Klar, dass jemand wie Apichatpong Weerasethakul diesen Film mochte: „La fille de nulle part“ von Jean-Claude Brisseau, der in Locarno nun den Goldenen Leoparden erhielt, ist nämlich ein bisschen die Absage an all die (religiösen) Glaubensfragen, die die Menschheit befassen, aber nicht ohne zugleich Raum genug für das Vorkommen scheinbar übersinnlicher Vorgänge zu bieten. Weerasethakul ist ja selbst einer dieser Filmemacher, die ihre Arbeiten als beinahe spirituelle Rätsel konstruieren – die Phantasie, die spirituellen Untertöne, die halbtransparenten Menschen, die Geister, die roten, aus dem Dschungel hervorleuchtenden Augen eines seltsamen Wesens - all das brachte Weerasethakul in Cannes die Goldene Palme für „Uncle Bonmee“, und jetzt war „La fille de nulle part“ für ihn als Jury-Vorsitzender in Locarno gewissermaßen der Film der Wahl; wenngleich wenig glaubhaft ist, dass jeder Filmemacher nur die Filme liebt, die sich mit den Themen seiner eigenen Arbeiten befassen oder in eine ähnliche Richtung gehen. „Der Glanz des Tages“ von Tizza Covi und Rainer Frimmel aus Österreich etwa, eine herausragende Arbeit, die den Goldenen Leoparden verdient hätte, wäre „einfach nicht Apichatpongs Geschmack, das ist doch klar“, debattierte ein Journalisten-Kollege mit mir. Aber dennoch scheint es verwunderlich, wenn jemand immer nur einseitig gewisse Genres und Themen in Filmen liebt; ich schaue auch nicht den ganzen Tag Haneke, sondern gerne auch mal Batman.
"La fille de nulle part" von Jean-Claude Brisseau gewann den Goldenen Leoparden in Locarno (Foto: Festival Locarno) |
Wie auch immer: „La fille de nulle part“ ist dennoch ein würdiger Preisträger dieser 65. Festivalausgabe, vor allem, weil er eine Art Schlusspunkt unter ein Werk setzt, dem in der französischen Filmwelt viel Anerkennung, aber auch Tadel widerfuhr. Jean-Claude Brisseau hat sich gerne mit Erotik befasst in seinem Kino. Jetzt inszeniert er sich als über 70-jährigen Mathematik-Professor im Ruhestand, der in seiner Pariser Wohnung an einem Alterswerk schreibt: Es geht um nichts weniger als einen Essay zum Thema Mythen und Glauben, um Grundsätzliches also, ausgerechnet formuliert von einem Agnostiker; das Zweifeln ist des von exakter Wissenschaft geprägten Mannes liebster Zeitvertreib. Bis eine junge Frau in sein Leben tritt, die verletzt vor seiner Tür kauert und die er vorübergehend bei sich aufnimmt. Natürlich bringt diese Person Konfliktpotenzial mit, und zwischen den beiden entsteht eine Annäherung. Zugleich aber häufen sich in seiner Wohnung mysteriöse Ereignisse, an deren Unerklärbarkeit der alte Mann nicht und nicht glauben will.
Brisseau legt sein Kammerspiel irgendwo zwischen (Selbst-)Ironie und der These an, dass Menschen lieber an etwas glauben, bevor sie an gar nichts glauben. Auch, wenn sie gar nicht wissen, woran sie sich da eigentlich klammern.
Jury-Preis: "Somebody Up There Likes Me" von Bob Byington (Foto: Festival Locarno) |
Für „Der Glanz des Tages“ gab es übrigens doch eine Anerkennung in Locarno: Die Jury hat mit dem Preis an Walter Saabel die tatsächlich herausragendste, weil authentischste Schauspieler-Leistung prämiert. Den Spezialpreis der Jury gab es für die US-Independent-Produktion „Somebody Up There Likes Me“ von Bob Byington. Eine nur 75-minütige Tour de force und Tour d’Horizon gleichermaßen, denn hier verhandelt der Regisseur im Eiltempo gleich dreieinhalb Jahrzehnte im Leben eines (im Film nicht alternden) Mannes, der durch Liebe, Heirat, Vaterschaft und Scheidung stolpert wie ein unbedarfter Schuljunge mit der phlegmatischen Coolness eines Dandys. Stilistisch zieht sich Byington von Beginn an auf ein stoisch-statisches Blickfeld zurück, innerhalb dessen er den Akteuren viel Raum für ironische, aber auch zynische Selbstbetrachtung lässt. „Schräg“ nennt das der Boulevard. Stilsicher und erfrischend innovativ das Feuilleton. Mehr Filme solcher Provenienz täten Locarno gut; sie würden das Festival in seinem Status als Geheimtipp für Entdeckungen bestätigen.
- Matthias Greuling, Locarno
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