Freitag, 9. September 2016

Natalie Portman: „Die gefährlichste Rolle meines Lebens“

Portman war beim Filmfestival Venedig in „Jackie“ als Jackie Kennedy zu sehen - in den Tagen nach der Ermordung ihres Mannes.

Von Matthias Greuling, Venedig

Ihre Tränen versteckt sie gut: Wenn Jackie Kennedy einem US-Journalisten nur wenige Tage nach der Ermordung ihres Mannes ein großes Interview gibt, dann mimt sie Gefasstheit, die sie aber nicht hat. Sie bemüht sich nach Kräften, nicht zynisch zu sein, auch, wenn ihr das nicht gelingt. „Sie wollen doch sicher wissen, wie das Geräusch war, als die Kugel in seinen Kopf einschlug“, fragt sie den Journalisten. Später im Film wird er diese Frage tatsächlich stellen.
Natalie Portman (Foto: Katharina Sartena)
„Jackie“, das US-Debüt des Chilenen Pablo Larrain, ist ein Film über Trauer, noch mehr aber über Verlust und vielleicht am meisten über das Versteckspiel, das Kokettieren mit den Medien, das der Politik immanent ist; Wenn Jackie Kennedy sich ein Stück weit öffnet im Interview, wenn sie Details preisgibt, die ihre wahren Gefühle beschreiben, kehrt sie am Ende ganz rasch wieder in den Modus Teflon-Pfanne zurück: „Glauben Sie ja nicht, dass sie das schreiben dürfen“. Sie zieht nervös an ihrer Zigarette. „Und ich rauche natürlich nicht“. 
„Jackie“ ist eine sehr aufsichtige, geradezu frontale Untersuchung der vier Folgetage nach JFKs Ermordung in Dallas am 22. November 1963 - aber nicht um die Fakten geht es hier, sondern um die Befindlichkeit der First Lady, um das Leid für ihre Kinder, um den Ehemann, der nicht immer treu war, um ihre Wehmut beim Verlassen des Weißen Hauses und auch darum, wie rasch man sozusagen „aus dem Amt scheidet“, ein Amt, dass man auch mit Leidenschaft für das Land und für den Ehemann gestaltet hat. Jackie Kennedy hat sich der Etikette verweigert, hat das blutgetränkte Kleid, das sie im Wagen neben ihrem toten Ehemann getragen hatte, anbehalten, bis beide daheim in Washington gelandet sind, denn die Menschen da draußen sollten „sehen, was sie angerichtet haben“, sagt Jackie im Film.
Larrains Film ist kein Bio-Pic, sondern mehr als das: In seinem kurzen Darstellungsausschnitt von nur vier Tagen sagt er mehr über den Politbetrieb aus als viele andere, vergleichbare Polit-Filme. Der Mythos Kennedy wird dadurch aber keineswegs abgeschwächt, denn Larrain arbeitet sehr klug daran, sein Publikum nur nicht zu viel über die komplexen Innenwelten des Politbetriebes wissen zu lassen. Es geht auch darum, die Trauer einer Frau zu zeigen, der von einer Sekunde zur anderen der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Insofern ist „Jackie“ ein Film über Privates, Persönliches. Und hier entsteht der Widerspruch: Politik in dieser Größenordnung kann niemals privat bleiben. Die Kennedys markierten den Anfang des Medienzeitalters im Politikbetrieb. Sie mussten auch mit all seinen Konsequenzen leben.

In Venedig gab es bei der Premiere etliche „Bravo“-Rufe für Portman, die danach davon sprach, dass „sich diese Rolle wie meine bisher gefährlichste anfühlte“. Portman meinte: „Jeder hat sein eigenen Bild von Jackie Kennedy im Kopf - und man kann meine Darstellung mögen oder nicht. Ich war nie eine gute Imitatorin“, so Portman. Dennoch klappt ihre angestrengte Interpretation erstaunlich gut. Ein Umstand, der sie auch für den Preis als beste Darstellerin beim Filmfestival von Venedig qualifiziert. Und vermutlich auch beim Oscar-Rennen 2017.

Auch in der WZ erschienen

Endspurt in Venedig: Wer die besten Chancen hat

Das Filmfestival in Venedig kürt am Samstag seine Preisträger. Favoriten gibt es viele, aber das lässt eine Jury meist kalt.

Von Matthias Greuling

Es gibt bei Filmfestivals von der Größenordnung wie Cannes, Berlin oder Venedig einen beliebten Indikator, wer am Ende die begehrten Preise holen könnte. In den täglichen Festivalmagazinen veröffentlichen Kritiker aus aller Herren Länder ihre Sternewertung für die einzelnen Wettbewerbstitel, und daraus wird das Mittel errechnet, damit man die so genannten Favoriten auf einen Blick erkennen kann. 
"Jackie" (Foto: La Biennale di Venezia)
Das hat natürlich nur begrenzte Aussagekraft, denn die Einzelmeinungen des „Corriere della sera“, von „Variety“ oder der „Süddeutschen“ mögen jede für sich Gewicht haben, über den Kamm scheren lässt sich aber nichts. Kritiker, so sollte es zumindest sein, sind genau solche Individuen wie die Mitglieder einer bunt zusammengewürftelten Festival-Jury, nur meistens abgebrühter, kritischer, oder zumindest weniger leicht zu verführen. Weshalb es bei diesen Wertungen meistens am Ende die völlig falschen Erwartungen gibt. Beim 73. Filmfestival von Venedig, das heute, Samstag, mit der Preisverleihung endet, stehen etliche Filme hoch in Kritikergunst, die erfahrungsgemäß eher wenig Preischancen haben - was mitunter auch an schlichten logistischen Problemen liegen mag. So führt das Kritiker-Ranking etwa noch immer der Eröffnungsfilm des Festivals, das Musical „La La Land“ an, aber es ist eher unwahrscheinlich, dass zum Beispiel Emma Stone für ihre brillante Darstellung einen „Coppa Volpi“ bekommen wird. Dafür sollte sie nämlich nach Möglichkeit anwesend sein, und es erscheint unrealistisch, dass Stone noch ein zweites Mal nach Venedig reist, nur um sich diesen Preis abzuholen.
Wer böte sich also an? Am besten jemand, der sowieso noch in der Stadt ist, also einen relativ späten Auftritt beim Festival hatte. Natalie Portman zum Beispiel. Sie spielt in „Jackie“ des Chilenen Pablo Larrain („No!“) die von Trauer völlig übermannte Jackie Kennedy, die eine Woche nach JFKs Ermordung einem Journalisten ein Interview gibt und dabei verzweifelt und erfolglos um Fassung ringt. Larrain inszeniert sein US-Filmdebüt als frontalen Blick auf die zerrissene Gefühlswelt seiner Protagonisten, die irgendwo festhängt zwischen dem Schock über die Gehirnteile ihres Mannes, die ihr in Dallas plötzlich um die Ohren flogen, zwischen dem Mannsbild und Vater Kennedy, dessen zahlreiche Affären hier auch durchklingen und zwischen dem Erbe, das der tote Präsident hinterlassen soll. Jackie versucht in diesen vier erzählten Tagen nach dem Tod ihres Mannes alles, um an seinem Bild in der Nachwelt zu arbeiten, das man heute kennt, das damals aber auch in eine andere Richtung hätte geschrieben werden können. Larrain ist formal wie inhaltlich die Abbildung eines Getöses gelungen, man kann es nicht anders sagen, und auch deshalb heulen hier die Streicher verzweifelt jammernd über den Score, und auch deshalb beherrschen sich Portmans traurige Gesichtszüge so stark, man könnte meinen jede Träne würde sofort versteinern. Es ist grandios und abstoßend zugleich.
Jemand wie Terrence Malick hat solche filmischen Ausrufezeichen nicht nötig, denn seit seinem „Tree of Life“, für den er 2011 (wie immer in Abwesenheit) in Cannes die Goldene Palme erhielt, befasst sich dieser Einzelgänger des Kinos vermehrt mit der Sinnsuche in Bezug auf Leben, Liebe und Mutter Natur. Letztere ist Gegenstand seiner essayistischen Betrachtung „Voyage of Time“, die in perfekt animierten Hochglanz-Bildern von Urknall und Zellteilung, vom Universum und dem Leben philosophiert, mit einer Anrufung an die „Mutter“, aus dem Off, stimmig vorgetragen von Cate Blanchett, die mit „Oh Mutter“ immer auch das Schöpferische, das Göttliche meint, es aber nicht religiös formuliert, sondern sehr menschlich. Die Schöpfung als 90-minütiger Trip in ein fantastisches Bilder-Sammelsurium, dass man dann und wann auch bei „Universum“ im Fernsehen sehen kann, dann aber natürlich ohne Blanchetts sehnsüchtiges Hauchen.
Es gibt auch etliche potenzielle Preisträger unter weniger bekannten Wettbewerbsteilnehmern, darunter etwa das Sexismus- und Homophobie-Drama „La Región Salvaje“ des Mexikaners Amat Escalante, der darin auf absurde Weise zeigt, welche Auswirkungen das Unterdrücken unserer sexuellen Wünsche haben kann. Ein Monster kommt darin auch vor. Nicht weniger absurd der argentinische Beitrag „El ciudadano ilustre“ von Mariano Cohn und Gastón Duprat, der von einem Schriftsteller erzählt, der nach vielen Jahren in seine Heimat zurückkehrt, wo ihm allerdings nicht nur Wohlwollen entgegenschlägt, was sich bis zur Eskalation steigert. 

