Das Filmfestival in Venedig kürt am Samstag seine Preisträger. Favoriten gibt es viele, aber das lässt eine Jury meist kalt.
Von Matthias Greuling
Es gibt bei Filmfestivals von der Größenordnung wie Cannes, Berlin oder Venedig einen beliebten Indikator, wer am Ende die begehrten Preise holen könnte. In den täglichen Festivalmagazinen veröffentlichen Kritiker aus aller Herren Länder ihre Sternewertung für die einzelnen Wettbewerbstitel, und daraus wird das Mittel errechnet, damit man die so genannten Favoriten auf einen Blick erkennen kann.
"Jackie" (Foto: La Biennale di Venezia) |
Das hat natürlich nur begrenzte Aussagekraft, denn die Einzelmeinungen des „Corriere della sera“, von „Variety“ oder der „Süddeutschen“ mögen jede für sich Gewicht haben, über den Kamm scheren lässt sich aber nichts. Kritiker, so sollte es zumindest sein, sind genau solche Individuen wie die Mitglieder einer bunt zusammengewürftelten Festival-Jury, nur meistens abgebrühter, kritischer, oder zumindest weniger leicht zu verführen. Weshalb es bei diesen Wertungen meistens am Ende die völlig falschen Erwartungen gibt. Beim 73. Filmfestival von Venedig, das heute, Samstag, mit der Preisverleihung endet, stehen etliche Filme hoch in Kritikergunst, die erfahrungsgemäß eher wenig Preischancen haben - was mitunter auch an schlichten logistischen Problemen liegen mag. So führt das Kritiker-Ranking etwa noch immer der Eröffnungsfilm des Festivals, das Musical „La La Land“ an, aber es ist eher unwahrscheinlich, dass zum Beispiel Emma Stone für ihre brillante Darstellung einen „Coppa Volpi“ bekommen wird. Dafür sollte sie nämlich nach Möglichkeit anwesend sein, und es erscheint unrealistisch, dass Stone noch ein zweites Mal nach Venedig reist, nur um sich diesen Preis abzuholen.
Wer böte sich also an? Am besten jemand, der sowieso noch in der Stadt ist, also einen relativ späten Auftritt beim Festival hatte. Natalie Portman zum Beispiel. Sie spielt in „Jackie“ des Chilenen Pablo Larrain („No!“) die von Trauer völlig übermannte Jackie Kennedy, die eine Woche nach JFKs Ermordung einem Journalisten ein Interview gibt und dabei verzweifelt und erfolglos um Fassung ringt. Larrain inszeniert sein US-Filmdebüt als frontalen Blick auf die zerrissene Gefühlswelt seiner Protagonisten, die irgendwo festhängt zwischen dem Schock über die Gehirnteile ihres Mannes, die ihr in Dallas plötzlich um die Ohren flogen, zwischen dem Mannsbild und Vater Kennedy, dessen zahlreiche Affären hier auch durchklingen und zwischen dem Erbe, das der tote Präsident hinterlassen soll. Jackie versucht in diesen vier erzählten Tagen nach dem Tod ihres Mannes alles, um an seinem Bild in der Nachwelt zu arbeiten, das man heute kennt, das damals aber auch in eine andere Richtung hätte geschrieben werden können. Larrain ist formal wie inhaltlich die Abbildung eines Getöses gelungen, man kann es nicht anders sagen, und auch deshalb heulen hier die Streicher verzweifelt jammernd über den Score, und auch deshalb beherrschen sich Portmans traurige Gesichtszüge so stark, man könnte meinen jede Träne würde sofort versteinern. Es ist grandios und abstoßend zugleich.
Jemand wie Terrence Malick hat solche filmischen Ausrufezeichen nicht nötig, denn seit seinem „Tree of Life“, für den er 2011 (wie immer in Abwesenheit) in Cannes die Goldene Palme erhielt, befasst sich dieser Einzelgänger des Kinos vermehrt mit der Sinnsuche in Bezug auf Leben, Liebe und Mutter Natur. Letztere ist Gegenstand seiner essayistischen Betrachtung „Voyage of Time“, die in perfekt animierten Hochglanz-Bildern von Urknall und Zellteilung, vom Universum und dem Leben philosophiert, mit einer Anrufung an die „Mutter“, aus dem Off, stimmig vorgetragen von Cate Blanchett, die mit „Oh Mutter“ immer auch das Schöpferische, das Göttliche meint, es aber nicht religiös formuliert, sondern sehr menschlich. Die Schöpfung als 90-minütiger Trip in ein fantastisches Bilder-Sammelsurium, dass man dann und wann auch bei „Universum“ im Fernsehen sehen kann, dann aber natürlich ohne Blanchetts sehnsüchtiges Hauchen.
Es gibt auch etliche potenzielle Preisträger unter weniger bekannten Wettbewerbsteilnehmern, darunter etwa das Sexismus- und Homophobie-Drama „La Región Salvaje“ des Mexikaners Amat Escalante, der darin auf absurde Weise zeigt, welche Auswirkungen das Unterdrücken unserer sexuellen Wünsche haben kann. Ein Monster kommt darin auch vor. Nicht weniger absurd der argentinische Beitrag „El ciudadano ilustre“ von Mariano Cohn und Gastón Duprat, der von einem Schriftsteller erzählt, der nach vielen Jahren in seine Heimat zurückkehrt, wo ihm allerdings nicht nur Wohlwollen entgegenschlägt, was sich bis zur Eskalation steigert.
„Spira Mirabilis“, eine dokumentarische Bildersammlung der Italiener Massimo D ’Anolfi und Martina Parenti, arbeitet sich am Mythos von Unsterblichkeit ab, indem sie die Elemente Erde, Luft, Feuer und Wasser aufeinander loslässt: Die scheinbar wahllos zusammengestellten Szenen - von angeblich unsterblichen Quallen bis zur Indianderbestattung - sind dann und wann mit überraschenden Momenten versehen, aber auch dieser Bilderwahn ist bald so abstrakt wie jener von Terrence Malick. Der Wechsel zwischen Abstraktion und konkreter, sehr cineastischer Erzählung, wie etwa in Francois Ozons „Frantz“ oder dem eher verunglückten „The Light Between Oceans“ mit Alicia Vikander, ist ein Merkmal dieser 73. Filmfestspiele. Und so werden am Ende wohl diejenigen ganz oben auf der Gewinnerliste der Jury rund um Sam Mendes stehen, die sonst keiner auf der Rechnung hatte. Schon gar nicht die Kritiker.
(auch in der WZ erschienen)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen