shannon – in punkto gespielter Härte hat er damit eine Glanzleistung gebracht.
Kalt, kälter, Michael Shannon: Als "The Iceman" ist er der brutalste Auftragskiller
weit und breit. Foto: La Biennale di Venezia
Dass „The Iceman“ die im Kino gar nicht mehr so übliche Perspektive eines fiesen, real existierenden Killers einnimmt, der ein ambivalentes Dasein zwischen Brutalität und Familienleben führt, ist vielleicht der Unique Selling Point dieser Geschichte; ist jemand, wenn er böse ist, dann wirklich ausschließlich böse? Natürlich nicht, und das zeigt „The Iceman“ deutlich. Einen Helden hat Vromen aus Kuklinski nicht gemacht, aber auch keinen Unmenschen. Trotzdem bleibt das Innenleben dieser Figur rätselhaft, denn niemals zeigt „The Iceman“, wie der Killer wirklich tickt. Das wäre famos gegen das erklärungswütige US-Kino gerichtet, hätte Vromen diese Machart durchgehalten. Eine ausführliche Biografie mit dem gängigen Herleitungsmuster für derlei Straftaten lieferte das Drehbuch mit, schaffte es aber zum Glück nicht in den Film. Denn dann würde er ja in die Falle gängiger Hollywood-Dramaturgien tappen, die das Verhalten eines Täters zumeist watscheneinfach auf eine verhunzte Kindheit reduziert. Ganz lassen konnte Vromen diese Anspielung auf die missratene Jugend Kuklinskis dann aber doch nicht. Sehr ärgerlich.
Dann schon lieber nichts wissen, dem Killer bei seinem als normalen Job verstandenen Tun zusehen und sich an der Unfassbarkeit seiner Taten reiben. Am Ende präsentiert Vromen im Abspann eine Tafel mit einem Foto des echten Killers, versehen mit seinen Lebensdaten. Das wirkt befremdlich, so, als wolle er Kuklinski auf ein Podest hieven.
Und im Gegensatz zu den beiden Filmen, die als Referenz auf der Hand liegen, Martin Scorseses „Goodfellas“ (ebenfalls mit Liotta) und Andrew Dominiks „Killing Them Softly“, fehlen hier einerseits Charaktertiefe und andererseits der schwarze Humor.
„The Iceman“, der hier außer Konkurrenz lief, wird trotz der überzeugenden Besetzung wohl keine große Kinokarriere hinlegen. Es ist einer dieser Filme, die schon aufgrund ihres Themas keine Publikumsmagneten werden können, die zwar mit wenig Budget auf „independent“ machen, zugleich aber nicht genug künstlerische Qualität bieten, um Form oder Genre zu bereichern. „Filme wie ‚The Iceman‘ sind schwer zu finanzieren, werden heute daher kaum mehr gedreht“, sagte Regisseur Ariel Vromen in Venedig. Er hat recht damit. Denn ohne einen neuen Standpunkt oder ohne die Kreation einer nachhaltig verstörenden Filmfigur sind sie überflüssig. Oder anders gesagt: Ein Fall fürs DVD-Regal.
Matthias Greuling, Venedig

Mittwoch, 29. August 2012

Mira Nair in Venedig: Auch Komplexes ist banal

Selten hat man die Bewältigung des Post-9/11-Traumas in unseren Breiten aus einer anderen Sicht als der westlichen diskutiert; der Schmerz, der den Amerikanern damals inmitten ihres Finanzzentrums zugefügt wurde, hatte permanente Terrorangst, verschärfte Ausländergesetze, Kriege und Xenophobie zur Folge. Wer eine dünklere Hautfarbe hatte und einen schwarzen Bart trug, war in diesem hoch nervösen Amerika schon a priori verdächtig.