„Spira Mirabilis“, eine dokumentarische Bildersammlung der Italiener Massimo D ’Anolfi und Martina Parenti, arbeitet sich am Mythos von Unsterblichkeit ab, indem sie die Elemente Erde, Luft, Feuer und Wasser aufeinander loslässt: Die scheinbar wahllos zusammengestellten Szenen - von angeblich unsterblichen Quallen bis zur Indianderbestattung - sind dann und wann mit überraschenden Momenten versehen, aber auch dieser Bilderwahn ist bald so abstrakt wie jener von Terrence Malick. Der Wechsel zwischen Abstraktion und konkreter, sehr cineastischer Erzählung, wie etwa in Francois Ozons „Frantz“ oder dem eher verunglückten „The Light Between Oceans“ mit Alicia Vikander, ist ein Merkmal dieser 73. Filmfestspiele. Und so werden am Ende wohl diejenigen ganz oben auf der Gewinnerliste der Jury rund um Sam Mendes stehen, die sonst keiner auf der Rechnung hatte. Schon gar nicht die Kritiker.

(auch in der WZ erschienen)

Mittwoch, 7. September 2016

Nick Cave trauert in 3D

Mit „One More Time With Feeling“, nur heute, am 8. September 2016, in den Kinos zu sehen, verarbeitet Nick Cave den Tod seines Sohnes Arthur.

Von Matthias Greuling, Venedig

Nick Cave ist mit seinem neuen Album „Skeleton Tree“ derzeit in aller Munde. Am heutigen 8. September beschert der australische Musiker seinen Fans ein gewaltiges Zusatzgeschenk in Form eines schwarzweißen Dokumentarfilms in 3D, der nur an diesem Tag weltweit in den Kinos zu sehen sein wird.

Nick Cave (Foto: La Biennale di Venezia)

Hintergrund für die Doku „One More Time With Feeling“ war der Tod von Caves erst 15-jährigem Sohn im Sommer 2015. Damals war Arthur Cave, nach Einnahme von LSD, von einer Klippe gestürzt und tödlich verunglückt. Diese schwere Zeit der Trauer hat Cave nicht nur in seinem Album, sondern auch in besagtem Film verarbeitet, den sein langjähriger Freund Andrew Dominik („Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“) in Szene gesetzt hat. 
„Nick wollte, dass ein Freund diese Arbeit macht, aber einer, der nicht allzu nahe an seinem Familienleben dran ist. Ich war sehr oft in Nicks Zuhause, aber ich war nie der beste Freund, mit dem er alles teilte. Genau das suchte er, um seine Gefühle über den Verlust des Sohnes besser transportieren zu können“, sagt Dominik im Interview mit der Wiener Zeitung beim Filmfestival von Venedig.
Dominik sammelte hunderte Stunden teils sehr intimes Videomaterial, das er zu einem Film verdichtete. „Man muss sich das so vorstellen: Aus 100 Stunden machst du 10, aus 10 machst du zwei, aus zwei machst du 20 Minunten - und dann hast du den ersten Teil deines Films fertig“. Viel Arbeit? „Sehr viel Arbeit!“
Aber der Film ist rechtzeitig fertig geworden und funktioniert nicht nur als Illustration zu Caves neuer Platte, weil er sämtliche Songs (bis auf einen) in Bilder umsetzt, sondern ist auch ein Blick auf eine geschundene Seele. „Ich kann definitiv sagen: So wie hier hat man Nick Cave noch nie gesehen“, verspricht Dominik.
Andrew Dominik (Foto: Katharina Sartena)
Der Regisseur, ein Landsmann des Sängers, hat ihn vor 30 Jahren kennen gelernt. „Wir hatten desselben Drogendealer“, gesteht er. „Nick war damals der wilde berühmte Musiker, der gegen alle Regeln verstieß. Irgendwann lernten wir uns kennen und sind uns über die Jahre hinweg immer wieder begegnet“.
Für „One More Time With Feeling“ hat sich Cave schließlich eine Besonderheit einfallen lassen, um seine neue Platte zu vermarkten. „Nick weiß, dass Musiker Interviews geben müssen, wenn sie neue Tonträger rausbringen“, so Dominik. „Aber nach dem Tod seines Sohnes wollte er verständlicherweise mit niemandem darüber reden. Also hat er diesen Film bei mir in Auftrag gegeben - und nun sitze ich hier und rede darüber“.
Cave hat Dominik den Film „abgekauft“, er wollte die finale Kontrolle über den Look und den Inhalt. „Aber Nick hat meinen Schnitt schließlich nicht verändert“, freut sich Dominik. 
Auch aus dem Off spricht Cave im Film zu seinen Fans, sinniert über das Leben und über den Tod. „Ich gab ihm thematische Vorgaben, er nahm daraufhin all seine Gedanken dazu auf“, so Dominik. „Aus diesem Audiomaterial entstand schließlich der Sound-Teppich und das Voice Over“.
Dass der Film nach seiner Premiere beim Filmfestival von Venedig nur einen einzigen Tag lang im Kino gezeigt wird, ist auch eine Idee des Musikers. „Nick wollte das so. Ob es „One More Time With Feeling“ eines Tages auf DVD geben wird oder ob einzelne Sequenzen als Videos ausgekoppelt werden, das kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist allein Nicks Entscheidung“. 

Die Kinokarten dürften also knapp werden.

