Donnerstag, 31. Oktober 2013

Von Garrel bis Farhadi: Die VIENNALE-Höhepunkte für die zweite Festivalwoche

"La jalousie" (Foto: Viennale)
LA JALOUSIE
Regie: Philippe Garrel
Der für seine spröden Filme bekannte Philippe Garrel zeigt mit „La jalousie“ (Die Eifersucht) einen Film voller Anmut, voller neuer Ideen, oder zumindest voller dramaturgischer Reife. „La jalousie“ ist ein zwar kurzes, aber famoses Schwarz-weiß-Abstrakt über das (Miss-)Trauen in der Liebe, das ebenso unspröde wie geerdet daherkommt: Garrels Sohn Louis spielt einen Kindsvater, dessen neue Freundin ihn betrügt, auch, weil sie selbst ihrer rasenden Eifersucht ihm gegenüber Luft machen will. Es ist ein französischer Film, wie er im Lehrbuch stehen könnte, mit Beziehungsgesprächen in der Küche, mit langen Einstellungen, mit intensiven Blicken und mit unprätentiösen Pariser Stadtansichten. Und doch fern jeder Konvention: „La jalousie“ erinnert über weite Strecken an die Filme der Nouvelle Vague, nicht an den sich danach daraus gebildeten Stil französischer Beziehungsdramen. Garrel ist visuell und dramaturgisch radikaler, das macht den Reiz dieser großen Arbeit aus.
31.10., 21.00, Gartenbau
4.11., 23.30, Urania


LE PASSÉ 
Regie: Asghar Farhadi
Ahmad (Ali Mosaffa) kehrt nach vier Jahren aus dem Iran nach Paris zurück, um seine Scheidung mit Marie (Bérenice Bejo) zu unterzeichnen. Marie lebt mit ihren beiden Töchtern sowie ihrem neuen Freund Samir (Tahar Rahim) und dessen Sohn in einem gemeinsamen Haus. Samir ist zwar noch verheiratet, aber seine Frau liegt im Koma. Kurz vor der Unterzeichnung der Scheidungspapiere eröffnet Marie Ahmad, dass sie von Samir schwanger ist. Regisseur Asghar Farhadi hat wie schon in „A Separation“ eine Scheidungssituation zum Ausgangspunkt seiner Erzählung gemacht; wieder kreisen seine Figuren um die Fragen nach Wahrheit und Lüge, die einen Keil in ihre zwischenmenschlichen Beziehungen treiben.
1.11., 18.00, Gartenbau
3.11., 13.30, Stadtkino im Künstlerhaus


MICHAEL KOHLHAAS
Regie: Arnaud des Pallières

Frankreich im 16. Jahrhundert: Der Pferdehändler Michael Kohlhaas (Mads Mikkelsen) ist in den Wäldern unterwegs, als er von ein paar Leuten aufgehalten wird, die ihm zum Durchqueren des Landstrichs eines Barons Geld abverlangen. Kohlhaas hat nicht genug dabei und hinterlässt seine Pferde als Pfand. Als er später herausfindet, dass der Baron nicht berechtigt war, Geld zu verlangen, will er die Pferde zurück - und bekommt sie völlig misshandelt übergeben. Arnaud des Pallières hat Heinrich von Kleists Literaturklassiker in düsteren Bildern inszeniert.
1.11., 20.30, Gartenbau
2.11., 11.00, Urania


CAMILLE CLAUDEL 1915
Regie: Bruno Dumont

Die französische Bildhauerin Camille Claudel (Juliette Binoche) fristet 1915 ein trauriges Dasein in der Nervenheilanstalt von Montdevergues in Südfrankreich, wohin sie ihre Mutter und ihr Bruder verbannt haben. Sie leidet unter der ständigen Angst, vergiftet zu werden, und auch die Gedanken an ihren Mentor und Liebhaber Auguste Rodin lindern ihre Situation nicht. Camille beschließt, aus der Anstalt zu verschwinden. Bruno Dumont gibt Juliette Binoche viel Raum, die innere Verzweiflung der Künstlerin auf die Leinwand zu bringen.
5.11., 20.30, Gartenbau
6.11., 11.00, Gartenbau


Matthias Greuling

Mittwoch, 30. Oktober 2013

Viennale-Premiere für Götz Spielmanns OKTOBER NOVEMBER

"Oktober November" (Foto: Viennale)
Gleich zu Beginn von „Oktober November“ gibt es einen Augenblick, der die Türen zu diesem feinsinnigen Familiendrama aufstößt: Die junge Schauspielerin Sonja Berger (Nora von Waldstätten) sitzt mit einem Kollegen in einem noblen Berliner Restaurant; beide besprechen bevorstehende gemeinsame Dreharbeiten, und irgendwann, als das Gespräch intimer wird, springt Regisseur Götz Spielmann über die Achse und setzt kurz die Logik filmszenischer Auflösung außer Kraft.
Was man bei Filmstudenten als gravierenden Fehler werten würde, benutzt Spielmann geschickt, um den Bruch in der Persönlichkeit Sonjas (und im weiteren Verlauf den Bruch in ihrer gesamten Familie) zu symbolisieren. Dieser kleine Schnitt ist der Zugang zu dieser emotional aufgeladenen Geschichte: Sie erzählt von einem alten Vater (Peter Simonischek), der mürrisch geworden ist, in seinem Dorfgasthof im tiefsten Niederösterreich. Davon, wie seine Tochter Sonja es nach draußen, in die große weite (Schein-)Welt trieb, nach Berlin, wo sie als Schauspielerin in mittelmäßigen TV-Filmen mitwirkt, die ihr ihre gesamte Energie rauben. Sonja hat es „zu etwas gebracht“, aber sie selbst spürt, dass das eine Lüge ist. Ihre Schwester Verena (Ursula Strauss) hat einen anderen, den gegenteiligen Lebensweg eingeschlagen; sie ist zuhause beim Vater geblieben, hat ihm im Wirtshaus assistiert und wird mit der Enge, die ihr die beschränkte Entfaltungsmöglichkeit am Land vorschreibt, nicht fer
tig. Zwei Gegenpole, zwei Lebensentwürfe, die in „Oktober November“ aufeinander treffen, als Sonja in das kleine Dorf, ihre Heimat, zurückkehrt. Der Vater hat einen Herzanfall, sein Arzt (Sebastian Koch) verordnet ihm Bettruhe. Die Familie steht plötzlich seltsam geeint vor dem späteren Totenbett des Patriarchen. Die Tage und Wochen des Wartens, bevor er aus dem Leben scheidet, entspinnen sich zu einerseits nervenaufreibenden Aufarbeitungen der familiären Vergangenheit, andererseits zu einer in den Protagonisten wachsenden Selbstreflexion über eigene Versäumnisse und schmerzhafte Eingeständnisse des eigenen Scheiterns.
Mit großer Sorgfalt hält Götz Spielmann seine Erzählung möglichst simpel. Doch bald entwickelt sich die wachsende Agonie aller Beteiligten zu einer äußerst komplexen und vielschichtigen Auseinandersetzung mit familiären Banden und Zusammenhalt, mit Verdrängung und mit dem Tod. Die wunderbaren Bilder einer herbstlichen Landschaft, getaucht in sanfte Sonnenstrahlen, die Kameramann Martin Gschlacht mit großer Präzision fotografierte, strahlen zugleich Hoffnung und Hoffnungslosigkeit aus, je nachdem, in welcher Verfassung dieser Film betrachtet wird; „Oktober November“ ist kein intellektuelles Kino, sondern eines, das die Sinne anspricht; Wenn das hervorragend agierende Ensemble in ihren Figuren zueinander findet, dann bleibt doch ein großer Rest aus beklemmender Leere in ihren Seelen. Diese Leere kann nur füllen, was man Heimat nennt: Kein Ort, sondern ein Seelenzustand, in dem es nur ums Spüren geht. Und um das Gespürt werden.
Matthias Greuling