"The Reluctant Fundamentalist" mit Riz Ahmed und
Kate Hudson (Foto: La Biennale die Venezia)
Die indische Regisseurin Mira Nair („Monsoon Wedding“) hat nun mit Mohsin Hamids internationalem Bestseller „The Reluctant Fundamentalist“ (auf Deutsch als „Der Fundamentalist, der keiner sein wollte“ erschienen) eine ganz andere Sicht auf Amerika zu einem Film gemacht: Ein junger Emporkömmling namens Changez Kahn (Riz Ahmed) steht hier im Zentrum, und sein Name klingt nicht zufällig nach Dschingis Kahn. Er durchlebt einen rasanten Aufstieg, von der Elite-Uni Princeton direkt an die Wall Street, wo er schnell Karriere macht. Doch das ist lange her; heute unterrichtet der Pakistani in seiner Heimatstadt Lahore an der Uni; hinter ihm vermutet die CIA eine Terrorzelle, und eine Unterredung mit einem Journalisten (Liev Schreiber) nach der Entführung eines anderen Uni-Professors dient als Rahmenhandlung für Kahns Schilderung seines Lebensweges; es ist zunächst ein Weg voller Erfolge, der sich aber nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ins Gegenteil verkehrt. Changez‘ Beziehung zu seiner US-Freundin (Kate Hudson) geht zu Bruch, die aufkeimende Ablehnung in der Bevölkerung und bei den Behörden gegen Muslime bekommt Changez nun immer öfter zu spüren. Das Land, das ihn den amerikanischen Traum leben ließ, es wird ihn nun zur Aufgabe desselben zwingen, und irgendwann ist Changez klar, dass er in seine Heimat zurückkehren wird müssen. Er wird sich gegen das wenden, was er jahrelang selbst idealisierte.
Mira Nair changiert auf der Basis der Buchvorlage mühelos zwischen Aufsteiger-Story und Polit-Thriller und erhält sich dabei ihre ganz eigene Art der Bildsprache aus atmosphärisch dichten, mit viel Farbe angereicherten Szenerien. Für viele ist das Kitsch, Nair-Anhänger allerdings sehen das gern. Trotzdem gerät „The Reluctant Fundamentalist“, der in Venedig als Eröffnungsfilm außer Konkurrenz gezeigt wird, bald zu einem konventionell erzählten enttäuschten Märchen, das es sich recht einfach macht, die Lebensumstände von Changez vor einem komplexen Geflecht aus politischen oder religiös motivierten Taten als bloß von banalem Egoismus und auch Selbstschutz getriebene Abfolge von Entscheidungen darzustellen. Aber vielleicht ist gerade dieses Manko ein vermeintliches;  denn dieser Film zeigt auch: Nichts im Leben ist uns letztlich näher als wir selbst, und diese Banalität ist am Ende unser aller Antrieb.
Matthias Greuling, Venedig

Dienstag, 28. August 2012

Der Rost, der bleibt – Der Lido vor dem 69. Festival

Man soll nur ja nicht glauben, dass es Ausnahmen von der Regel gibt. Zumindest nicht in Italien. Denn da galt schon immer das Prinzip „Außen Hui, innen pfui“ – Wer eine umfassende Fassaden-Renovierung bestellt hatte, bekam nicht selten eine einfach überpinselte Mauer. Sieht ja auch ganz nett aus, zumindest für kurze Zeit.
Auch am Lido von Venedig gilt dieses Motto. Denn hier, auf der Venedig vorgelagerten Insel, einem Bollwerk gegen das Meer quasi, rauben die Fluten nun mal gerne Land und die Gebäude leiden darunter. All der Sand und die salzige Luft, man kennt das ja. Rost ist bei den Italienern derzeit nicht nur als Modefarbe beliebt, sie kommt auch zuhauf in der Natur vor (und früher auch bei den nicht verzinkten Fiats).  Zumindest an jenen Plätzen am Lido, wo die Natur sich das von den Menschen Aufgebaute zurückerobert. Bei alten Waschanlagen etwa, wie dieses Foto zeigt:

Gleich hinter der touristischen Hauptstraße des Lido liegt dieses Prachtstück
vergangener Freiluft-Autowäschetage. Foto: Greuling
Aber man tut den Italienern ja unrecht: Vor ein paar Jahren noch war der Lido eine Pensionisteninsel mit Schlaglöchern, heute wird dafür allerorts gebaut und renoviert (die Pensionisten kommen immer noch). Viele Häuser zeigen sich in neuem Anstrich (ja, genau, dem), die Anlegestelle der Boote ist nagelneu und durchdesignt, aber auch schon ein bisschen rostig. Am Kreisverkehr wird eifrig gearbeitet, das Hotel des Bains ist im zweiten Jahr der Renovierung schon teilweise ausgehöhlt (in diesem legendären, voriges Jahr geschlossenen Hotel sollen Apartments errichtet werden), und ab kommendem Jahr wird das Excelsior, das zweite Nobelhotel generalsaniert.
All das passiert rund um den Neubau des Palazzo del Cinema, um den seit Jahren gestritten wird, und der nun doch nicht kommen soll. Die hässliche Baugrube mitsamt Asbestverseuchung, die drei Jahre lang frei lag (von wegen Meeresluft!), ist vorerst zumindest teilweise provisorisch zugemacht worden; der neue Leiter des Festivals, Alberto Barbera (der 62-Jährige war schon 1998 bis 2002 hier der Chef) will also zeigen: Am Lido geht was weiter! Stimmt. Nur in die Hinterhöfe darf man nicht schauen.
Neuerdings gibt es am Lido auch überall funktionierendes W-Lan, was bei den technikversierten Italienern an ein Wunder grenzt (gegenteilige Erfahrungen bitte posten!). Auch ein paar Schlaglöcher hat man zugemacht, dafür die Kurzparkzonen ein bisschen ausgedehnt. Schließlich muss das alles ja jemand bezahlen. Die Hoteliers sind wie üblich die größten Nutznießer dieses Festivals: Das 1-Stern-Hotelzimmer , in dem ich wohne, kommt mit 2-Quadratmeter-Nasszelle, schiefem Kasten und – erraten: übermaltem (!) Schimmel, kostet in diesem Jahr stolze 150 Euro pro Nacht. Der Preis unterm Jahr liegt bei 30 Euro. Im Zimmer steht an der Tür die Preisinfo: „Max. 198,- Euro“. Ich freue mich, denn wahrscheinlich hat mir der Hotelier Rabatt gegeben, weil ich schon so lange komme.
Nur die Pizza (Margherita für 5 Euro) und der Café (1 Euro an der Bar) sind gleich geblieben. Es gibt auch in Italien Dinge, die sind heilig. Die ändern sich nie. Wie der Rost. Der bleibt auch.

Samstag, 11. August 2012

Glaubensfragen und coole Dandys - Locarno vergibt die Preise

Klar, dass jemand wie Apichatpong Weerasethakul diesen Film mochte: „La fille de nulle part“ von Jean-Claude Brisseau, der in Locarno nun den Goldenen Leoparden erhielt, ist nämlich ein bisschen die Absage an all die (religiösen) Glaubensfragen, die die Menschheit befassen, aber nicht ohne zugleich Raum genug für das Vorkommen scheinbar übersinnlicher Vorgänge zu bieten. Weerasethakul ist ja selbst einer dieser Filmemacher, die ihre Arbeiten als beinahe spirituelle Rätsel konstruieren – die Phantasie, die spirituellen Untertöne, die halbtransparenten Menschen, die Geister, die roten, aus dem Dschungel hervorleuchtenden Augen eines seltsamen Wesens  - all das brachte Weerasethakul in Cannes die Goldene Palme für „Uncle Bonmee“, und jetzt war „La fille de nulle part“ für ihn als Jury-Vorsitzender in Locarno gewissermaßen der Film der Wahl; wenngleich wenig glaubhaft ist, dass jeder Filmemacher nur die Filme liebt, die sich mit den Themen seiner eigenen Arbeiten befassen oder in eine ähnliche Richtung gehen. „Der Glanz des Tages“ von Tizza Covi und Rainer Frimmel aus Österreich etwa, eine herausragende Arbeit, die den Goldenen Leoparden verdient hätte, wäre „einfach nicht Apichatpongs Geschmack, das ist doch klar“, debattierte ein Journalisten-Kollege mit mir. Aber dennoch scheint es verwunderlich, wenn jemand immer nur einseitig gewisse Genres und Themen in Filmen liebt; ich schaue auch nicht den ganzen Tag Haneke, sondern gerne auch mal Batman.

"La fille de nulle part" von Jean-Claude Brisseau gewann den
Goldenen Leoparden in Locarno (Foto: Festival Locarno)