(Auch in der WZ erschienen)

Rocco Siffredi: Ein Leben für Pornos und Sex

Rocco Siffredi ist Italiens bekanntester Pornostar und Gegenstand einer ernst gemeinten filmischen Auseinandersetzung mit dem Thema Sex

Von Matthias Greuling, Venedig

Wenn Rocco Siffredi, bürgerlich Rocco Antonio Tano, geboren 1964 in der italienischen Provinz, vor einem steht und die Hände schüttelt, könnte man denken, man hat es mit einem smarten, überaus gepflegten Geschäftsmann zu tun, Anfang 50, gut situiert, seriös und vor allem eloquent. Und genau all das ist er auch, nur das Geschäft, in dem er tätig ist, steht im Verruf. „Ich mache Pornos, seit ich denken kann und die Leute finden es schmuddelig“, sagt Siffredi. „Aber ich wollte meine Sexsucht eben zu meinem Lebensinhalt machen“. 
Rocco Siffredi (Foto: Katharina Sartena)
Siffredi ist das Thema der Doku „Rocco“ von Thierry Demaiziere und Alban Teurlai, die in Venedig ihre Uraufführung außerhalb des Wettbewerbs erlebte und gefeiert wurde. Die beiden Filmemacher haben sich dem „Italian Stallion“ (wie ihn seine Website bewirbt) auf eine sehr persönliche Weise genähert. Rocco, der in knapp 1700 Pornofilmen vor allem zeigen durfte, wie groß sein bestes Stück ist, und auch wie ausdauernd, erzählt hier aus dem Nähkästchen, wie Muttern ihm dereinst den Weg gewiesen hat, als er mit dem Wunsch, Pornostar zu werden, ankam: „Sie meinte: Wenn das wirklich das ist, was du machen willst, dann tu es!“, erzählt Siffredi und sagt: „Meine Mutter war und ist die wichtigste Frau in meinem Leben“. Ein Satz, den die meisten italienischen Männer wohl unterschreiben würden.
Rocco Siffredi rechnet überschlagsmäßig: „Ich habe 1700 Filme gemacht, im Durchschnitt jedesmal drei Frauen gehabt, hinzu kommen die Sonderdrehs an Wochenenden“. Wer rechnen kann, weiß: Dieser Mann hatte sehr früh aufgehört zu zählen. Und außerdem: „Es gab Filme, da war Rocco mit 100 Frauen zugange. Aber glauben Sie mir: Das macht keinen Spaß mehr“.
Rocco Siffredi erinnert sich an die Anfänge: „Das Ganze begann, als ich acht Jahre alt war, damals habe ich zum ersten Mal masturbiert. Und seit damals hat sich das Verlangen nach Sex immer nur noch mehr gesteigert. Als Pornoschauspieler habe ich 20 Jahre lang nicht mitbekommen, dass ich sexsüchtig war. Erst als ich ausgestiegen bin, wurde mir bewusst, wie süchtig ich wirklich bin“. 
Rocco hat seine Sucht zum Beruf gemacht. Seine Website und die Filme verkaufen sich weltweit bestens, ein Dreh mit Rocco hatte den Ruf, „dass sich die teilnehmenden Pornodarstellerinnen danach erst einmal drei, vier Tage Urlaub nehmen mussten“,erzählt sein Cousin im Film, der bei allen Rocco-Produktionen die Kamera führt. Der Italian Stallion hielt, was er versprach. Und gibt den Mädchen, die er hier der Reihe nach flachlegt, auch gleich gute Ratschläge: „Wenn du nicht bereit bist, Analsex-Szenen zu drehen, dann wirst du im Pornogeschäft nur sehr wenige Aufträge bekommen“. 
Für Rocco Siffredi, der bis heute ein Bild seiner verstorbenen Mutter bei sich trägt „und es mindestens einmal am Tag anschaut“, ist die Lust auf Sex auch mit 52 nicht weniger geworden, „ich kanalisiere sie nur anders“, verrät er. Worüber seine Ehefrau, eine ehemalige Make-up-Artistin bei den Pornodrehs, bestens bescheid wisse. Und auch seine zwei Söhne hätten von Anbeginn an gewusst, „was Papa arbeitet. Ich wollte nie ein Versteckspiel spielen“, so Siffredi.
Die Doku „Rocco“ lässt jedenfalls tief blicken in die Seele eines Mannes, der trotz der verpönten Arbeit, der er nachgeht, gar nicht anders konnte, als sie auszuüben. „Meine Frau hat mich immer verstanden, was auch der Grund ist, weshalb wir verheiratet sind. Sie versteht mich wie kein anderer Mensch“. Eifersucht gäbe es keine, denn „Rocco macht ja nur seine Arbeit“, sagt die Gattin einmal im Film.
Bedenklich findet Siffredi allerdings die Weise, wie sich die Pornobranche durch das Internet verändert hat. „Als ich anfing, da gab es in Pornos sogar noch eine Handlung. Heute muss es einfach möglichst rasch zur Sache gehen“, so Siffredi. „Die Auswirkungen auf unsere Jugend, die sich wie selbstverständlich schon im Alter von 12, 13 Jahren diese Pornos auf ihren Smartphones ansehen, wird man erst in 10, 20 Jahren erkennen. Ich halte diese stetige Verfügbarkeit für ein Problem, gegen das kein Gesetzgeber dieser Welt etwas tut“. 
Denn Siffredi hat bei all dem Sex auch ein soziales und moralisches Gewissen. „Wenn bei Veranstaltungen junge Paare auf mich zukommen und mir das Mädchen sagt, ich möge doch bitte ihrem Freund beibringen, wie man sie richtig fest ins Gesicht schlägt, sie fesselt oder sie anspuckt, dann hört für mich der Spaß auf“, sagt Siffredi. „Was die Zuschauer begreifen müssen, ist: Wir Pornodarsteller machen hier keine Sexualkunde und keinen Unterricht. Wir machen eine Form der Unterhaltung“.
Schließen will Siffredi aber mit versöhnlichen Gedanken und auch damit, dass bei seinen Produktionen Frauen niemals unterdrückt oder ausgenutzt wurden. „Es ist ganz im Gegenteil so, dass sie bestimmen, wie weit man gehen darf. Sie sind es, die die Grenzen ziehen, und genau so sollte es sein. Erniedrigung und Unterdrückung haben keinen Platz beim Sex, nur das, was man seinem Gegenüber zu dessen Befriedigung schenken kann“. 
Das klingt nach einer heilen Welt. Im Netz lässt sich kinderleicht nachprüfen, wie Roccos Frauen so drauf sind.

(Auch in der WZ erschienen)

Dienstag, 6. September 2016

Ulrich Seidl im Unruhezustand

Auf „Safari“: Ulrich Seidl hat einen Film über Jagdtourismus in Afrika gedreht, der in Venedig uraufgeführt wird.

Von Matthias Greuling, Venedig

Sie schleichen durch die Wildnis, als wären sie selbst Tiere auf der Jagd nach Beute. Sie nehmen alles ins Visier, was sie hier in den Weiten Afrikas entdecken: Buschböcke, Impalas, Zebras, Gnus und sogar Giraffen. Der Jagdtrieb in ihnen ist angeschwollen bis zu seiner maximalen Ausprägung. Das Adrenalin schießt durch ihre Adern, zugleich müssen sie ihre Emotionen drosseln, denn sonst wittert das Tier, im Jagdjargon auch „Stück“ genannt, dass es auf der Abschlussliste steht. Das Gewehr wird aufgestützt auf eine Art Stativ, damit der Schuss sauber und gezielt trifft. Wir sind bei einer „Safari“ dabei, und genau diesen schlichten Titel wählt Regisseur Ulrich Seidl, um seinen „Urlaubsfilm über das Töten“, wie er ihn nennt, zu beschreiben. Der Film hatte soeben seine Weltpremiere außer Konkurrenz beim Filmfestival von Venedig.
Ulrich Seidl (Foto: Katharina Sartena)

Herr Seidl, was interessiert Sie an der Jagd?
Ulrich Seidl: Jagd wirft die Frage auf, warum Menschen auf Tiere schießen. Hinzu kommt die Komponente, dass ich in Afrika gedreht habe, wo findige Unternehmer diese Jagd auch Touristen aus aller Welt anbieten - man jagt hier, während man Urlaub macht - und diese Kombination hat mein Interesse geweckt. Jagen ist menschlich, es liegt offensichtlich in den Genen, zumindest bei Männern. Auf der anderen Seite hat die Jagd in der Öffentlichkeit ein sehr schlechtes Image. Man fragt sich, ob man das vertreten kann. All diese Aspekte fließen in diesen Film ein.

