Und so traf es etwa die Piazza-Premiere von Christoph
Schaubs Film „Nachtlärm“ mit Alexandra Maria Lara und Georg Friedrich. Ein Kind
spielt hier die eigentliche Hauptrolle, ein Säugling, der nachts durchschreit
und seine Eltern (Lara, Sebastian Blomberg) damit zur Verzweiflung treibt. Nur
eine nächtliche Autobahnfahrt bringt ihn zum Schlafen. Der Regen auf der Piazza
setzte sich auch im Film fort, denn auch dort sind die Straßen nass; bei einem
Halt an einer Raststation wird das Auto der Eltern mitsamt Baby von einem
Kleinganovenpaar gestohlen, eine wirre Verfolgungsjagd beginnt. Leider ist
Schaubs gut erdachte Dramaturgie der Besetzung wegen zum Scheitern verurteilt;
sowohl Lara (als Mutter) als auch die Newcomerin Carol Schuler (als Komplizin
des „Entführers“ Georg Friedrich) stemmen ihre Dialoge nicht; sie wirken zuweilen
künstlich, unnatürlich, bemüht. Die Männer tun sich da leichter, aber wie so
oft im deutschsprachigen Kino geht hier die allgemeine Sprachverständlichkeit
über alles – und sehr zu Lasten der Authentizität.
Walter Saabel und Philipp Hochmair brillieren in Tizza Covis und Rainer Frimmels "Der Glanz des Tages" (Foto: Festival Locarno) |
Solche Probleme kennen Tizza Covi und Rainer Frimmel nicht.
Ihr „Der Glanz des Tages“ ist Zeugnis dafür, dass von dramaturgischen Konventionen
und gängiger TV-Dramaturgie verstellte Charaktere nicht sein müssen: Das Paar
erzählt in seinem neuen Film von einem Schauspieler (Philipp Hochmair als er selbst), in dessen von Textlernen und Theaterproben
beherrschtes Leben plötzlich sein Onkel (herausragend: Walter Saabel) tritt,
der ihm wieder so etwas wie Lebensnormalität vorzeigt. Das Aufeinandertreffen
zweier Welten ist hier als wunderbar unprätentiöse Filmerzählung geglückt: Die
Künstlichkeit in der Welt des Schauspielers, der in seinen Texten versinkt
anstatt mit beiden Beinen im Leben zu stehen, wird durch die Anwesenheit seines
bodenständigen Onkels, eines einstigen Zirkusartisten, konterkariert. Nicht
jeder, der auf einer Bühne besteht, besteht auch im Leben. Es scheint sogar,
wie dieser Film zeigt, die Ausnahme zu sein, dass ein Schauspieler ein
wirkliches Leben führen kann. Wie schon in ihren Vorgängerfilmen „Babooska“ und
„La Pivellina“ arbeiten Covi und Frimmel mit großer dokumentarischer Präzision,
diesmal aber skizzieren sie in scheinbarer Beiläufigkeit und mit einer
unglaublichen authentischen Kraft Lebensentwürfe zwischen Schein und Sein. „Der
Glanz des Tages“ ist der bislang herausragendste Film dieses Festivals.
Der Wettbewerb hat abgesehen davon durchaus einige
interessante Arbeiten zu bieten: Bradley Rust Grays „Jack and Diane” (im Wettbewerb)
über zwei Teenager-Mädchen ist Horror-Romanze mit Werwolf-Symbolik und
dramatische Passion in einem. Die Liebe, ein Monster? Hier scheinen sich nostalgische
Jugendgefühle mit exzessiv beschriebener Liebes-Symptomatik zu konkurrieren –
mit offenem Ausgang.
Zu Ende gebracht wird hingegen die krass anmutende, aber wahre
Geschichte einer Fast-Food-Filialleiterin, die einen Anruf von der Polizei
bekommt. Angeblich hätte eine ihrer Mitarbeiterinnen einen Kunden bestohlen. Die
Stimme am Telefon befiehlt, die vermeintliche Diebin bis zum Eintreffen der
Polizei festzuhalten – und verlangt immer dreistere Einschüchterungs-Spielchen durch
wechselnde Bewacher im Hinterzimmer des Restaurants, darunter auch sexuelle
Handlungen. „Compliance“ von Craig Zobel ist eine kleine, kammerspielartige
Geschichte, die den Blick freigibt auf eine von Terror und Obrigkeitsdenken geprägte
Nation: In den USA ist der öffentliche Umgang miteinander mit so vielen Regeln belegt,
die das Infragestellen von Autoritäten scheinbar komplett verunmöglichen.
