Monsieur Assayas, inwieweit erzählt „Après Mai“ auch ihre eigene Jugendgeschichte?
Olivier Assayas: Es
ist mein persönlichster Film bisher. Aber ich glaube nicht an ein
autobiografisches Kino, und nicht alles, was man im Film sieht, ist tatsächlich
passiert. Was mir wichtiger war, ist, eine gewisse Stimmung der 70er Jahre, so
wie ich sie erlebt habe, einzufangen. Das beginnt ja bei den Drehorten, beim
Dekor und den Autos. Auch bei der Kleidung, ja sogar bei den Flugzetteln, die
wir damals von Hand druckten. Oder die Plattencover von damals. Das sind alles
Dinge, die meine Generation definiert haben. Nach meinem Film „Carlos“ (2010)
über den gleichnamigen Terroristen, der ja auch in den 70er Jahren spielt,
hatte ich das Gefühl, diese Zeit nicht nur aus politischer, sondern auch aus
persönlicher Sicht wiedergeben zu müssen. Das passiert mir häufig bei meinen
Filmen: Dass sie sich quasi automatisch ergeben und sich mir aufdrängen.
"Après Mai" von Olivier Assayas (Foto: La Biennale di Venezia) |
Dabei ist ihnen
wichtig, nicht von der 68er-Generation zu berichten, sondern bewusst von jener
Zeit der 70er Jahre, in denen Revolutionen jeder Art gerade bei der Jugend
beliebt waren.
Genau. Die 70er waren eine Zeit, in denen man so ziemlich
alles ausprobiert hat, was möglich ist. Das hat es zuvor und auch danach nie
mehr gegeben. Ich schildere die sehr naiven Träume junger Menschen von damals,
wie ich auch einer war. Alle erträumten sich eine bessere Welt und dachten, das
sie wirklich etwas verändern könnten. Erst in den 80ern wurden sie alle brutal
in die Realität zurückgeholt.
Gerade auf der
optischen Ebene funktioniert „Après Mai“ hervorragend. Die Stimmung ist ganz
wunderbar rekonstruiert. Wie gehen Sie dabei vor? Steht das alles bereits im
Drehbuch?
Nein, gar nicht. Ich bin ein sehr knapp formulierender
Drehbuchschreiber. Denn wenn ich da alles reinschreiben würde, was ich mir
denke, würde mich das später beim Drehen verrückt machen, geradezu einengen.
Ich mag es lieber, wenn ich die Geschichte nach dem Schreiben am Set noch
weiterentwickeln kann. Bis zu einem gewissen Grad muss man natürlich vorplanen,
wegen der Geldgeber und auch wegen der Schauspieler, die das Drehbuch ja als
Arbeitsunterlage brauchen. Aber die visuelle Gestaltung lasse ich mir völlig
offen, um den Stoff ständig überarbeiten und verbessern zu können.
Im Film geht es auch
um Liebe und sexuelle Erfahrungen, dennoch scheinen diese Dinge anders als noch
bei den 68ern eine Nebenrolle zu spielen.
Damals in dem Alter fühlte es sich normal an, sich eher
politisch oder künstlerisch zu engagieren als emotional. Ich erinnere mich,
dass ich stets ein Beobachter der sexuellen Revolution der 60er war. Damals war
das „Ich“ in einer Liebesaffäre nicht sehr bedeutend. In heutigen Filmen sind
Jugendliche oft fanatisch obsessiv, wenn es um Sex geht; sie sind getrieben von
Lust – solche Porträts finde ich grotesk. Die 70er brachten sicher ein
Freiheitsdenken in sexueller Hinsicht, vor allem, weil Sex bis dahin kaum
diskutiert wurde. Aber im Vordergrund stand nie der Sex, sondern immer die
Sache, für die gerade gekämpft wurde. Die eigenen Emotionen waren sicher nicht
das Zentrum der Welt. Matthias Greuling, Venedig
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