31.10., 18.00, Gartenbau
3.11., 13.30, Urania

Dienstag, 29. Oktober 2013

NIGHT MOVES: Die über Leichen gehen / Kelly Reichardt bei der VIENNALE

"Night Moves" (Foto: Viennale)
"Night Moves“ heißt ein Boot, in diesem Film von Kelly Reichardt. Es wird vollgestopft mit einer hochexplosiven Mischung aus Ammoniumnitrat-Dünger und Treibstoff, hernach an der Wand eines Staudamms platziert und in die Luft gejagt. Der Damm bricht, es ist Nacht, niemand soll zu Schaden kommen. Und doch ist es am nächsten Tag Gewissheit: Ein Camper wird vermisst, bald darauf seine Leiche geborgen.
Die Schiffsbombe, sie ist das Werk dreier Umweltaktivisten, die nicht mehr länger zusehen wollen, wie die Amerikaner mit ihren Ressourcen umgehen: Der hydroelektrische Damm, den sie zerstören, erzeugt den Strom, der in Millionen All-American Homes tagtäglich für die permanent laufenden Riesen-Flatscreens verschwendet wird und für die Springbrunnen in den hübsch und kitschig zurecht gemachten Gärten.
Sehr früh in diesem asketisch und doch facettenreich gestalteten Film wird klar, dass die Aktivisten Josh (Jesse Eisenberg), Dena (Dakota Fanning) und Harmon (Peter Sarsgaard) nicht mit der Schuld leben werden können, die sie sich mit ihrer Aktion aufgeladen haben: Dena ist die Schwachstelle im Trio, mit ihr bricht schließlich der emotionale Damm aus Verlogenheit und Tatsachen-Negierung, mit fatalen Folgen für sie.
Kelly Reichardt, die besonders in ihrem letzten Film „Meeks Cutoff“ mit ihrer sparsamen, aber dafür umso effektiveren Inszenierungsweise gefiel, hat in „Night Moves“ ihren Stil perfektioniert. Erneut ging sie für ihre Geschichte von einer Landschaft und ihrer Eigentümlichkeit aus, diesmal aber ist es nicht die Prärie, sondern ein rurales Gebiet, irgendwo im US-Bundesstaat Oregon. Da, wo die Farmer Broccoli und Kürbisse anbauen und von der Welt nicht viel wissen: Für einen Blick ins Internet müssen sie in die Stadt fahren, zur öffentlichen Bibliothek, wo ein Computer steht. Das Setting ist urtümlich, aber doch bedrückend: Die Naturverbundenheit auch dieser Menschen endet beim Dünger, den sie von den großen Nahrungsmittelkonzernen per Vertrag aufgedrückt bekommen, um die Perspektive einer konventionellen Landwirtschaft mit stetig wachsendem Ertrag zu erfüllen.
Das ist zwar niemals Thema in „Night Moves“, jedoch schleicht sich diese Zustandsbeschreibung unserer absurd gewordenen Komfortwelt zwischen Naturausbeutung und Ertragssteigerung in jede Einstellung ein. Reichardt benutzt für das Thema die Charakteristika eines Suspense-Thrillers der alten Schule: Leicht pulsierende Sounds begleiten die Aktivisten vor und nach der Tat; das Unheilvolle liegt in der Luft. Niemals kommen sie zur Ruhe, in dieser von absoluter Ruhe geprägten ländlichen Gegend. Zu schwer wiegt bei Dena das Gewissen, etwas Unrechtes mit Unrecht bekämpft zu haben, und zu kaltschnäuzig ist Joshs Reaktion darauf. Er will für eine große Sache kämpfen, und da gibt es eben Kollateralschäden.
Beachtlich ist, wie mühelos Reichardt auf der Klaviatur des Spannungskinos spielt, ohne je bemüht zu wirken, und zugleich dem ausgetretenen Pfad einer klassischen Thriller-Inszenierung ausweicht. Es geht um große, hehre Ziele, um politisch motivierten Aktionismus, der von illegalen Taten befeuert wird; es geht um die Konsequenzen einer tödlichen Tat und um die Kälte, mit der sie ausgeführt wird. Prinzipientreue ist in „Night Moves“ nicht nur Motor und unbedingte positivistische Lebenseinstellung; sie ist auch ein Zustand, der ins Verderben führt.

Matthias Greuling

30.10., 21.00, Gartenbau
2.11., 10.30, Gartenbau

Montag, 28. Oktober 2013

DAVID GORDON GREEN braucht keine Millionen-Budgets / VIENNALE / JOE / PRINCE AVALANCHE

David Gordon Green, 38, gehört zu Amerikas interessantesten jungen Filmemachern, der gekonnt zwischen den Genres wechselt und auch nicht vor Low-Budget-Filmen zurückschreckt. Er hat große Studio-Produktionen wie „Pineapple Express“ (2008) oder „Your Highness“ (2011) gedreht, aber auch Filme wie „George Washington“ (2000) oder „Prince Avalanche“ (2013) mit fast gar keinem Budget. Die Viennale zeigt nun Greens neueste Filme: Einerseits „Prince Avalanche“, für den Green 2013 bei der Berlinale mit dem Regie-Bären ausgezeichnet wurde, andererseits „Joe“, ein raues Drama mit Nicolas Cage als Ex-Knastbruder, der im September in Venedig Premiere hatte.
„Prince Avalanche“ ist der bemerkenswertere Film der beiden: Alvin (Paul Rudd) und Lance (Emile Hirsch) sind zwei typische Männer. Nur, dass sie in „Prince Avalanche“ über das Männersein ablästern, was das Zeug hält. Gemeinsam sind sie unterwegs, um Fahrbahnmarkierungen zu erneuern - was ihnen jede Menge Zeit für allerlei Blödheiten bietet. Ein Roadmovie voller skurrilem Humor und liebevoll drapierten poetischen Momenten.
Ich traf David Gordon Green zum Gespräch über diesen Film und über seine Vorliebe, mit wenig Budget zu arbeiten.
"Prince Avalanche" (Foto: Viennale)

Welches Männerbild wollten Sie in „Prince Avalanche“ entwerfen?
DAVID GORDON GREEN:
Die Figuren spiegeln zwei Seiten von mir wider, mit denen ich jeden Tag hadere. Als ich das Drehbuch schrieb, sollte es dieses Hadern mit allerlei Aspekten des Mann-Seins zeigen. Die Idee dazu hatte ich im Februar 2012, im Juni waren wir bereits mit dem Film fertig. Gedreht haben wir nur 16 Tage.

Wieso diese Eile?
Ich habe „Prince Avalanche“ im Eiltempo gedreht, weil das meinem Naturell sehr nahe kommt. Ich komme dann nicht in Versuchung, entscheidungsschwach zu werden, sondern habe gar keine Zeit zu Trödeln. Ich muss rasche Entscheidungen erzwingen, das hilft mir bei der Arbeit.

Welche Vorteile bringt ein kleines Budget mit sich?
Wir hatten die Freiheit eines sehr kleinen Budgets, sodass niemand auf die Idee kam, uns dabei über die Schultern zu schauen. Am Beginn stand wirklich nur die Idee, dass ich zusammen mit Paul und Emile einen Film mache. Das Budget war so gering, dass es in die Kategorie „Tu damit, was du willst“ gehörte. Was für ein Spaß! Bei einem großen Budget musst du hingegen immer endlose Debatten mit den Geldgebern führen.

Ändert sich Ihr Zugang zu einem Stoff mit der Höhe des Budgets?
Ich gehe an meine Filmprojekte immer auf die gleiche Weise heran, egal, ob es sich um eine sauteure Komödie handelt oder um ein Drama mit einem Mikro-Budget. Selbst bei einem Film wie „Pineapple Express“, der rund 30 Millionen Dollar gekostet hat, versuchte ich, daraus einen Film zu machen, der aussieht, als habe er 50 Millionen gekostet. Der Film zeigt Verfolgungsjagden und Explosionen, entstand aber mit dem Budget einer Komödie. Wann immer man also versucht, mit einem Komödien-Budget einen Actionfilm zu drehen, ist Einfallsreichtum gefragt, damit das Ding dann wirklich so teuer aussieht, ohne dass es eine Lawine kostet. Ich verwende da dieselben Tricks, die ich auch bei einem Film wie „George Washington“, der 50.000 Dollar kostete, angewandt habe: Man muss gut organisiert sein und natürlich auch um einige Gefallen im Freundeskreis bitten. Nicht anders war das bei „Your Highness“. Der kostete 50 Millionen, sah aber aus, als hätten wir 100 Millionen ausgegeben. Ich will gar keine komfortable Situation, was das Budget angeht. Denn das würde mich nervös machen.

Kleinere Budgets bedeuten also, dass Sie entspannter arbeiten?
Das stimmt nicht ganz. Es ist nur ein anderes Stresslevel, wenn man wenig Budget hat. Der Druck bei einem Low-Budget-Film wie „Prince Avalanche“ ist: In dem Film gibt es zwei Typen. Wenn die Zuschauer diese zwei Typen nicht mögen, dann fällt der Film durch.

Interview: Matthias Greuling

Video-Mitschnitt des Interviews: http://tinyurl.com/davidgordongreen

Prince Avalanche
29.10., 23.30, Stadtkino im Künstlerhaus
29.10., 6.30, Stadtkino im Künstlerhaus
 

Joe
29.10., 20.30, Gartenbau
2.11., 13.00, Gartenbau

François Ozon: Sex, aber nicht sexy / JEUNE & JOLIE / VIENNALE

Der Film beginnt mit einem Blick durchs Fernglas: Es zeigt ein Mädchen, 16 Jahre alt, das am Strand liegt und sich in der Sonne räkelt. Dann nimmt es sein Bikini-Top ab. Der Spechtler ist der ein paar Jahre jüngere Bruder des Mädchens, beide machen mit den Eltern Sommerurlaub im Süden Frankreichs. Isabelle feiert dort auch ihren 17. Geburtstag und ihre Entjungferung (durch einen deutschen Burschen). Ihrem Bruder gegenüber kommentiert sie diese für sie wenig lustvolle Erfahrung nur knapp: „Erledigt“.
François Ozon hat in seinem neuen Film „Jeune & Jolie“ den Titel zum Programm gemacht: Das vorerst laue Sommermärchen ist durchsetzt von sexuellen Anspielungen und Phantasien seiner Protagonisten. Dabei steht zunächst noch die eigene Lust im Vordergrund, bald aber wird für Isabelle aus dem Sexualtrieb die wohlkalkulierte Lizenz zum Gelddrucken. Denn
Ozon hat mit Marine Vacth ein französisches Model in der Hauptrolle besetzt, das ausdrucksstark und wortkarg genau jenes Bild der fragilen Kindfrau mit dem Schmollmund und den großen Augen verkörpert, das die Laufstege gerne vermitteln. Der perfekte Körper dient hier aber nicht als Schauwert: Zwar ist „Jeune & Jolie“ voller Szenen mit Verführung, Nacktheit und Sex, aber sexy ist dieser Film nie. Ozon umschifft gekonnt jede Konvention, die Erotik produzieren könnte.
Insgesamt aber ist „Jeune & Jolie“ vor allem ein Film, der (französische) Klischees bemüht. Es ist, als würde Ozon (auch mit dem kurzen Auftritt von Charlotte Rampling) gern sich selbst reproduzieren, weil er schon so oft Bilder über Perfektion und über das Streben nach der reinen Schönheit gemacht hat. Jetzt, da man Ozons Handschrift schon deutlich kennt, wirken diese selbstreferenzierenden Klischees Fehl am Platz, auch wenn Ozon niemals expliziter von seinem Lieblingsthema erzählt hat: Dem oft schmerzlichen Prozess des Erwachsenwerdens.
"Jeune & jolie" (Foto: Viennale)
Ozon zeigt seine noch nicht volljährige Hauptfigur nach dem Sommerurlaub in ihrer sonstigen Lebensumgebung (ein bürgerliches Umfeld in Paris), aus der sie regelmäßig ausbricht: Als selbstständig organisierte Prostituierte verdient sie gerade bei ihren älteren Kunden Unmengen an Geld. Erstaunlich, wie dieses Mädchen, das sich im Job Léa nennt, den Sex zur strategischen Machtausübung nutzt, obwohl ihr erstes Mal erst so kurz zurück liegt. Als sie auffliegt, versteht ihre Mutter die Welt nicht mehr. Was ist in der Erziehung bloß schief gelaufen? Aber das ist ein falscher Denkansatz, wenn man Léa verstehen will: Als Léa blendet Isabelle aus, was man ihr in ihrer wohlbehüteten Kindheit beigebracht hat.


Matthias Greuling

29.10., 18.00, Gartenbau
30.10., 11.00, Gartenbau
5.11., 6.30, Stadtkino im Künstlerhaus

Die Siegerfilme aus Venedig und Locarno bei der VIENNALE

Die Viennale zeigt in ihrem Programm dieses Jahr die Siegerfilme von den Festivals Venedig ("Sacro Gra") und Locarno ("Historia de la meva mort"):
"SACRO GRA" (Foto: Viennale)

SACRO GRA
Regie: Gianfranco Rosi
 „Sacro GRA“ von Gianfranco Rosi, ein Dokumentarfilm über die Anwohner der römischen Ringstraße – ein Leben an der Autobahn – gewann 2013 den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen von Venedig. Die Doku findet allerlei Lebensrealität, die man vom italienischen Kino kaum mehr gewöhnt ist: Dort ist oft alles schrill, laut, opulent und betont lebensbejahend; doch das Land steckt in einer Krise, und das fängt Rosi mit seiner Kamera – bewusst oder unbewusst – mit ein: Ein Kaleidoskop der Befindlichkeiten einer Nation, die es sich eigentlich nicht mehr leisten kann, mit stolz geschwellter Brust ihren Patriotismus zur Schau zu stellen.
29.10., 18.00, Gartenbau
30.10., 11.00, Gartenbau
5.11., 6.30, Stadtkino im Künstlerhaus


HISTORIA DE LA MEVA MORT
Regie: Albert Serra

 Der katalanische Regisseur Albert Serra nahm im August - selbst überrascht - den Hauptpreis des Filmfestivals von Locarno entgegen, für sein 150 Minuten langes, zähes Werk „Historia de la meva mort“ („Geschichte meines Todes“). Hier begibt sich Casanova auf seine letzte große Reise, gezeigt wird ein von Fresssucht gezeichneter alter Mann, der sich zwischen Unvernunft und Senilität aufmacht, um den Grafen Dracula zu treffen. Ein wirres und zugleich unendlich träges Spiel aus monotonen Sequenzen; es ist - unter der Prämisse der ausgegebenen Festival-Devise vom Obsiegen des Kunstkinos - ein würdiger Preisträger.
28.10., 18.00, Metro
30.10., 17.30, Gartenbau


Matthias Greuling

Sonntag, 27. Oktober 2013

VIENNALE: Jackie Stewart und Roman Polanski feiern das WEEKEND OF A CHAMPION

"Weekend of a Champion" (Foto: Viennale)
Renn-Filme sind derzeit sehr in Mode, das zeigt der Erfolg des gerade in den Kinos laufenden Dramas „Rush“, das die Rivalität zwischen Niki Lauda und James Hunt während der WM 1976 verhandelt. Auch Regisseur Frank Simon spürt alten Rennfahrer-Legenden nach, allerdings in einer besonderen Konstellation. Seine Doku „Weekend of a Champion“ stellte er beim Filmfestival in Cannes im Mai dieses Jahres vor. In dem Film spielt Roman Polanski eine entscheidende Rolle: 1971 besuchte der Motorsportfan Polanski den damaligen Formel-1-Champion Jackie Stewart für ein Wochenende beim Grand Prix von Monte Carlo. Polanski war mit seiner Kamera damals backstage bei allen wichtigen Events dabei und warf so einen detaillierten Blick hinter die Kulissen des Formel-1-Zirkus der 70er Jahre. 40 Jahre später treffen sich Polanski und Stewart erneut – vor der Kamera von Frank Simon. Sie reflektieren über die damalige Zeit und wohin sich die Faszination für Autorennen entwickelt hat.
„Ich war damals mit Jackie befreundet und wollte einen Film über diese Freundschaft drehen“, sagt Polanski. „Jackie Stewart ist noch dazu ein begnadeter Techniker, der einem die kompliziertesten Dinge über die Formel 1 auf eine verständliche Weise näherbringen kann. Außerdem finde ich es faszinierend, wie er seine ganz persönlichen Fahrer-Geheimnisse verrät“.
Als Polanskis Doku 1972 bei der Berlinale uraufgeführt wurde, waren On-Board-Kameras, wie sie heute in der Formel-1 Standard sind, noch unbekannt. Polanski aber experimentierte schon damals mit der Technik: „Das waren seinerzeit noch einzigartige Aufnahmen, die keiner hatte. Heute ist das ja nichts Besonderes mehr, aber damals hatten wir echt einen Knüller“.
Jackie Stewart sah sich während seiner Karriere als Unterhalter für das Publikum. „Weekend of a Champion“ zeigt ihn daher auch als wagemutigen Mann, der davon überzeugt war, dass die Zuschauer von der Formel-1 vor allem Blut und Gewalt erwarteten. „Er war so eine Art Rockstar“, sagt Polanski. „Aber er war auch sehr diszipliniert und ein Champion der Sicherheit. Damals waren die Sicherheitsstandards bei den Rennen nicht so hoch wie heute. Ein Fahrer hatte statistisch gesehen in einer fünfjährigen Fahrerkarriere nur eine 30-prozentige Überlebenschance“.




Matthias Greuling

28.10., 20.30, Gartenbau
29.10., 11.00, Stadtkino im Künstlerhaus

SARA FORESTIER im Viennale-Interview / SUZANNE / MES SÉANCES DE LUTTE

Mit gleich zwei Filmen ist der französische Jungstar Sara Forestier, 26, heuer im Programm der Viennale vertreten: In „Suzanne“ von Katell Quillévéré ist sie als eine junge Frau zu sehen, die zwischen der Geborgenheit in ihrer liebevollen Familie und Freiheitsdrang pendelt. Eine Rolle, wie gemacht für Forestiers stets zwischen frech und liebenswürdig pendelnden Schauspiel-Stil, der sie im Alter von 15 in Abdellatif Kechiches Vorstadt-Drama „L’esquive“ schlagartig bekannt machte. Der zweite Film im Viennale-Line up ist „Mes séances de lutte“ von Jacques Doillon. Ein junges, namenloses Paar liebt und schlägt sich den Film hindurch, es verzehrt sich vor Leidenschaft und entbrennt in wüste Streitigkeiten. Im Hintergrund schwelen seelische Zerrüttungen und der Wunsch, ihnen ein Ventil zu geben. Forestier spielt in diesem von expliziter Körperlichkeit bestimmten Film besonders intensiv; eine Eigenschaft, die oft gewagte Rollen einbringt. Ich traf Sara Forestier in Cannes zum Interview.
Mit Sara Forestier in Cannes. (Foto: Greuling)

Frau Forestier, in „Suzanne“ spiele ich eine Figur, die sich durch eine große Absenz kennzeichnet. Sie steht etwas neben sich.
SARA FORESTIER:
Suzanne kann ihr Leben nicht wirklich auf die Reihe kriegen und lebt in einem geistig sehr melancholischen Zustand. Sie wartet auf etwas, das kann man in ihren Augen sehen. Sie wartet darauf, dass etwas kommt, das ihre Leere füllt. Als Schauspieler ist es unsere Aufgabe, sich in die jeweilige Figur hineinzudenken und dann diese Figur zu sein. Dann braucht die Kamera das nur mehr aufzuzeichnen. Der besondere Spaß an der Rolle in „Suzanne“ war, dass man sie in verschiedenen Alterstufen verfolgt und ich daher verschiedene Phasen ihrer femininen Entwicklung spielen musste. Als Teenager weint sie ganz anders als mit 30. Darin sieht man eine Entwicklung.

„Suzanne“ dreht sich um die beiden Pole Familie und Freiheit, zwischen denen durchaus ein großer Widerspruch liegen kann.

Eine Familie formt dich, und zwar zu einem großen Teil. Sie bestimmt, wer du später einmal sein wirst. Familien geben einem ein Band, und wenn jemand aus der Familie leidet, dann leidet die ganze Familie. Das ist ein beinahe schon animalischer Aspekt dieser Form des Zusammenlebens, der mir sehr gefällt.

„Mes séances de lutte“ ist ein sehr physischer Film. Der exzessive Einsatz von Körpersprache ist essentiell. Sie scheinen sehr gerne physische Figuren zu spielen. Wieviel Freiheit in der Ausgestaltung nehmen Sie sich, und wieviel steht im Drehbuch?

Nicht alles steht im Drehbuch. Ich denke lange über Figuren und die Struktur des Drehbuchs nach, dafür nehme ich mir sehr viel Zeit. Die Vorbereitung auf einen Film ist der wichtigste Teil für mich, denn da muss ich die Geschichte und die Figur kennen- und verstehen lernen. Man muss auf die Wellen aufspringen, die einem das Drehbuch bietet, denn tut man das nicht, versaut man den Film.

Wie konkret sieht eine Rollenvorbereitung bei Ihnen aus?
Je näher die Dreharbeiten rücken, desto tiefer tauche ich in meine Figuren ein: Ich probe dann schon im richtigen Kostüm, mit dem richtigen Make-up und der richtigen Frisur. Das hilft mir, in die Figur hineinzuwachsen. Ich habe einen sehr physischen Zugang zum Schauspiel. Wenn ich drehe, geht es eigentlich nur mehr um die richtigen Bewegungen vor der Kamera, denn alles andere habe ich verinnerlicht. Die Kleidung spielt für mich dabei fast die wichtigste Rolle: Denn sie bestimmt, wie sich eine Figur gibt, bewegt und fühlt. Und sie bringt dich dazu, deine Figur selbst glaubhaft zu finden. Denn das ist wichtig: Ich muss immer glauben, dass das, was ich vor der Kamera tue, der Wahrheit entspricht.

In Frankreich gehören Sie zu den bekanntesten jungen Schauspielerinnen. Wo sehen Sie Ihren Platz im Filmgeschäft?
Nur, weil ich ein paar Filme gedreht habe, die mich sehr bekannt gemacht haben in Frankreich, heißt das noch lange nicht, dass meine Selbstzweifel verschwunden sind. Es ist toll, wenn einen die Leute als Schauspielerin ernst nehmen. Aber die Beziehung zwischen mir und meiner Kunst ist ein sehr intimer Vorgang. Wenn ich zweifle, dann zweifle ich, egal, was die anderen sagen.

Ist der Zweifel vielleicht auch eine der wichtigsten Zustände für einen Schauspieler?
Ich glaube, dass die Leidenschaft und das Verlangen in meinem Beruf wichtiger sind als der Zweifel. Natürlich ist Zweifel wichtig, und man kann ihn auch nicht verhindern. Manchmal kann das ganz schön an einem nagen. Manchmal denke ich, was für eine beschissene Schauspielerin ich bin und dass ich den Beruf lieber aufgeben sollte. Doch wenn man wie ich eine ausgeprägte Leidenschaft für diesen Beruf hat, dann hilft einem das aus jedem Tief heraus.

Sie geben in Ihren Rollen gerne viel von sich preis: Auch der Einsatz ihres Körpers in expliziten Sexszenen wie bei „Mes séances de lutte“ scheint sie nicht zu stören.

Wenn mich ein Projekt begeistert, dann fühle ich eine solche Euphorie bei der Arbeit, dass ich zu allem bereit bin für eine Rolle. Wenn ich merke, ich kann etwas zum Gelingen beitragen, das macht mich sehr glücklich.

Mit „L’esquive“ von Kechiche schafften Sie Ihren großen Durchbruch. Welche Erinnerungen haben Sie an den Film?
Der Film hat mein Leben verändert. Danach gab es für mich keine Pause mehr in meinem Job. Damals wurde das Schauspielen zu meinem Job. Kechiche ist ein unglaublicher Künstler, speziell für die Schauspieler. Er ist ein Genie, und dieses Wort gebrauche ich nicht sehr oft. Ich hatte damals, mit 15, verdammtes Glück, dass er mich besetzt hat. Von ihm habe ich gelernt, was wirkliches Schauspielen bedeutet und dass man davor keine Angst zu haben braucht. Kechiche konnte eine Szene zehn Mal hintereinander drehen, und trotzdem hat keiner von uns seine Spontaneität verloren. Das ist wie am Theater, wo man jeden Abend eine frische Vitalität finden kann, wenn man hochkonzentriert arbeitet. Das hat mir Kechiche beigebracht.

Haben Sie Vorbilder, in deren Fußstapfen Sie gerne treten würden?
Ja, aber damit bin ich vorsichtig: Wer in die Fußstapfen anderer tritt, hinterlässt selbst keine Spuren.

Interview: Matthias Greuling

„Suzanne“:
27.10., 15.00, Gartenbau
4.11., 21.00, Urania

„Mes séances de lutte“:
2.11., 21.00, Urania
3.11., 11.00, Metro

Samstag, 26. Oktober 2013

VIENNALE: Die Highlights des Wochenendes - von NEBRASKA bis DER LETZTE DER UNGERECHTEN

"Der letzte der Ungerechten" (Foto: Viennale)
Die spannendsten Filme des ersten Viennale-Wochenendes im Überblick


DER LETZTE DER UNGERECHTEN
Regie: Claude Lanzmann
Bei der Arbeit an „Shoah“ in den 1970er Jahren hat Claude Lanzmann ein langes Gespräch mit dem Wiener Rabbiner Benjamin Murmelstein (1905-1989) geführt. Im Zentrum stand Murmelsteins ambivalente Rolle als hochrangiger jüdischer Funktionär der von Eichmann kontrollierten Israelitischen Kultusgemeinde Wien in der NS-Zeit und als „Judenältester“ des Ghettos Theresienstadt. Dieses bislang unveröffentlichte Filmdokument wird von Lanzmann in den Kontext der Gegenwart gestellt; ein wichtiger Dokumentarfilm, auch für Viennale-Chef Hans Hurch: „Es ist ein großes Essay über einen widersprüchlichen, zutiefst beeindruckenden Menschen. Ursprünglich war das Material für Lanzmanns ,Shoa‘ gedacht, aber es hätte den Rahmen dieses Films gesprengt. Für mich ist ,Der Letzte der Ungerechten‘ die große, bedeutende Dokumentation des Jahres.“
Mit einer Spieldauer von 220 Minuten ist „Le Dernier des injustes“ (so lautet der französische Originaltitel) auch ein sehr langer Film – aber das passt zur Viennale 2013. Hurch: „Die Höhepunkte des Festivals dauern heuer sehr lang“.
Termine: 27.10., 17.00, Gartenbau, 28.10., 11.00, Gartenbau
 
NEBRASKA
Regie: Alexander Payne
Rentner Woody (hervorragend: Bruce Dern) hat ein Schreiben erhalten, in dem ihm verkündet wird, dass er eine Million Dollar gewonnen hat. Weil Bruce niemandem traut, beschließt er, sich das Geld höchstpersönlich abzuholen. Er macht sich zu Fuß auf den Weg - von Montana nach Nebraska. Bruce besitzt nämlich keinen Führerschein mehr, und seine Ehefrau Kate (June Squipp) will ihn auch nicht fahren. Woodys Sohn David (Will Forte) will dem Vater den Fußmarsch ausreden, doch der lässt sich nicht beirren.
Alexander Paynes schwarzweiß gedrehte Komödie steckt voller Tiefgründigkeiten. Er entwirft das durchwegs melancholische Bild eines alten Mannes, der zeitlebens ausgenutzt wurde und nun erneut kurz davor steht, enttäuscht zu werden. Payne geht es hauptsächlich nicht um Geld und Reichtum, sondern um eine Vater-Sohn-Beziehung.
Termine: 25.10., 20.30, Gartenbau, 5.11., 11.00, Gartenbau

THE DIRTIES
Regie: Matt Johnson

Für die beiden Highschool-Schüler Matt und Owen liegen alle Hoffnungen in ihrem neuesten Spielfilm „The Dirties“. Matt hofft, ein großer Regisseur zu werden, und Owen ist sein treuer Mitarbeiter. Doch die beiden sehen sich dem Spott ihrer Mitschüler ausgesetzt, die keine Gelegenheit auslassen, sie zu demütigen. Matt Johnsons Erstlingsfilm ist ein Plädoyer für die Kraft des Kinos und zeigt, dass Filme überlebenswichtig sein können.
Termine: 26.10., 20.30, Kino am Schwarzenbergplatz, 29.10., 13.00, Gartenbau


BAMBI
Regie: Sébastien Lifshitz

Bambi wurde 1935 in einem kleinen algerischen Dorf unter dem Namen Jean-Pierre Pruvot geboren. Sie wusste: Sie wollte irgendwann die Frau werden, die sie innerlich schon immer war. Eine  Vorstellung des berühmten Cabarets Carrousel de Paris in Algier ermutigte sie in den 50ern, nach Paris zu ziehen und dort auf den Varieté-Bühnen unter dem Künstlernamen „Bambi“ das Leben zu führen, das sie sich wünschte. Jean-Pierre heißt seitdem Marie-Pierre, ist heute 77 Jahre alt.  Regisseur Sébastien Lifshitz erzählt die Geschichte dieses Schicksals in seiner Doku „Bambi“ nach. Es geht um Zurückweisung, Unverständnis und Mut. Archivbilder und Fotos mischen sich mit glamourösen Auftritten auf der Bühne und im Film, dazu gesellen sich seltene private Aufnahmen. Lifshitz schildert auch den Wandel von Bambi zu einer transsexuellen Frau, die mit Hormonen experimentiert, um das zu sein, was sie sich erträumte. Und: Der Film zeigt auch die emotionale Begegnung Bambis mit ihrer großen Liebe.
Termine: 25.10., 18.30, Urania, 26.10., 23.00, Kino am Schwarzenbergplatz

E agora? lemb ra-me
Regie: Joaquim Pinto

Der Dokumentarfilm des portugiesischen Regisseurs Joaquim Pinto, geboren 1957, wurde in Locarno uraufgeführt. Mit dem autobiografischen Werk schuf Pinto, der seit 20 Jahren mit HIV und Hepatitis C infiziert ist, ein filmisches Tagebuch über seine Teilnahme an einer klinischen Studie mit toxischen, bewusstseinsverändernden Medikamenten. Dabei reflektiert er über die Zeit und seine Erinnerungen. Die Medizin, die er in seinen Körper bringt, nimmt immensen Einfluss auf diesen, wie auch auf seine Psyche. Die gravierendste Nebenwirkung beschreibt Pinto als eine Trägheit: Der Körper setzt nicht mehr automatisch die Signale aus dem Kopf um. Ein bedrückender Film, über unsere Welt und ein düsteres Tagebuch menschlichen Leids.
Termine: 26.10., 21.00, Urania, 27.10., 10.00, Metro

Matthias Greuling

Viennale 2013: Inside Llewyn Davis eröffnet das Festival

Zur Eröffnung gab es „Inside Llewyn Davis“ der Regiebrüder Joel und Ethan Coen. Die tauchen darin in das New York der frühen 60er Jahre ein; es ist die Zeit, in der in den Clubs von Greenwich Village Legenden wie Bob Dylan aus der lebhaften Folk-Musikszene geboren wurden. Der Film folgt dem Sänger Llewyn Davis (Oscar Isaac), der mit viel Inbrunst und Leidenschaft an seiner Musikkarriere arbeitet, dem aber letztlich trotz seiner  wunderbaren Songs und der Qualität seines Könnens der Aufstieg aus den Hinterhof-Clubs verwehrt bleibt.
"Inside Llewyn Davis" (Foto: Viennale)

Die Odyssee, die Davis im Laufe des Films durchlebt, ist voller Rückschläge und enttäuschter Hoffnungen. Das reicht von der Zurückweisung durch seine Ex-Freundin (Carey Mulligan) über wenig Hoffnung verbreitende Vorsingen bei Konzertveranstaltern bis hin zu einer den ganzen Film dramaturgisch begleitenden entlaufenen Katze. Ja, bei den Coens darf trotz der Misere auch gelacht werden: „Inside Llewyn Davis“ ist vielleicht der schönste Katzenfilm aller Zeiten.
Joel und Ethan Coen finden für die rauchige Atmosphäre in den Clubs den richtigen desaturierten Look, arbeiten in Bildsprache und Rhythmus angenehm zurückhaltend, ohne dabei ihre Handschrift zu verwässern. Es gibt famose Songs und außerdem einige Szenen, die Kultstatus erlangen könnten, darunter eine gemeinsame Jam-Session zwischen Isaac und seinem Musikerkollegen im Film, gespielt von Justin Timberlake.
Neu ist, dass die Regisseure hier nicht alles dem subtilen, schwarzen und sarkastischen Humor unterordnen, der ihre Filme kennzeichnet. Sie sind in der Lage, in voller Ernsthaftigkeit zu inszenieren und dabei durchaus metaphernschwanger den größten Trumpf dieser Geschichte des Scheiterns auszuspielen: Die Erkenntnis, dass Talent und Leidenschaft zwar Bedingung, aber keineswegs Garant für eine große Karriere sind. Irgendwo am Wegesrand muss sich Glück und Berechnung hinzugesellen. Und: Man sollte wissen, wo man hingehört. Die Katze im Film macht es vor.

Matthias Greuling

Montag, 9. September 2013

Venezig 2013: Sacro GRA und die Zeichen des Stillstands



Ein Leben an der Autobahn ist ein Leben an einem Nicht-Ort: Auf Stelzen steht sie da, Zubringer winden sich an ihr hoch, das konstante Rauschen zeugt von der Geschäftigkeit ihrer Benutzer. Doch auch ein Nicht-Ort kann Heimat sein. Das zeigt Gianfranco Rosi in seinem Dokumentarfilm „Sacro GRA“, dessen Schauplätze am gleichnamigen Autobahnring von Rom liegen; Rosi gewann damit als erster Italiener seit 15 Jahren in Venedig den Goldenen Löwen für den besten Film - und das in jenem Jahr, in dem erstmals auch Dokus im Wettbewerb gleichrangig mit Spielfilmen konkurrieren durften.
"Sacro GRA" (Foto: La Biennale di Venezia)
„Sacro GRA“ ist eine mürbe aber auch skurrile Betrachtung von Menschen, die an der Autobahn leben; Rosi spürt sie mit Akribie auf und begleitet sie ein Stück weit ihres Weges. Es ist eine ungewöhnliche Entscheidung, die die Jury unter dem Vorsitz von Bernardo Bertolucci hier getroffen hat, und doch geht sie in Ordnung. Denn die unzusammenhängenden Sequenzen sind nicht nur Abbild von Heim und Heimat, sie findet auch allerlei Lebensrealität, die man vom (narrativen) italienischen Kino kaum mehr gewöhnt ist: Dort ist oft alles schrill, laut, opulent und betont lebensbejahend; doch das Land steckt in einer Krise, und das fängt Rosi mit seiner Kamera – bewusst oder unbewusst – mit ein: Ein Kaleidoskop der Befindlichkeiten einer Nation, die es sich nicht mehr leisten kann, mit stolz geschwellter Brust ihren Patriotismus zur Schau zu stellen.
Das Filmfestival von Venedig hat das zu seiner 70. Jubiläumsausgabe auch gezeigt: Am Lido von Venedig gab es keine Feuerwerke, keine rauschenden Feste und auch keine übertriebene Beflaggung. Stattdessen übte man sich in Understatement – um es positiv auszudrücken. Die Asbest-Grube vor dem Casino, an der ein neuer Palazzo del Cinema hätte entstehen sollen, klafft auch drei Jahre nach dem Aushub unverändert, die Infrastruktur wird von Jahr zu Jahr schwächer, das Interesse der internationalen Medien schwindet, auch wegen der Konkurrenz des Festivals in Toronto. Venedig verlässt sich auf sein attraktiv-morbides Ambiente - doch das ist auf Dauer zuwenig für ein A-Filmfestival.
"Sacro GRA" (Foto: La Biennale di Venezia)
Bei den übrigen Preisträgern dominierte noch einmal Italien: Als beste Darstellerin wurde die 82-jährige Elena Cotta geehrt, der dazugehörige Film „Via Castellana Bandiera“ entwirft ein hysterisch-turbulentes Gesellschaftsporträt Italiens. Eigentlich hatte man mit einem Preis für Judi Dench in Stephen Frears’ Drama „Philomena“ gerechnet, in dem sie eine Frau spielt, die erst Jahrzehnte nach der von irischen Klosterschwestern erzwungenen Adoptionsfreigabe für ihren unehelichen Sohn nach dessen Verbleib zu fragen traut. Für „Philomena“ gab es letztlich nur den Drehbuchpreis. Bester Darsteller wurde Themis Palou in „Miss Violence“, einem griechischen Inzestdrama, für das auch der 36-jährige Alexandros Avranas als bester Regisseur ausgezeichnet wurde. In Ordnung gehen auch die Preise für Thai-Chinesen Tsai Ming Liang für dessen wortkarges Drama „Stray Dogs“ über die Tristesse von Tagelöhnern in asiatischen Großstädten und der Spezialpreis der Jury für den Deutschen Philip Gröning und sein sprödes Beziehungsdrama „Die Frau des Polizisten“; ein Film, der lange nachwirkt - verhandelt er in 59 Kapiteln und überzogener formaler Strenge doch die unglaublichen Qualen häuslicher Gewalt.
Alberto Barbera, dieser stets elegant gekleidete Herr, der seit zwei Jahren die Mostra del Cinema leitet, hat keine schlechte Auswahl für seinen Wettbewerb getroffen. Zu den Höhepunkten gehörten die Arbeiten von Xavier Dolan („Tom a la ferme“), die Donald Rumsfeld-Doku „The Unknown Known“ von Errol Morris oder die Beziehungsstudie „La jalousie“ von Philippe Garrel. Allein: Der Glanz des Festivals verblasst mehr und mehr, solange sich hier strukturell nichts ändert. Es herrscht Stillstand an diesem historischen Ort, ganz im Gegensatz zur immerwährenden Bewegung des Verkehrs auf dem Nicht-Ort der römischen Stadtautobahn GRA.
Matthias Greuling, Venedig


Freitag, 6. September 2013

Venedig ist kein Griff ins Klo

Wer glaubt, Venedig wäre als dienstältestes Filmfestival der Welt (es begeht dieses Jahr seine 70. Ausgabe) um Jubelstimmung versucht, der irrt. Am Lido von Venedig gibt es keine Feuerwerke, keine Bankette, keine rauschenden Feste und auch keine übertriebene Beflaggung. Stattdessen übt man sich in Understatement – um es mal positiv auszudrücken. Niemand hier scheint das Jubiläum wirklich ernst zu nehmen; die Asbest-Grube vor dem Casino, an der ein neuer Palazzo del Cinema hätte entstehen sollen, klafft auch drei Jahre nach dem Aushub unverändert, das Interesse der internationalen Medien schwindet (auch wegen Toronto) zusehends und die venezianische Stadtpolitik tut so, als ginge sie ihr Aushängeschild in Sachen Filmkunst nichts an: Touristenströme am Markusplatz und vollgestopfte Busse zu den Stränden am Lido sind einträglicher als das Kunstkino der Mostra del cinema.

Allein: Alberto Barbera, dieser adrette Herr, der die Mostra seit zwei Jahren leitet, hat inmitten des unspektakulärer werdenden Settings seiner Filmschau einen ansehnlichen Wettbewerb zusammengetragen, der sich wahrhaft sehen lassen konnte. Denn dass die (infra-)stukturellen Schwächen des Festivals sich normalerweise auch im Programm niederschlagen, trifft diesmal zumindest nicht zu.
"La Jalousie" von Philippe Garrel (Foto: La Biennale di Venezia)
Das hat auch damit zu tun, dass Barbera nicht auf Effekthascherei bei Filmen setzt und somit relativ leicht jeden Griff ins Klo vermeiden konnte. Im Gegenteil: Auch als spröde bekannte Filmemacher zeigen hier neue Werke voller Anmut, voller neuer Ideen, oder zumindest voller dramaturgischer Reife. Philippe Garrel zum Beispiel. Der hat mit „La jalousie“ (Die Eifersucht) ein zwar kurzes, aber famoses Schwarz-weiß-Abstrakt über das (Miss-)Trauen in der Liebe gedreht, das ebenso unspröde wie geerdet daherkommt: Garrels Sohn Louis spielt einen Kindsvater, dessen neue Freundin ihn betrügt, auch, weil sie selbst ihrer rasenden Eifersucht ihm gegenüber Luft machen will. Es ist ein französischer Film, wie er im Lehrbuch stehen könnte, mit Beziehungsgesprächen in der Küche, mit langen Einstellungen, mit intensiven Blicken und mit unprätentiösen Pariser Stadtansichten. Und doch fern jeder Konvention: „La jalousie“ erinnert über weite Strecken an die Filme der Nouvelle Vague, nicht an den sich danach daraus gebildeten Stil französischer Beziehungsdramen. Garrel ist visuell und dramaturgisch radikaler, das macht den Reiz dieser großen Arbeit aus.
Ambivalent mag man zu einer Arbeit stehen, die hier im Wettbewerb als Dokumentarfilm angekündigt war, sich vorderhand aber schnell wie US-Propaganda ausnimmt. „The Unknown Known“ von Errol Morris gibt einem der umstrittensten Kriegsherren unserer Tage breiten Raum zur Selbstglorifizierung: Donald Rumsfeld darf darin beinahe unkommentiert erläutern, warum Bush nach 9/11 den Planeten in Kriege und Chaos stürzte, sei es in Afghanistan oder im Irak, und wieso das alles genau so richtig war; Rumsfeld war (gemeinsam mit Dick Cheney) der Strippenzieher hinter Bush, der die Pläne ausheckte. Bald schon steht er als Mastermind einer US-Weltmachtsfantasie da, die er mit seinem sympathischen Auftreten und seinem telegenen Aussehen wie selbstverständlich weglächelt. Und doch ist diese „Doku“ bei genauerem Hinsehen raffiniert durchtrieben: Genau deshalb, weil sie scheinbar nicht die „richtigen“ Fragen stellt, animiert sie den Zuschauer zu innerer Gegenwehr; Rumsfeld liefert sich selbst mehr und mehr aus, ohne es zu merken; er verbleibt in seinem Duktus des charmanten, aber uneinsichtigen Showman, der – ganz amerikanisch – nie gelernt hat, selbstrefelxiv oder gar selbstkritisch zu sein, und der am Ende bei aufmerksamen Zusehern über diese Überheblichkeit stolpert.
"The Unknown Known" von Errol Morris. (Foto: La Biennale di Venezia)
Formal hoch interessant ist die Arbeit „Die Frau des Polizisten“ des deutschen Regisseurs Philip Gröning. Er verhandelt in 59 Einzelkapiteln und drei Stunden Spielzeit das Schicksal einer Ehefrau und dessen Auswirkungen auf ihre Familie. Die Kapitel sind von unterschiedlicher Länge, machen davon bloße Miniaturen ohne offensichtlichen Sinn, aber zusammen verdichten sie sich zu einem erschreckend detailreichen Bild von häuslicher Gewalt: Die Familie – ein Mann, seine Frau, ein gemeinsames Kind -, die hier im Zentrum steht, gibt nur langsam preis, wie es um sie bestellt ist; wie im echten Leben eben auch, wenn man hinter die Fassaden jahrelang als Vorzeigepaare wahrgenommener Mitmenschen blicken kann.
Auch „Sacro GRA“ von Gianfranco Rosi, ein Dokumentarfilm über die Anwohner der römischen Ringstraße – ein Leben an der Autobahn – überzeugte im Wettbewerb. Die Doku findet allerlei Lebensrealität, die man vom italienischen Kino kaum mehr gewöhnt ist: Dort ist oft alles schrill, laut, opulent und betont lebensbejahend; doch das Land steckt in einer Krise, und das fängt Rosi mit seiner Kamera – bewusst oder unbewusst – mit ein: Ein Kaleidoskop der Befindlichkeiten einer Nation, die es sich eigentlich nicht mehr leisten kann, mit stolz geschwellter Brust ihren Patriotismus zur Schau zu stellen. Die große Asbest-Grube vor dem Casino am Lido ist nur ein Grund dafür.