Wie auch immer: „La fille de nulle part“ ist dennoch ein würdiger Preisträger dieser 65. Festivalausgabe, vor allem, weil er eine Art Schlusspunkt unter ein Werk setzt, dem in der französischen Filmwelt viel Anerkennung, aber auch Tadel widerfuhr. Jean-Claude Brisseau hat sich gerne mit Erotik befasst in seinem Kino. Jetzt inszeniert er sich als über 70-jährigen Mathematik-Professor im Ruhestand, der in seiner Pariser Wohnung an einem Alterswerk schreibt: Es geht um nichts weniger als einen Essay zum Thema Mythen und Glauben, um Grundsätzliches also, ausgerechnet formuliert von einem Agnostiker; das Zweifeln ist des von exakter Wissenschaft geprägten Mannes liebster Zeitvertreib. Bis eine junge Frau in sein Leben tritt, die verletzt vor seiner Tür kauert und die er vorübergehend bei sich aufnimmt. Natürlich bringt diese Person Konfliktpotenzial mit, und zwischen den beiden entsteht eine Annäherung. Zugleich aber häufen sich in seiner Wohnung mysteriöse Ereignisse, an deren Unerklärbarkeit der alte Mann nicht und nicht glauben will.
Brisseau legt sein Kammerspiel irgendwo zwischen (Selbst-)Ironie und der These an, dass Menschen lieber an etwas glauben, bevor sie an gar nichts glauben. Auch, wenn sie gar nicht wissen, woran sie sich da eigentlich klammern.
Jury-Preis: "Somebody Up There Likes Me"
von Bob Byington (Foto: Festival Locarno)
Für „Der Glanz des Tages“ gab es übrigens doch eine Anerkennung in Locarno: Die Jury hat mit dem Preis an Walter Saabel die tatsächlich herausragendste, weil authentischste Schauspieler-Leistung prämiert. Den Spezialpreis der Jury gab es für die US-Independent-Produktion „Somebody Up There Likes Me“ von Bob Byington. Eine nur 75-minütige Tour de force und Tour d’Horizon gleichermaßen, denn hier verhandelt der Regisseur im Eiltempo gleich dreieinhalb Jahrzehnte im Leben eines (im Film nicht alternden) Mannes, der durch Liebe, Heirat, Vaterschaft und Scheidung stolpert wie ein unbedarfter Schuljunge mit der phlegmatischen Coolness eines Dandys. Stilistisch zieht sich Byington von Beginn an auf ein stoisch-statisches Blickfeld zurück, innerhalb dessen er den Akteuren viel Raum für ironische, aber auch zynische Selbstbetrachtung lässt. „Schräg“ nennt das der Boulevard. Stilsicher und erfrischend innovativ das Feuilleton. Mehr Filme solcher Provenienz täten Locarno gut; sie würden das Festival in seinem Status als Geheimtipp für Entdeckungen bestätigen.
- Matthias Greuling, Locarno

Montag, 6. August 2012

Kotzen, Koksen, Koitus - Halbzeit beim Filmfestival in Locarno

In Locarno ist Halbzeit beim Festival, und vieles, was man hier bisher sehen konnte, widerspiegelt Festivalchef Olivier Pères Konzept von der spagathaften Auseinandersetzung mit Filmen. Da sind auf der einen Seite die künstlerisch hochwertigen Produktionen aus dem Wettbewerb, auf der anderen Seite die publikumsträchtigeren Arthaus-Filme, die auf der Piazza Grande laufen – wenn letztere auch wegen der heftigen Regengüsse der vergangenen Tage wohl viel weniger Zuschauer hatten als gewöhnlich. Doch ein Festival von Locarno ganz ohne verregnete Premieren wäre dann auch wieder ungewöhnlich, ja fast schon ungewohnt.

Und so traf es etwa die Piazza-Premiere von Christoph Schaubs Film „Nachtlärm“ mit Alexandra Maria Lara und Georg Friedrich. Ein Kind spielt hier die eigentliche Hauptrolle, ein Säugling, der nachts durchschreit und seine Eltern (Lara, Sebastian Blomberg) damit zur Verzweiflung treibt. Nur eine nächtliche Autobahnfahrt bringt ihn zum Schlafen. Der Regen auf der Piazza setzte sich auch im Film fort, denn auch dort sind die Straßen nass; bei einem Halt an einer Raststation wird das Auto der Eltern mitsamt Baby von einem Kleinganovenpaar gestohlen, eine wirre Verfolgungsjagd beginnt. Leider ist Schaubs gut erdachte Dramaturgie der Besetzung wegen zum Scheitern verurteilt; sowohl Lara (als Mutter) als auch die Newcomerin Carol Schuler (als Komplizin des „Entführers“ Georg Friedrich) stemmen ihre Dialoge nicht; sie wirken zuweilen künstlich, unnatürlich, bemüht. Die Männer tun sich da leichter, aber wie so oft im deutschsprachigen Kino geht hier die allgemeine Sprachverständlichkeit über alles – und sehr zu Lasten der Authentizität.


Walter Saabel und Philipp Hochmair brillieren in Tizza Covis und
Rainer Frimmels "Der Glanz des Tages" (Foto: Festival Locarno)
Solche Probleme kennen Tizza Covi und Rainer Frimmel nicht. Ihr „Der Glanz des Tages“ ist Zeugnis dafür, dass von dramaturgischen Konventionen und gängiger TV-Dramaturgie verstellte Charaktere nicht sein müssen: Das Paar erzählt in seinem neuen Film von einem Schauspieler (Philipp Hochmair  als er selbst), in dessen von Textlernen und Theaterproben beherrschtes Leben plötzlich sein Onkel (herausragend: Walter Saabel) tritt, der ihm wieder so etwas wie Lebensnormalität vorzeigt. Das Aufeinandertreffen zweier Welten ist hier als wunderbar unprätentiöse Filmerzählung geglückt: Die Künstlichkeit in der Welt des Schauspielers, der in seinen Texten versinkt anstatt mit beiden Beinen im Leben zu stehen, wird durch die Anwesenheit seines bodenständigen Onkels, eines einstigen Zirkusartisten, konterkariert. Nicht jeder, der auf einer Bühne besteht, besteht auch im Leben. Es scheint sogar, wie dieser Film zeigt, die Ausnahme zu sein, dass ein Schauspieler ein wirkliches Leben führen kann. Wie schon in ihren Vorgängerfilmen „Babooska“ und „La Pivellina“ arbeiten Covi und Frimmel mit großer dokumentarischer Präzision, diesmal aber skizzieren sie in scheinbarer Beiläufigkeit und mit einer unglaublichen authentischen Kraft Lebensentwürfe zwischen Schein und Sein. „Der Glanz des Tages“ ist der bislang herausragendste Film dieses Festivals.

Der Wettbewerb hat abgesehen davon durchaus einige interessante Arbeiten zu bieten: Bradley Rust Grays „Jack and Diane” (im Wettbewerb) über zwei Teenager-Mädchen ist Horror-Romanze mit Werwolf-Symbolik und dramatische Passion in einem. Die Liebe, ein Monster? Hier scheinen sich nostalgische Jugendgefühle mit exzessiv beschriebener Liebes-Symptomatik zu konkurrieren – mit offenem Ausgang.

Zu Ende gebracht wird hingegen die krass anmutende, aber wahre Geschichte einer Fast-Food-Filialleiterin, die einen Anruf von der Polizei bekommt. Angeblich hätte eine ihrer Mitarbeiterinnen einen Kunden bestohlen. Die Stimme am Telefon befiehlt, die vermeintliche Diebin bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten – und verlangt immer dreistere Einschüchterungs-Spielchen durch wechselnde Bewacher im Hinterzimmer des Restaurants, darunter auch sexuelle Handlungen. „Compliance“ von Craig Zobel ist eine kleine, kammerspielartige Geschichte, die den Blick freigibt auf eine von Terror und Obrigkeitsdenken geprägte Nation: In den USA ist der öffentliche Umgang miteinander mit so vielen Regeln belegt, die das Infragestellen von Autoritäten scheinbar komplett verunmöglichen. Anders ist es nicht denkbar, dass jener falsche Polizist seine Terrorisierung via Telefon in über 70 Fällen durchführen hatte können, bis man ihn schnappte. „Compliance“ verdichtet filmisch eine Paranoia, die in den USA wohl weit verbreitet sein muss: Man will nur ja nichts falsch machen, in Krisensituationen richtig reagieren und den Anweisungen Folge leisten. Dabei werden auch moralische Grenzen aufgehoben; die Anweisungen des Polizisten am Telefon werden unhinterfragt ausgeführt. Ein Alltagshorror, den die USA ihren Bürgern im Zuge ihrer Terrorangst anerzogen haben und der dort mittlerweile tief verwurzelt scheint.

Auf der Piazza Grande sind derlei verstörende Umstände nicht zu sehen. Zwar geht es in Stéphane Brizés „Quelques heures de printemps“ um Sterbehilfe und Selbstbestimmung, jedoch ist das Drama (mit einem großartigen Vincent Lindon und einer noch großartigeren Hélène Vincent) in erster Linie eine von jahrelangem Schweigen geprägte Mutter-Sohn-Geschichte, verortet in einem sozial eher schwachen Milieu, in dem man üblicherweise keine zweiten Chancen für die Lebensfehler erhält. Der 48-jährige LWK-Fahrer Alain wird nach 18 Monaten wegen Drogenschmuggels aus der Haft entlassen und zieht, bis er wieder auf die Beine kommt, vorübergehend bei seiner krebskranken Mutter ein. Die hat sich dazu entschlossen, den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu wählen und will Sterbehilfe in der Schweiz in Anspruch nehmen. Während Mutter und Sohn über allerlei Kleinkram in Streit geraten, ist das moralisch heikle Thema des begleiteten Selbstmordes selbst nie ein Grund für die beiden, sich darüber zu zerwerfen. Der Tod als kontrollierter, selbst gewählter Endpunkt eines am Ende doch verpfuschten Daseins, das ist das Ziel dieser Figuren, die vielleicht noch niemals zuvor wirklich die Kontrolle über ihr Leben hatten. Ein wunderbar gespieltes Drama.