Kann man Jagd denn vertreten?
Das kann man nicht so einfach beantworten. Man muss zwischen der Jagd in heimischen Wäldern und der touristisch organisierten Großwildjagd unterscheiden. Ich bin in diesem Sinne kein ausgesprochener Jagdgegner, sondern hinterfrage, unter welchen Voraussetzungen findet die Jagd statt und zu welchem Zweck?

War es schwierig, die Protagonisten für diesen Film zu finden? Gerade, weil die Jagd ein solch umstrittenes Thema ist?
Ich finde immer die richtigen Protagonisten für meine Filme, meistens ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich sie habe und da gehört auch Geduld dazu. In diesem Fall war es besonders schwierig, da ich Menschen finden musste, die ich unverfälscht dabei zeigen durfte, dass sie zu ihrem Jagdurlaub in Afrika wirklich stehen. Für mich war wichtig, dass ich zu dem Thema keine vorgefasste Meinung hatte, denn es macht für mich keinen Sinn, einen Film zu beginnen, dessen Thema ich positiv oder negativ sehe. Ich gehe dem nach, bin selbst neugierig, und frage: Was passiert hier? So entstehen meine Filme. Im übrigen kann ich mir nicht vorstellen, jemals selbst zu jagen.

Sie „inszenieren“ selbst bei Dokumentarfilmen weite Teile Ihrer Bilder. Wie weit hat Ulrich Seidl den doch recht unkalkulierbaren Prozess des Anpirschens mitgeformt?
Ein bisschen Wahrheit ist bei mir schon dabei, nicht alles ist Inszenierung. Aber selbst, wenn die Kamera sich viel bewegt, wie in diesem Fall, nehme ich dennoch großen Einfluß auf sie. Mein Hauptinteresse galt hier den Menschen, die sich eine solche touristische Reise antun, und wie sie durch den Busch pirschen, auf der Suche nach wilden Tieren. Und wie sie sich benehmen, wenn sie ein Tier sehen. Was machen sie vor dem Schuss, wie reagieren sie danach?

Interessant ist jedenfalls der Umgang mit Sprache: Das Tier ist in der Jägersprache ein „Stück“, das nicht blutet, sondern „schweißt“.
Ich kannte einen Teil dieser Jägersprache, aber mich hat es auch verwundert. Wie kann man das interpretieren? Warum gibt es diese Sprache? Die Antwort kann nur sein: Man schafft zu einem Tier, das man erlegen will, eine Distanz, damit es keinerlei emotionale Verbindung geben kann.  Das Tier ist eben kein Zebra oder keine Giraffe, sondern ein Stück. Das lässt einen schon nachdenklich werden. Und auch die Tatsache, auf die wir während der Arbeit an den englischen Untertiteln für den Film draufgekommen sind: Im Englischen gibt es keine vergleichbare Jägersprache. Man kennt das nur im deutschen Sprachraum.

Wo verorten Sie „Safari“ auf Ihrem künstlerischen Weg? Denn der Film ist nur vordergründig ein Film über eine Safari. In Wahrheit geht es doch ums Menschsein.
Am Anfang einer neuen Arbeit habe ich nie vor, mit einer genauen Vorstellung da hineinzugehen. Ich habe lediglich ein mehr oder weniger eingegrenztes Thema, und ich mache daraus einen Film, im Zuge dessen ich mich mit den Protagonisten zu einem gewissen Punkt entwickle. Also, ich gehe nicht her und fasse den Plan, einen metaphorischen Film über das Menschsein zu machen. Es ergibt sich eher. Deshalb kann ich den Film auch nicht einordnen. Ähnlich erging es mir bei „Im Keller“. Die Jagd als Thema symbolisiert hier aber sehr gut, wo wir als Menschheit heute stehen, nämlich an einem Punkt, an dem sichtbar wird, dass wir uns selbst irgendwann einmal abschaffen werden, so hat es den Anschein. Weil wir alles rücksichtslos ausbeuten und zerstören.

„Safari“ ist in seiner Weltsicht viel universeller, als es etwa „Im Keller“ war. Noch dazu, weil die Jagd Ihnen hier auch als Metapher dient.
Sie haben recht, denn man kann das weiterdenken und eine andere Form von Ausbeutung sehen: Wenn man die Jagd verurteilt, was berechtigt ist, dann muss man auch die Massentierhaltung verurteilen. Wer ein Verbot der Jagd fordert, muss auch diese Massentierhaltung verbieten. Aber davon will niemand etwas hören, weil man ja selbst auch in den Supermarkt geht und sich das vakuumverpackte Fleisch kauft, ohne wirklich zu sehen, dass das auch ein mal ein lebendiges Wesen war, das geschlachtet wurde.

In „Safari“ dient das Töten allerdings als Touristenattraktion. 
Der Jagdtourismus ist ein Wirtschaftszweig, genau wie der Tourismus an sich. Es ist ein Geschäft. Europäer zahlen einen Preis, damit sie diese Jagd geboten bekommen und ihre Zeit dort verbringen. Die Herstellung der Trophäen ist außerdem auch noch mal ein Wirtschaftszweig, denn ein Gnu, das man erlegt hat, will präpariert werden, und da gibt es je nach Tierart Preislisten, was das kostet. Das kann leicht ein paar Tausend Euro ausmachen. Da gibt es wirklich große Unternehmen, die so etwas machen und in die ganze Welt verschicken.

Noch ein Wort zur Politik: Ihr Film „Im Keller“ hat eine Befindlichkeit vorweggenommen, die heute, im Wahljahr 2016 zur Realität geworden ist. Sehen Sie das auch so?
Ich sehe das anders. Der berühmt gewordene Nazi-Keller mit dem Hitler-Bild und den darunter feiernden Männern, den hat es bei uns immer gegeben, das ist nichts Neues gewesen. Das war auch vielen Menschen bekannt, man hat halt einfach nur nicht darüber geredet. Ich glaube hingegen, dass die neue Entwicklung eine viel gefährlichere ist, weil hier die schreckliche Vergangenheit der NS-Zeit gar keine Rolle mehr spielt. Sondern man ist hier - unter ganz anderen Voraussetzungen - plötzlich bereit, von der Demokratie abzurücken.

Wäre das ein Sujet für Sie?
Für mich nicht, denn ich glaube, meine Filme sind per se alle schon sehr politisch und nehmen zu gewissen Befindlichkeiten Stellung. Ich würde aber keinen Film machen, bei dem ich von Beginn an ein politisches Thema als Grundlage installiere, sondern ich zeige eher Menschen. So habe ich es auch in „Safari“ getan.

Ihre Filme haben immer wieder Diskussionen ausgelöst. Erwarten Sie das auch für „Safari“?

