Für Ulrich Seidl war es ein „Zufall“, wie er betonte, dass
der zweite Teil seiner „Paradies“-Trilogie mit dem Titel „Glaube“ ausgerechnet
im katholischen Italien zur Uraufführung gelangte; für Festival-Beobachter ist
diese Positionierung hingegen nur logisch: Nirgends sonst hätte Seidl mit der
inzwischen legendären Masturbationsszene mit dem Kruzifix mehr Aufsehen erregt
als hier am Lido – prompt ging die Taktik auf, italienische Medien schrieben
von einem Skandal und die ultrakonservative katholische Gruppierung NO 194 (die
ihren Namen aus dem italienischen Gesetzesparagrafen für Abtreibung bezieht,
gegen den sie auftritt) zeigte Seidl und das Festival wegen Blasphemie an.
Dass Seidl nun den Spezialpreis der Jury für seine
Geschichte über eine missionierende Krankenschwester (Maria Hofstätter) bekam,
ist wie ein Kontrapunkt zum Sturm der Entrüstung. Es ist aber auch, und erneut,
eine Art Trostpreis: Schon 2001 hatte Seidl genau denselben Preis für
„Hundstage“ erhalten, und damals wie heute hätte er durchaus den Goldenen Löwen
verdient. Aber auch das ist Realität im Kunstbetrieb: Als Künstler muss man oft
jahrzehntelang reifen, ehe sich Festival-Jurys zu einem Hauptpreis hinreißen
lassen: Michael Hanekes etwa hatte seit 1997 jeden Kinofilm in Cannes im
Wettbewerb gezeigt, etliche Preise gewonnen und erst 2009 für „Das weiße Band“
die Goldene Palme geholt. Es war nicht sein bester Film. 2012 wiederholte er
das Kunststück mit „Liebe“.
Goldene Löwen, Palmen, Bären, das sind eben oft auch Preise
für ein ganzes Lebenswerk von Künstlern mit eigener und eigenwilliger
Handschrift. Nicht anders verhält es sich mit „Pieta“ von Kim Ki-duk. Der Mann,
der die letzten paar Jahre als Einsiedler in einer Waldhütte verbrachte, um
durch eine schwere Depression zu gehen, zeigte sich mit seinem neuen Film in
alter Form und hat – nach mehreren Anläufen und einem Silbernen Regie-Löwen für
„Bin-jip“ (2004) – nun die Gold-Version erhalten. Kim Ki-duks Kino ist voller
archaischer Gewalt, es ist pessimistisch und depressiv, da macht auch „Pieta“
keine Ausnahme. Im Zentrum steht ein junger Mann, der als brutaler
Geldeintreiber arbeitet. Eines Tages taucht eine Frau auf, die behauptet, seine
Mutter zu sein, die ihn nach seiner Geburt ablehnte und nun um Gnade bittet.
Eine Katastrophe in der nur noch zaghaft vorhandenen Gefühlswelt dieses Mannes,
die am Ende zum umgekehrten Bild führt, dass man von der Pietà hat: Hier
schmiegt sich ein Sohn an die tote Mutter, und es sieht so aus, dass all seine
Gewalt hätte verhindert werden können, wäre er nur rechtzeitig geliebt worden.
„Pieta“ ist ein würdiger Preisträger, aber er ist eben auch eine Auszeichnung
fürs Lebenswerk dieses Regisseurs, der in all seinen Filmen die Gewalt als
einzig passende Darstellungsform von Liebe benutzt, niemals aus dem Drang
heraus, zu provozieren. Darin ähnelt er wiederum Seidl, der Provokation als
Triebfeder für seine Filmschilderungen stets abgelehnt hat, sondern lieber
darauf verweist, nur die Wirklichkeit menschlicher Abgründe abbilden zu wollen.
Der dritte im Bunde der Preisträger ist „The Master“, Paul
Thomas Andersons Sekten-Drama, der für die beste Regie sowie für die Darsteller
Philip Seymour Hoffman und Joaquin Phoenix prämiert wurde. Erzählt wird die
Relation eines charismatischen Sektenführers (Hofmann) zu seinem am Leben
gescheiterten Jünger (Phoenix) zwischen Hörigkeit, Skepsis und Fanatismus – die
perfekte Ergänzung zum Religions-Thema dieser 69. Mostra, denn gerade dieser
Film zeigte: Glaube funktioniert nicht über Dogmatismus, sondern allein über
Vertrauen.
Matthias Greuling, Venedig
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