Anders ist es nicht denkbar, dass jener falsche Polizist seine Terrorisierung
via Telefon in über 70 Fällen durchführen hatte können, bis man ihn schnappte. „Compliance“
verdichtet filmisch eine Paranoia, die in den USA wohl weit verbreitet sein
muss: Man will nur ja nichts falsch machen, in Krisensituationen richtig
reagieren und den Anweisungen Folge leisten. Dabei werden auch moralische
Grenzen aufgehoben; die Anweisungen des Polizisten am Telefon werden unhinterfragt
ausgeführt. Ein Alltagshorror, den die USA ihren Bürgern im Zuge ihrer
Terrorangst anerzogen haben und der dort mittlerweile tief verwurzelt scheint.
Auf der Piazza Grande sind derlei verstörende Umstände nicht
zu sehen. Zwar geht es in Stéphane Brizés „Quelques heures de printemps“ um
Sterbehilfe und Selbstbestimmung, jedoch ist das Drama (mit einem großartigen
Vincent Lindon und einer noch großartigeren Hélène Vincent) in erster Linie
eine von jahrelangem Schweigen geprägte Mutter-Sohn-Geschichte, verortet in
einem sozial eher schwachen Milieu, in dem man üblicherweise keine zweiten
Chancen für die Lebensfehler erhält. Der 48-jährige LWK-Fahrer Alain wird nach
18 Monaten wegen Drogenschmuggels aus der Haft entlassen und zieht, bis er
wieder auf die Beine kommt, vorübergehend bei seiner krebskranken Mutter ein. Die
hat sich dazu entschlossen, den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu wählen und will
Sterbehilfe in der Schweiz in Anspruch nehmen. Während Mutter und Sohn über
allerlei Kleinkram in Streit geraten, ist das moralisch heikle Thema des begleiteten
Selbstmordes selbst nie ein Grund für die beiden, sich darüber zu zerwerfen.
Der Tod als kontrollierter, selbst gewählter Endpunkt eines am Ende doch
verpfuschten Daseins, das ist das Ziel dieser Figuren, die vielleicht noch
niemals zuvor wirklich die Kontrolle über ihr Leben hatten. Ein wunderbar
gespieltes Drama.
Mit „Ruby Sparks“ hat man auf der Piazza einen weiteren
leichtfüßigen Film aus der Reihe „Fox produziert Independent-Rom-Coms“
aufgeführt; ein an einer Schreibblockade leidender Schriftsteller (Paul Dano) schreibt
sich seine Traumfrau einfach selbst und steht unter Schock, als sie plötzlich
lebendig wird und mit ihm Spaghetti kocht. Die quirlige Zoe Kazan hat das
Drehbuch verfasst und spielt auch die lebendig gewordene Phantasie-Frau. Das
Ganze ist nett, aber nie umwerfend komisch, ist mal heiter, mal traurig, aber
niemals fühlt man mit den Protagonisten.
Ebenso wenig gelungen ist die britische Komödie „Sightseers“
von Ben Wheatley, die von einem frisch verliebten Paar auf einer
Wohnwagen-Reise durch die Provinz erzählt. Tinas neuer Lover Chris scheint ein
naturverliebtes Urviech zu sein, der mit ungeliebten Mitmenschen wenig zimperlich
umgeht und sie überfährt oder mit dem Stein totschlägt. Die Komödie legt großen
Wert auf einen britischen Humor, der zwischen Anarchie und Understatement angesiedelt
ist; gegen Mitte des Films scheinen Wheatley aber leider die Ideen auszugehen.
Dreimäderlhaus als US-Independent-Quatsch: "Bachelorette" von Leslye Headland (Foto: Festival Locarno) |
Bisheriger Tiefpunkt in Locarno ist die
US-Independent-Produktion „Bachelorette“ von Leslye Headland. Ein Film, der wahnsinnig hysterische Frauen in
einer von ihnen als wahnsinnig hysterisch wahrgenommenen Welt zeigt, die
beschränkter kaum sein könnte: Hier, vor dem Hintergrund einer bevorstehenden
Hochzeit und zweier Junggesellen-Abschiede, zirkelt alles nur um Äußerlichkeiten.
Die drei Hauptfiguren – Frauen um die 30 und allesamt Single – tingeln von
einem Bett ins nächste und haben mit dem Kotzen genauso wenig Probleme wie mit
dem übermäßigen Koksen. Auch, wenn „Bachelorette“ als seicht-frivole Komödie
daherkommt, so ist der Film doch auch besessen darauf erpicht, über das Gemüt einer
ganzen Generation junger, frustrierter Frauen zu sprechen, in deren Lebensverständnis
einiges dramatisch schief gelaufen ist. Ihre Gedankenwelt steckt fest zwischen Magersucht
und Hochzeitskleid, Random Casual Sex und Schwanzwitzen. Kotzen, Koksen, Koitus
– die traurige De-Emanzipation eines Geschlechts. Arm ist, wer über dieses
Gedankenmodell nicht hinauskommt.
-Matthias Greuling, Locarno
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