Ich hoffe. Denn ich mache Filme, damit sie Diskussionen auslösen und will dem Zuschauer genug Stoff für Verstörung bieten, damit er aus dem Kino geht und sich darüber den Kopf zerbricht. Meine Filme sollen etwas bewirken, was einen nicht mehr in Ruhe lässt.

Auch in der WZ erschienen.

Montag, 5. September 2016

Halbzeit in Venedig

Bis zur Halbzeit präsentierte das Filmfestival Venedig große Namen und spannende Filme von Wenders, Ozon und Tom Ford.

Von Matthias Greuling, Venedig


Wenn jemand wie Wim Wenders seinen bereits vierten Film in 3D vorstellt, dann hat das eine Aussagekraft von besonderer Bedeutung: Zugleich sagt der Regisseur: „3D ist leider zum Scheitern verurteilt“. Und zwar deshalb, weil Hollywood diese Seh- und Projektionstechnik „für die falschen Geschichten eingesetzt hat“. Wender begann bei „Pina“ (2011) an 3D zu glauben, und zwar „in einer Form, die sich für ein anspruchsvolles Erzählen eignete, nicht für Spektakelkino, das den Zuschauer schnell ermüdet“. Weshalb der 71-jährige deutsche Regisseur ein Verfechter von 3D bleibt. „Aber es wird wohl wieder zur Fußnote der Filmgeschichte werden, denn die großen Studios ziehen sich bereits aus dem Geschäft mit 3D zurück“, weiß Wenders. „Immer weniger Leute wollen das sehen“.
Wim Wenders (Foto: K. Sartena)
Wir sind in Venedig, bei den 73. Filmfestspielen, und Wim Wenders hat hier im Wettbewerb um den Goldenen Löwen seinen ebenso fordernden wie eleganten, spröden wie faszinierenden Beitrag „Les Beaux Jours d’Aranjuez“ vorgestellt, in dem zwei Schauspieler, die von einem fiktiven Autor erfunden werden, auf der Terrasse eines Sommeranwesens 90 Minuten über die Liebe sprechen, manchmal auch philosophieren. Und wo eine Jukebox ebenso eine Hauptrolle hat wie Nick Cave einen kurzen Auftritt, das Ganze verfasst von Wenders’ Freund und fünfmaligem Kollaborateur Peter Handke. 
„Peter und ich kommunizieren selten Angesicht zu Angesicht“, verrät Wenders im Gespräch, „das meiste läuft über schriftliche Kommunikation. Peter ist ein großer Freund handgeschriebener Briefe“. Genau in dieser Façon ist auch „Les Beaux Jours d’Aranjuez“ abgefasst, es ist tief in die Materie eintauchendes Kino voller brillanter (französischer) Dialoge und großartig einfacher 3D-Bilder, genau da, wo man dachte, das Medium würde sich dafür gar nicht lohnen. Aber gerade hier, im Dialog zweier Menschen, macht die Tiefenwahrnehmung endlich wirklich Sinn - sie ist die wahrhaftige Entsprechung zu Wenders’ und Handkes Gedankenwelt. Sie reflektiert eine unbedingte Natürlichkeit im Sehen auf uns und um uns.
Ganz andere Pfade der Erzählkunst beschreitet François Ozon in seinem neuen Film „Frantz“, ein Post-Weltkriegsdrama, das Anfang der 1920er Jahre spielt. Ein junger Franzose (Pierre Niney) sucht die deutschen Eltern und die Verlobte (Paula Beer) des im Krieg gefallenen Frantz auf und verschafft den Angehörigen Kraft mit seinen Erzählungen über die Freundschaft, die er und Frantz vor dem Krieg hegten. Jedoch gesellt sich zu dem vorwiegend in schwarz-weiß gedrehten Drama bald ein seltsam nebulöser Unterton hinzu, der fast hitchcockhafte Züge aufweist und dessen Wendung zur Filmmittte für Überraschungen sorgt. Ozon nennt als Inspiration für den Film unter anderem auch Hanekes „Das weiße Band“. Einerseits, weil beide Filme - ganz auf ihre Weise - die aufkeimenden Extremismen des frühen 20. Jahrhunderts aufarbeiten, andererseits, „weil meine Produzenten erst dann von meinem Plan überzeugt waren, in Schwarzweiß zu drehen, als sie erkannten, dass Haneke damit großen Erfolg hatte“. Jedenfalls ist „Frantz“ spannendes, hervorragend gespieltes Ozon-Kino in Reinkultur: Dieser Franzose wusste immer schon, wie man mit scheinbar simplen dramaturgischen Tricks packende Geschichten erzählt, die Niveau und Unterhaltung gleichermaßen bieten.
Tom Ford wiederum zeigt in seiner zweiten Regiearbeit „Nocturnal Animals“, dass der Modeschöpfer auch außerhalb seines Metiers das Inszenieren beherrscht. Er erzählt von einer Galeristin (Amy Adams), die das Roman-Manuskript ihres Ex-Mannes erhält und in dessen Geschichte über eine Familie, bei der Frau und Tochter im Urlaub entführt und getötet werden, hineinkippt. Sie erfährt dadurch einige unbequeme Wahrheiten aus ihrer eigenen Vergangenheit. Fords Verfilmung des Romans „Tony & Susan“ von Austin Wright handelt auch von verpassten Chancen und gießt diese Wehmut in edle Bilder, nichts anderes hätte man von einem Designer erwartet.

Außerhalb des Wettbewerbs war sich Ulrich Seidl der Gunst von Kritik und Publikum sicher wie selten zuvor: Mit seiner Doku „Safari“ über die Daseinsberechtigung von touristischer Großwildjagd in Afrika erntete er viel Beifall und gute Kritiken. Nur wenige Zuschauer verließen das Kino bei der Premiere an der Stelle, als einem Zebra und einer Giraffe das Fell abgezogen wird, der Rest blieb aber bis zum Schluss. Seidl hat im Übrigen hier vor zwei Jahren das katholische Italien arg brüskiert, als bei „Paradies: Glaube“ eine derbe Onanie-Szene mit einem Christuskreuz zu einer Anzeige führte. Venedig ist offensichtlich ein guter Boden für religiös motivierte Filme, das sieht man auch heuer: Paolo Sorrentino zeigte seine neue TV-Serie „The Young Pope“ über den ersten fiktiven US-Papst, gespielt von Jude Law. Als streng gläubigen Verfechter ultrakonservativer Christen lud man Mel Gibson ein, sein Kriegsdrama „Hacksaw Ridge“ zu zeigen. Der Hollywoodstar gelobte in Venedig, jeden Tag artig zu beten. Und „Jesus VR - The Story of Christ“ ist nach Vorstellung der Produzenten der erste Virtual-Reality-Spielfilm, bei dem man als Zuschauer das Gefühl hat, bei Geburt und Tod von Jesus Christus direkt dabei zu sein. Es ist zweifelhaft, ob so die Zukunft des Kinos aussehen sollte.
Aber Venedig hat auch andere Seiten: Am Dienstag hat hier eine Doku über den angeblich bekanntesten männlichen Pornostar Premiere: „Rocco“ folgt der Karriereleiter des „Italian Stallion“ Rocco Siffredi. Er ist die Antwort auf alles, was man diesen harten Zeiten Aufrechtes entgegenzusetzen vermag.

(Auch in der WZ erschienen)

Sonntag, 4. September 2016

Der Papst raucht und trinkt Cherry Coke Zero

In Venedig hatten die ersten Folgen von Paolo Sorrentinos Fernsehserie „The Young Pope“ Premiere.

Von Matthias Greuling, Venedig

Weil ihm danach ist, lässt er den Petersdom kurzerhand für die Touristenmassen schließen und sich eine Privatführung geben. Er raucht bei jeder Gelegenheit, ordert zum Frühstück Cherry Coke Zero und amerikanischen Filterkaffee und hält sich in den vatikanischen Gärten ein Känguru. Er zwingt den Beichtvater der Kardinäle, ihm deren Sünden zu erzählen und verwendet sein Wissen über homosexuelle Neigungen oder spezielle sexuelle Phantasien (etwa mit der Venus von Willendorf!) gegen seine Kritiker. Bei seiner ersten Rede am Balkon des Petersdoms zeigt er sich den abertausenden Gläubigen nur spätabends, verbirgt sein Gesicht, verbietet, dass er fotografiert oder gefilmt wird. 
Jude Law (Foto: Katharina Sartena)

Papst Pius XIII ist nicht gerade der Prototyp des sanften, gottgefälligen Oberhauptes, das die katholische Kirche in die Moderne führen wird. Doch gerade das macht die Hauptfigur der neuen HBO-/Sky-Serie „The Young Pope“ so spannend. Dass die zehnteilige Mini-Serie, geschaffen und verfilmt von dem italienischen Drehbuchautor und Regisseur Paolo Sorrentino, aktuell bei den Filmfestspielen von Venedig, dem Mekka tausender Cineasten aus aller Welt, gezeigt wird, wäre vor noch wenigen Jahren ein Sakrileg gewesen. Doch seit dem Boom hochwertiger Fernsehserien kommt keines der A-Festivals mehr ohne sie aus. Und dies im aktuellen Fall durchaus zurecht, wie die ersten beiden am Lido gezeigten Folgen von „The Young Pope“ beweisen: Oscarpreisträger Sorrentino („La grande bellezza“) erzählt die Geschichte des ehemaligen Waisenjungen Lenny Belardo, der im Alter von nur 47 Jahren zum ersten (fiktiven) amerikanischen Papst gewählt wird, in einer Mischung aus Thriller und Drama, gewürzt mit schwarzem Humor. Sorrentinos Lenny Belardo ist ein zwiespältiger Charakter: Er ist Machtmensch, erzkonservativ, verfügt über eine angsteinflößende und zugleich anziehende Arroganz. Dabei ist der neue Papst so misstrauisch, dass er nicht einmal seiner ehemaligen Ziehmutter, der alten Nonne Mary (Diane Keaton) vertraut, hinter jeder Ecke einen potentiellen Feind vermutet und mit aller Härte gegen (vermeintliche) Verräter vorgeht. Aber Belardo hat auch schwache Momente - etwa, wenn er seinen geistigen Mentor Kardinal Spencer (James Cromwell) weinerlich wie ein kleiner Junge darum bittet, ihm seine erste Rede als Papst zu schreiben. 
„Genau diese Vielschichtigkeit“, so Jude Law bei der Pressekonferenz am Lido, „ist es, was mich an der Figur interessiert hat. Er hat so viele Seiten, ist eine spannende Person und ein Mann, der sich nicht fassen lässt. Er giert nach Macht und tut vieles, um sie zu bekommen. Aber er ist auch sehr direkt und sagt Menschen immer ins Gesicht, was er was er über sie denkt. In gewisser Weise gibt es da Parallelen zu dem Leben eines Hollywoodstars: Auch da gibt es diesen Zwiespalt zwischen der öffentlichen und der privaten Person.“ 

Was hat es für den britischen Charakterdarsteller bedeutet, das Oberhaupt der katholischen Kirche und den geistigen Führer von mehr als einer Milliarde Menschen zu spielen? Law betont, dass gerade das anfangs seine größte Sorge war, Regisseur Sorrentino diese ihm aber durch lange Gespräche genommen hätte: „Paolo hat mir gesagt, dass ich den Papst vergessen und stattdessen Lenny Belardo spielen soll. Ich habe mich also intensiv mit Lennys Vergangenheit befasst und versucht das umzusetzen.“ Das ist dem Briten definitiv gelungen, hat man solch eine überzeugende und lange nachwirkende Darstellung eines Gottesmannes in Film und Fernsehen schon lange nicht mehr gesehen.

(Auch in der WZ erschienen)

Vikander und Fassbender im Wohnwagen

Alicia Vikander und Michael Fassbender sind das neue Traumpaar Hollywoods. Dumm nur, dass sie es nicht zeigen (dürfen). 

Von Matthias Greuling, Venedig

Manche „Interviews“ sind bei Filmfestspielen längst keine solchen mehr, sondern streng organisierte PR-Veranstaltungen. Alicia Vikander und Michael Fassbender sind hier am Lido von Venedig, um ihren Film „The Light Between Oceans“ vorzustellen - und mit ihnen eine ganze Entourage an PR-Leuten, an Stylisten, Beratern, „Publicists“ und sonstigen Menschen, die sich wichtig fühlen. Das ist zwar bei jedem halbwegs zugänglichen Film so, in dem Stars mitspielen, aber in diesem ganz besonderen Falls gibt es einiges zu beschützen vor den gierigen Presse-Vertretern, denn schließlich will ja niemand, dass einem die „Bild“ oder der „Blick“ oder die „Gala“ hinterrücks eine drüberzieht. Paranoia hat bei diesem Filmfestival von Venedig einen besonderen Stellenwert, nicht nur in Bezug auf den Terrorismus, der dem Lido starke Polizeipräsenz mit schwerer Bewaffnung beschert hat. Nein, auch das private Wohl der Stars will geschützt sein.
Michael Fassbender mit Alicia Vikander (Foto: Katharina Sartena)
Dazu muss man die Brisanz, die hinter „The Light Between Oceans“ steckt, erst einmal kennen. Als dieser Film in der Einsamkeit einer Mini-Insel in Neuseeland vor zwei Jahren gedreht wurde, und zwar unter der Regie von Derek Cianfrance, da war die Crew so klein, dass sich zwischen Vikander, der burschikosen Schwedin, und Fassbender, dem hünenhaften Iren, eine Romanze entwickelte, die zu einer Beziehung wurde und bis heute anhält. Dazwischen gelang sowohl ihm als auch ihr ein kometenhafter Aufstieg in der jeweiligen Karriere - und Vikander krönte sie heuer sogar mit einem Oscar für „The Danish Girl“. Seither sind Journalisten und Fotografen hinter den beiden her, als gäbe es kein Morgen. 
Worüber sich PR-Menschen eigentlich freuen sollten - nämlich, dass hier in Venedig im Wettbewerb eines künstlerisch dominierten Festivals ein neuer Film seine Premiere erlebt, dessen Hauptdarsteller zufällig gerade zum privaten Traumpaar Hollywoods geschrieben werden und dieser Umstand millionenschwere Werbekampagnen überflüssig machen kann - versetzt sie stattdessen sichtlich in helle Panik.
Die Journalisten bei den Interviewrunden werden dazu angehalten, nicht nur ihre Meinung über den Film schriftlich vor Beginn der Interviews abzugeben, sondern sollen auch Vereinbarungen unterzeichnen, dass diese Interviews nur für ein Medium, nur einmal und nur zum Filmstart veröffentlicht werden dürfen. Keine neue Taktik im Kontrollwahn der PR-Branche über den Journalismus - und schon immer der Tod freier Schreiber und all jener, die gerne kritisch sind. Weshalb man solche Dokumente prinzipiell nicht unterzeichnet.
Wieso auch? Die hübsche Vikander und der smarte Fassbender sagen sowieso nur das, was sie gerne sagen wollen, egal, wie die Frage lautet. Dahinter steckt ein weiterer Schachzug der PR-Branche: Ein allgemeines Briefing der Beteiligten soll missverständliche Aussagen verhindern und eine möglichst einheitliche Berichterstattung sicherstellen - natürlich eine positive. Journalisten, die dem nicht folgen, könnten beim nächsten Mal vielleicht eben auf die schwarze Liste gesetzt werden, und führen ohne Interview nach Hause.
Dass Vikander und Fassbender in unserem Gespräch erzählt haben, wie glücklich sie nicht bei den Dreharbeiten in der Natur waren, wie toll der Drehort nicht gewesen ist, wie unglaublich der Erfolg ist, den sie gerade haben und wie geschmeidig man sich in historischen Kostümen doch in eine Figur einfühlen kann, dafür hätte man diese Interview-Tortur bei 34 Grad in unklimatisierter Mittagshitze nicht hinnehmen müssen. Ein Blick ins Presseheft hätte genügt, oder auch: Einfach den New Yorker Kollegen anrufen, dem haben sie ein paar Tage davor nämlich dasselbe erzählt.
Spannende Geschichten entstehen auf diese Weise jedenfalls nicht. Und private Fragen werden generell von vornherein umschifft, auch wenn sie wie hier direkt mit dem Film zu tun haben. Vor vorgeschalteten PR-Agenturen, die ihre unsanft übergestülpten Konzepte über ihnen anvertraute Filmproduktionen bringen, sollte gewarnt werden. Dem Film nutzt das nämlich nicht. 
Auf ihrem ersten gemeinsamen roten Teppich tauschte das Traumpaar Vikander-Fassbender folgerichtig ebenfalls keinerlei Zärtlichkeiten aus. Man verhielt sich wie professionelle Kollegen das eben tun, zwar herzlich, aber respektvoll, zurückhaltend. Privat bleibt privat. Das ist auch gut so. Wenn das ganze nur nicht so inszeniert ausgesehen hätte. 
Aus irgendeinem Grund befürchten die PR-Experten nämlich, dass die Liebe, die man in „The Light Between Oceans“ auf der Leinwand sieht, zu wenig gespielt (oder: zu echt) aussieht. Das Kino ist nun einmal eine Illusionsmaschine, und diesen Satz würden sogar wir unterzeichnen. Aber es darf keine Lüge sein, doch der Grat dieses heiklen Balanceakts ist eben schmal.

Vikander und Fassbender zogen am selben Tag übrigens noch weiter nach Paris, zur nächsten PR-Veranstaltung. Dort sollen sie auch noch gesagt haben, wie toll es war, mit einer solch kleinen Crew zu drehen und es sich Abends im Wohnwagen bequem zu machen. Waren ja dann doch ein paar romantische Worte dabei. 

(Auch in der WZ erschienen)

Samstag, 3. September 2016

Tom Ford: "Stil ist nicht alles"

Modeschöpfer Tom Ford zeigt im Wettbewerb beim Filmfestival von Venedig seine zweite Regiearbeit „Nocturnal Animals“.

Von Matthias Greuling, Venedig

Sieben Jahre ist es her, dass Tom Ford bei den Filmfestspielen von Venedig sein Spielfilmdebüt gab. Für sein visuell ansprechendes und sensibel erzähltes Männerportrait „A Single Man“ wurde der Modedesigner 2009 von den Kritikern gefeiert, Hauptdarsteller Colin Firth mit dem Coppa Volpi für den besten Schauspieler geehrt. Jetzt ist Ford an den Lido zurückgekehrt, um im Wettbewerb des ältesten Filmfestivals der Welt sein neues Werk vorzustellen. 
Tom Ford (Foto: Katharina Sartena)
Wie schon „A Single Man“ ist auch „Nocturnal Animals“ eine Literaturverfilmung, basierend auf dem Roman „Tony and Susan“ von Austin Wright, wenngleich diesmal eine Frau im Mittelpunkt der Geschichte steht: Susan (Amy Adams) ist eine erfolgreiche Galeristin, in zweiter Ehe unglücklich verheiratet mit einem sie betrügenden Gatten. Eines Tages erhält Susan von ihrem Ex-Mann Edward (Jake Gyllenhaal) per Post ein Manuskript seines neuesten Buches mit dem Titel „Nocturnal Animals“. Darin wird die Geschichte des Mathematikprofessors Tony erzählt, der Frau (Isla Fisher) und Tochter auf einer Autoreise durch Texas durch ein entsetzliches Verbrechen verliert. Je mehr Susan in die Geschichte eintaucht, desto mehr erkennt sie darin ihre eigene dunkle Vergangenheit wieder.
„In diesem Film“, so Tom Ford in Venedig, „steckt viel von mir selbst drin. Ich bin in Texas aufgewachsen und weiß, wie die Menschen dort sind. Und ähnlich wie der sensible Tony war auch ich keiner dieser typisch männlichen Texas-Männer.“ Der 55-Jährige zeichnet nicht nur für die Regie sondern auch für das Drehbuch verantwortlich, hat die in den 1930er Jahren angesiedelte Romanvorlage allerdings für die Kinoleinwand adaptiert: „Die für mich wichtigen Themen waren Loyalität und das Brechen von Herzen, was passiert, wenn man von Menschen, die man liebt, enttäuscht wird. Denn das ist schließlich ein Gefühl, das jeder von uns kennt.“
Wie schon Fords Regiedebüt überzeugt auch sein zweites Werk durch eine bestechende optische Umsetzung und einprägsame Bilder. Dennoch ist „Nocturnal Animals“ streckenweise zu konventionell erzählt. Rache, gebrochene Herzen, Einsamkeit, kulturelle Übersättigung der modernen Gesellschaft – alles Themen, die Ford in seinen Film packt, sie dabei aber meist nur streifen kann. Dennoch schafft es „Nocturnal Animals“, mit seinen beiden Hauptdarstellern zu überzeugen. So glänzt Amy Adams in der Rolle einer Frau, die vor einem radikalen Wechsel ihres Lebens steht und Jake Gyllenhaal ist ein berührender Antiheld, der durch seinen Roman an seiner Ex-Frau späte Rache nimmt.

Kameraeinstellungen, Farben, Formen, Kleidung – Elemente, die auch in Tom Fords zweitem Film eine dominante Rolle spielen, wenngleich eine deutlich geringere als in „A Single Man“. Der Designer und Regisseur bestreitet, dass Stil bei ihm immer Vorrang hat: „Nur, weil ich Modeschöpfer bin, steht das Visuelle bei mir nicht über allem. Es ist mir wichtig, ja – aber in erster Linie soll es die Geschichte unterstützen und etwas transportieren.“ Ab 10. November können sich heimische Kinogeher davon ein Bild machen, ob Ford das gelungen ist.