Mit „Ruby Sparks“ hat man auf der Piazza einen weiteren leichtfüßigen Film aus der Reihe „Fox produziert Independent-Rom-Coms“ aufgeführt; ein an einer Schreibblockade leidender Schriftsteller (Paul Dano) schreibt sich seine Traumfrau einfach selbst und steht unter Schock, als sie plötzlich lebendig wird und mit ihm Spaghetti kocht. Die quirlige Zoe Kazan hat das Drehbuch verfasst und spielt auch die lebendig gewordene Phantasie-Frau. Das Ganze ist nett, aber nie umwerfend komisch, ist mal heiter, mal traurig, aber niemals fühlt man mit den Protagonisten.

Ebenso wenig gelungen ist die britische Komödie „Sightseers“ von Ben Wheatley, die von einem frisch verliebten Paar auf einer Wohnwagen-Reise durch die Provinz erzählt. Tinas neuer Lover Chris scheint ein naturverliebtes Urviech zu sein, der mit ungeliebten Mitmenschen wenig zimperlich umgeht und sie überfährt oder mit dem Stein totschlägt. Die Komödie legt großen Wert auf einen britischen Humor, der zwischen Anarchie und Understatement angesiedelt ist; gegen Mitte des Films scheinen Wheatley aber leider die Ideen auszugehen. 


Dreimäderlhaus als US-Independent-Quatsch: "Bachelorette"
von Leslye Headland (Foto: Festival Locarno)
Bisheriger Tiefpunkt in Locarno ist die US-Independent-Produktion „Bachelorette“ von Leslye Headland. Ein Film, der wahnsinnig hysterische Frauen in einer von ihnen als wahnsinnig hysterisch wahrgenommenen Welt zeigt, die beschränkter kaum sein könnte: Hier, vor dem Hintergrund einer bevorstehenden Hochzeit und zweier Junggesellen-Abschiede, zirkelt alles nur um Äußerlichkeiten. Die drei Hauptfiguren – Frauen um die 30 und allesamt Single – tingeln von einem Bett ins nächste und haben mit dem Kotzen genauso wenig Probleme wie mit dem übermäßigen Koksen. Auch, wenn „Bachelorette“ als seicht-frivole Komödie daherkommt, so ist der Film doch auch besessen darauf erpicht, über das Gemüt einer ganzen Generation junger, frustrierter Frauen zu sprechen, in deren Lebensverständnis einiges dramatisch schief gelaufen ist. Ihre Gedankenwelt steckt fest zwischen Magersucht und Hochzeitskleid, Random Casual Sex und Schwanzwitzen. Kotzen, Koksen, Koitus – die traurige De-Emanzipation eines Geschlechts. Arm ist, wer über dieses Gedankenmodell nicht hinauskommt.
-Matthias Greuling, Locarno

Freitag, 3. August 2012

Alain Delon: "Tragik ist Teil meiner Persönlichkeit" // Locarno 2012

Der Tag begann mit einer herben Enttäuschung: Alain Delon, 76, hatte alle bereits vereinbarten Interviews abgesagt. Der medienscheue französische Superstar, dem man in Locarno am Donnerstag Abend den Goldenen Leoparden für sein Lebenswerk überreicht hatte, ist schon zu lange weg vom Rampenlicht, um sich auf seine alten Tage nochmals einen Interview-Marathon anzutun, hieß es hinter vorgehaltener Hand.

Alain Delon bei der Pressekonferenz in Locarno (Fotos: © Matthias Greuling)
Ja, Delon. Der große, hübsche Mann, den halb Europa vergötterte, als er bei Visconti spielte, in „Rocco und seine Brüder“, oder als „Eiskalter Engel“ bei Melville; der an der Seite seiner großen Liebe Romy Schneider im südfranzösischen „Swimmingpool“ schwamm. Delon ist alt geworden, aber seine Strahlkraft ist ungebrochen. Adrett sein Auftreten im Jackett, sauber gescheitelt sein graues, noch immer dichtes Haar. Dementsprechend groß war das Medieninteresse bei der Pressekonferenz, der einzigen verbliebenen Möglichkeit, Delon zu lauschen.