(Auch in der WZ erschienen)

Freitag, 2. September 2016

"Arrival": Mysteriöse Zukunft

„Arrival“ von Denis Villeneuve lief im Wettbewerb von Venedig. Hauptdarstellerin Amy Adams findet gut, nicht alles zu wissen, was kommt.
Amy Adams, Jeremy Renner (Foto: Katharina Sartena)

Aliens, die auf die Erde kommen und der Menschheit damit mehr oder weniger Freude bereiten – eine Thematik, an der sich Hollywood in den vergangenen Jahrzehnten durchaus, und dies in höchst unterschiedlicher Qualität, abgearbeitet hat. Dass es auch in diesem Genre durchaus noch Neues zu entdecken gibt, beweist bei den Filmfestspielen von Venedig aktuell der Wettbewerbsfilm „Arrival“. In der Verfilmung der Kurzgeschichte „Story of Your Life“, von Science-Fiction-Autor Ted Chiang, landen zwölf Raumschiffe an den unterschiedlichsten Orten der Erde, versetzen die Menschen in Panik, führen zu Plünderungen und Aufständen. Um Kontakt mit den unbekannten und sich friedlich verhaltenden Wesen aufzunehmen, engagiert das US-Militär die renommierte Linguistin Louise Banks (Amy Adams). Die zahlreiche Sprachen sprechende Wissenschafterin soll herausfinden, was genau die Aliens, die sich die ganze Zeit über in ihren Raumschiffen verstecken, genau wollen. An ihrer Seite: der Mathematiker Ian Donnelly (Jeremy Renner). Doch das erste Zusammentreffen mit den fremden Wesen erweist sich als schwierig, verwenden sie doch statt Sprache unbekannte Zeichen, um ein Vielfaches komplexer als jede nur erdenkliche bekannte Sprache. Hinzu kommt, dass immer mehr Staaten die neuen Wesen mit Waffengewalt vertreiben möchten – und niemand weiß, wie diese darauf reagieren werden. Im Zuge der Recherchen zur Bedeutung der Symbole wird Louise intensiv mit ihrer eigenen schmerzvollen Familiengeschichte und dem größten Verlust ihres Lebens konfrontiert. 
Anders als die meisten cineastischen Aliengeschichten geht es in dem spannenden und visuell ansprechenden Film von Regisseur Denis Villeneuve („Sicario“) nicht um den Kampf Mensch gegen Alien, sondern um Kommunikation, Verständnis und Akzeptanz. In langen, mehr an einen klassischen Krimi denn an einen Thriller erinnernden Sequenzen wird die Frage nach der Botschaft der Außerirdischen zum zentralen Handlungselement – und wie Louise, von Adams überzeugend und mit großer Tiefe verkörpert, mit ihnen sprachlich und visuell in Kontakt tritt. 
Für die in Venedig frenetisch beklatschte Hauptdarstellerin ist „Arrival“ nicht nur ein Film über Kommunikation, sondern auch einer über eine liebende Mutter: „Ich bin selber Mutter und weiß nur zu gut, was dieses ganz besondere Band zu einem Kind bedeutet. Deshalb hat mich das Drehbuch schon nach den ersten Zeilen angesprochen und ich wollte diese Rolle unbedingt spielen“, meint Adams im Gespräch. 

Das Wissen um die eigene Zukunft und der Umgang damit, ein ebenfalls zentraler Bestandteil des Films, sind Fähigkeiten, die die 42-jährige Amerikanerin keinesfalls besitzen möchte, würde es ihr doch all zu viel Angst machen: „Es ist nun einmal so, dass das Leben auch seine Schattenseiten hat und die Zukunft nicht immer rosig ist. Denn jeder von uns wird mit Verlust und Trauer konfrontiert. Und das sind Dinge, die ich nun wirklich nicht vorab erfahren wollen würde. Keine von uns kann sagen, was die Zukunft bringen wird, und gerade deshalb müssen wir auch im Moment leben und ihn so intensiv wie nur möglich genießen.“

Matthias Greuling, Venedig

(Auch in der WZ erschienen)

Donnerstag, 1. September 2016

"La La Land": Einfach und schön

„Musicals sind simpel, sie sind da zum Träumen“, findet Regisseur Damien Chazelle, der mit „La La Land“ das Filmfestival von Venedig eröffnete

Mit dem Musical „La La Land“ des jungen US-Regietalents Damien Chazelle („Whiplash“) haben die 73. Filmfestspiele von Venedig begonnen - und Festivalchef Alberto Barbera hat damit ein bisschen auch die Devise dieser Filmschau ausgegeben, die traditioneller und geschichtsbewusster mit dem Filmschaffen umgeht als andere A-Festivals. Venedig ist das älteste Filmfestival der Welt und hat darob auch eine Verantwortung der Filmgeschichte gegenüber. Weshalb man hier - nach Barberas Verständnis - am besten auch immer wieder Filme zeigt, die vollgestopft sind mit Referenzen an die Filmhistorie. „La La Land“ ist so ein typischer Venedig-Film, der Kitsch und Glamour mindestens ebenso abfeiert wie er mit großer Ernsthaftigkeit eine dramatische Liebesgeschichte durchdekliniert. Emma Stone und Ryan Gosling spielen zwei darbende Künstler im zeitgenössischen Los Angeles: Sie erfolglos als Schauspielerin, die von Vorsprechen zu Vorsprechen nur mehr noch frustrierter wird. Tagsüber jobbt sie im Café auf dem Studiogelände von Warner Bros. Das ist in Hollywood kein Einzelschicksal. 
Emma Stone mit Fans (Foto: Katharina Sartena)

Er ist ein dem Jazz verfallener, begnadeter Pianist, dessen einstige Arbeitsstätte, ein Jazzclub, durch einen Samba-Tapas-Laden ersetzt wurde. Also Samba aus dem Lautsprecher und Tapas für das leibliche Wohl. „Der Jazz stirbt“, ist seine schlüssige Diagnose.
„La La Land“ würde seine musikalischen Einlagen mit den überaus exakt und diszipliniert agierenden Akteuren Stone und Gosling gar nicht brauchen, um seine nahe am Kitsch und am Wasser gebaute Geschichte überzeugend zu erzählen, und doch sind es die Musical-Elemente, die Chazelles Hommage an die großen Zeit der Filmmusicals so richtig lebendig werden lassen. Stepptanz über den Hügeln von Los Angeles zur blauen Stunde oder eine perfekt choreografierte Eröffnungssequenz mit Tanz auf einer durch Stau lahmgelegten Autobahn sind in sich geschlossene Highlights des Films. Angenehm ist, dass Chazelle seine Referenzen an die gute, alte Zeit nicht zum Teil der Handlung per se macht, sondern stets im Heute bleibt; dadurch hat man nie das Gefühl, das „schon einmal gesehen zu haben“, sondern wohnt tatsächlich einer Novität bei: Ein stilistisch überhöhtes Musical im prinzipiell bodenständigen Milieu zunächst gescheiterter Künstler ist ein Balanceakt, der auch peinlich sein könnte. Dank der grandiosen Besetzung bleibt Chazelle das aber trotz so manch dick aufgetragener Szene erspart.

Nach Venedig an den Lido kam zur Premiere neben Chazelle nur Hauptdarstellerin Emma Stone, denn Ryan Gosling war am Set zur Neuauflage von „Blade Runner“ unabkömmlich. Die anwesenden Touristen und Fans hat’s nicht gestört - für sie zählte am Eröffnungsabend die Feierstimmung, mit der die Mostra del cinema begann. Dass es im Hintergrund zahllose verschärfte Sicherheitsmaßnahmen gab - von Durchfahrtssperren bis hin zu Hunderten Polizisten mit schusssicherer Weste und schwerer Bewaffnung - ist den meisten Gästen gar nicht aufgefallen - und auch beim Einlass der Gäste, der Presse und der Fotografen kam es kaum zu den vorab angekündigten nennenswerten Verzögerungen. Das könnte auch daran liegen, dass sich hier der Trend der letzten Jahre fortsetzt - und immer weniger Gäste an den Lido kommen. Sieht man sich das Filmprogramm der kommenden Tage an, das mit Werken von Wim Wenders, Francois Ozon, Denis Villeneuve, Mel Gibson, Pablo Larrain, Paolo Sorrentino oder Andrei Konchalovsky gespickt ist, steht zumindest fest: An den Filmen kann es heuer nicht liegen.

Matthias Greuling, Venedig

(Auch in der Wiener Zeitung erschienen)