Seine Nervosität war stark zu spüren. Delon, der öffentliche Auftritte in den letzten Jahren auf ein Minimum beschränkt hatte, war schon bei der Preisverleihung auf der Piazza Grande am Donnerstag Abend mit sieben Bodyguards angerückt, die ihn bestmöglich abschirmen sollten. Auch in der  überhitzten, schwülen Umgebung des Spazio Forum in Locarno, in dem die Pressekonferenz stattfand fühlte er sich sichtlich unwohl. Aber er spielte mit, machte ein paar Verlegenheitsscherze, beantwortete geduldig die Fragen.

„Das Kino von heute“, sagt Delon, „ist für mich völlig uninteressant. Das liegt daran, dass es kaum gute Stoffe gibt, oder gute Regisseure. Ein Regisseur muss drei Qualitäten mitbringen: Einmal muss er vor dem Dreh alle Szenen durchdenken können. Dann muss er es schaffen, während des Drehs die Schauspieler zu führen. Und schließlich muss er nach dem Dreh im Schneideraum den Film nochmals inszenieren. Die meisten heutigen Regisseure haben eines, maximal zwei dieser Talente. Ich hatte Glück, dass es zu meiner Zeit noch große Künstler gab“. Delon würde gerne wieder Filme drehen: „Gebt mir gute Rollen. Dann bin ich dabei“.

Erst spät in seiner Karriere gab sich Delon auch für spaßige Rollen her; etwa trat er als Julius Cäsar in der Realverfilmung „Asterix bei den Olympischen Spielen“ (2008) auf. „Ich habe die komischen Rollen aber lieber immer Jean-Paul Belmondo überlassen“, scherzte Delon in Locarno. „Wann immer Belmondo den Raum betrat, haben alle gelacht. Wann immer ich hereinkomme, bleibt es still. Es war also gut, dass ich nicht mehr Komödien gemacht habe“.

Überhaupt sei die Tragik schon immer Teil seines Lebens gewesen, meinte Delon. „Ich komme aus einfachen Verhältnissen, niemand aus meiner Familie war beim Film. Ich war mit 18 beim Militär, in Indochina. Es kann durchaus sein, dass die Tragik ein Element meiner Persönlichkeit ist“.

Nicht minder tragisch ist Delons ungebrochene Zuneigung zu seiner großen Liebe Romy Schneider (die er einst wegen einer anderen verlassen hatte). „Wenn man mich fragte, wen ich am meisten vermisse von all den Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, dann ist das Romy Schneider. Sie war eine fantastische Schauspielerin, sie war unglaublich“, sagt Delon. Es sind die letzten Worte seines Kurzauftrittes in Locarno. „Unser gemeinsamer Film ‚Der Swimmingpool‘ war wunderbar“, schließt Delon. „Aber ich schaffe es heute nicht mehr, ihn mir anzusehen“.

Das abgesagte Interview, das hatte man dem gerührten Delon da schon beinahe wieder verziehen.
-Matthias Greuling, Locarno

Hier noch unser Video-Mitschnitt von der Pressekonferenz mit Alain Delon:

Donnerstag, 2. August 2012

Im Gespräch mit Charlotte Rampling // Locarno 2012

Auf so viel Interesse war Charlotte Rampling nicht vorbereitet. Die britsche Schauspielerin hat am 1. August in Locarno den "Excellence Award" in Form eines Goldenen Leoparden auf der Piazza Grande entgegen genommen, tags darauf gab sie Interviews im Hotel Belvedere. Allein: Der Andrang der (inter)nationalen Journalisten war so groß, dass Frau Rampling angesichts des Interview-Marathons bald erschöpft wirkte; ein Vollprofi wie sie will sich das jedoch nicht anmerken lassen, weshalb das müde Lächeln vor unserem Interview sofort verschwand, als die Kamera zu laufen begann. Hier ein Ausschnitt aus unserem Gespräch mit Charlotte Rampling:


Mittwoch, 1. August 2012

Locarno setzt die Trends


Locarno Film Festival, 1.-11.8. 2012
Locarno feiert 2012 das gleiche Jubiläum wie nur zwei Monate zuvor das Festival von Cannes: Beide Filmschauen sind 65 Jahre alt. Locarno spielt durchaus in einer Liga mit Cannes, auch wenn es als das kleinste A-Festival gilt. Doch sonst sind die Gemeinsamkeiten rar. Denn während in Cannes vor allem der filmische Kommerz in Form großer Blockbuster-Premieren und am Marché du Film gefeiert wird, hat Locarno seine Nische im Wettstreit der prestigeträchtigen Festivals woanders gefunden. Es ist ein Festival geblieben, das Entdeckungen zulässt, und das in seiner programmatischen Kompromisslosigkeit auf diese Weise schon etlichen Karrieren auf die Sprünge geholfen hat. „Das Festival von Locarno gilt seit seiner Gründung als mutig und offen gegenüber neuen ästhetischen Entwicklungen, geografischen Verschiebungen sowie jungen Filmemachern. Im Rahmen seiner 65. Durchführung zeigen wir, dass der Inhalt des Festivals das ganze Kino und nichts als Kino ist, darin eingeschlossen dessen bemerkenswerte Geschichte, Stars und Künstler ebenso wie seine vielversprechende Zukunft mit neuen Autoren“, definiert es Olivier Père, der künstlerische Leiter des Festivals.

NICHT VON BROT ALLEIN

Aber Père, heuer in seinem dritten Amtsjahr, weiß, dass ein Festival nicht von Brot allein leben kann, weshalb er im Vorjahr neben etlichen Genre-Filmen auch Blockbuster wie „Cowboys & Aliens“ oder „Super 8“ auf die Piazza Grande holte. Auch dieses Jahr buhlte er erneut um große US-Produktionen wie „The Bourne Legacy“ und „Total Recall“, die auf der Piazza vor 8000 Zuschauern laufen hätten sollen. Die genannten Filme sind nun doch nicht in Locarno zu sehen, was aber nichts mit dem Unwillen der Studios zu tun hat, sondern mit Terminproblemen. Die US-Studios haben Locarno nämlich längst als funktionierende Plattform für ihre Filme erkannt, denn wo sonst ließen sich Blockbuster besser launchen als beim größten Open-Air-Kino der Welt?
"Starlet" von Sean Baker (Foto: Festival Locarno)
Das Festival will diesen Spagat beibehalten, will aber nicht zu viel Unterhaltungsware, denn letztlich steht es mehr für das cineastische Kleinod denn für Kommerz-Kracher. Auf der Piazza Grande sind doch einige Studiotitel der mittleren Größenordnung zu sehen, etwa „Ruby Sparks“ von Fox oder „Magic Mike“, der neue Film von Steven Soderbergh. „Bachelorette“,  der Sundance-Hit der Weinsteins, ist auch dabei. Amerikanische Independent-Ware.
Aber selbst im internationalen Wettbewerb, der hier fernab der Piazza in den Kinos der kleinen Stadt am Lago Maggiore gespielt wird, finden sich vermehrt US-Produktionen. Es sind dies vor allem Klein- und Kleinst-Titel, die mit wenig Budget realisiert wurden und die Handschriften junger Independent-Filmer tragen. Insgesamt sechs US-Filme treten um den Goldenen Leoparden an, darunter Sean Bakers „Starlet“, Craig Zobels „Compliance" und Bob Byingtons „Somebody Up There Likes Me“, die allesamt beim South by Southwest Film Festival in Austin, Texas, ihre Premiere feierten. Das Festival gilt als Mekka und Startpunkt vieler Independent-Karrieren.

INSIDER-TIPP FÜR FILMEINKÄUFER

"Compliance" von Craig Zobel (Foto: Festival Locarno)
Branchenintern ist Locarno deshalb ein Insider-Tipp für viele Filmeinkäufer geworden: Hier lassen sich noch junge, unverbrauchte Talente entdecken, das Interesse an den „Industry Days“ steigt stetig. Cannes und Venedig sind indes künstlerisch stark auf ihre Linie eingeschworen; die Wettbewerbe werden zumeist von „Stammgästen“ bestritten, von den Großen des Weltkinos. In Locarno, dessen Jury heuer vom Cannes-Gewinner und Avantgarde-Erzähler Apichatpong Weerasethakul geleitet wird, tauchen hingegen immer wieder neue Namen auf. Besonders außerhalb des Wettbewerbs, in den Reihen „Cineasti del presente“ und „Pardi di domani“, herrscht die pure Anarchie des Kinos: Erzählerisches Neuland und cineastische Experimente finden sich hier zuhauf. Weniger in Cannes oder Venedig, sondern hier muss nach den neuen Trends im Weltkino gesucht werden. Denn hier werden sie gemacht.
Matthias Greuling