Matthias Greuling, Venedig

Samstag, 31. August 2013

Venedig 2013: NIGHT MOVES von Kelly Reichardt REVIEW

„Night Moves“ heißt ein Boot, in diesem Film von Kelly Reichardt. Es wird vollgestopft mit einer hochexplosiven Mischung aus Ammoniumnitrat-Dünger und Treibstoff, hernach an der Wand eines Staudamms platziert und in die Luft gejagt. Der Damm bricht, es ist Nacht, niemand soll zu Schaden kommen. Und doch ist es am nächsten Tag Gewissheit: Ein Camper wird vermisst, bald darauf seine Leiche geborgen.

Jesse Eisenberg in "Night Moves". Foto: La Biennale di Venezia
Die Schiffsbombe, sie ist das Werk dreier Umweltaktivisten, die nicht mehr länger zusehen wollen, wie die Amerikaner mit ihren Ressourcen umgehen: Der hydroelektrische Damm, den sie zerstören, erzeugt den Strom, der in Millionen All-American Homes tagtäglich für die permanent laufenden Riesen-Flatscreens verschwendet wird und für die Springbrunnen in den hübsch und kitschig zurecht gemachten Gärten.

Sehr früh in diesem asketisch und doch facettenreich gestalteten Film wird klar, dass die Aktivisten Josh (Jesse Eisenberg), Dena (Dakota Fanning) und Harmon (Peter Sarsgaard) nicht mit der Schuld leben werden können, die sie sich mit ihrer Aktion aufgeladen haben: Dena ist die Schwachstelle im Trio, mit ihr bricht schließlich der emotionale Damm aus Verlogenheit und Tatsachen-Negierung, mit fatalen Folgen für sie.

Kelly Reichardt, die besonders in ihrem letzten Film „Meeks Cutoff“ mit ihrer sparsamen, aber dafür umso effektiveren Inszenierungsweise gefiel, hat in „Night Moves“ ihren Stil perfektioniert. Erneut ging sie für ihre Geschichte von einer Landschaft und ihrer Eigentümlichkeit aus, diesmal aber ist es nicht die Prärie, sondern ein rurales Gebiet, irgendwo im US-Bundesstaat Oregon. Da, wo die Farmer Broccoli und Kürbisse anbauen und von der Welt nicht viel wissen: Für einen Blick ins Internet müssen sie in die Stadt fahren, zur öffentlichen Bibliothek, wo ein Computer steht. Das Setting ist urtümlich, aber doch bedrückend: Die Naturverbundenheit auch dieser Menschen endet beim Dünger, den sie von den großen Nahrungsmittelkonzernen per Vertrag aufgedrückt bekommen, um die Perspektive einer konventionellen Landwirtschaft mit stetig wachsendem Ertrag zu erfüllen.

Das ist zwar niemals Thema in „Night Moves“, jedoch schleicht sich diese Zustandsbeschreibung unserer absurd gewordenen Komfortwelt zwischen Naturausbeutung und Ertragssteigerung in jede Einstellung ein. Reichardt benutzt für das Thema die Charakteristika eines Suspense-Thrillers der alten Schule: Leicht pulsierende Sounds begleiten die Aktivisten vor und nach der Tat; das Unheilvolle liegt in der Luft. Niemals kommen sie zur Ruhe, in dieser von absoluter Ruhe geprägten ländlichen Gegend. Zu schwer wiegt bei Dena das Gewissen, etwas Unrechtes mit Unrecht bekämpft zu haben, und zu kaltschnäuzig ist Joshs Reaktion darauf. Er will für eine große Sache kämpfen, und da gibt es eben Kollateralschäden.

Beachtlich ist, wie mühelos Reichardt auf der Klaviatur des Spannungskinos spielt, ohne je bemüht zu wirken und zugleich dem ausgetretenen Pfad einer klassischen Thriller-Inszenierung ausweicht. Es geht um große, hehre Ziele, um politisch motivierten Aktionismus, der von illegalen Taten befeuert wird; es geht um die Konsequenzen einer tödlichen Tat und um die Kälte, mit der sie ausgeführt wird. Prinzipientreue ist in „Night Moves“ nicht nur Motor und unbedingte positivistische Lebenseinstellung; sie ist auch ein Zustand, der ins Verderben führt.
Matthias Greuling, Venedig

Dienstag, 6. August 2013

Locarno 2013: Kein neuer Weg trotz neuem Chef

Carlo Chatrian (Foto: Festival Locarno)
Vieles, was ein Festival auszeichnet, steht und fällt mit seinem künstlerischen Leiter. Carlo Chatrian ist ein neuer Name auf der recht engen Bühne der internationalen Filmfestivals. Er leitet seit kurzem das Filmfestival von Locarno, das heute Abend mit der US-Actionkomödie „2 Guns“ (mit Denzel Washington und Mark Wahlberg) eröffnet wird. Sein Vorgänger Olivier Père hat es nach drei Jahren im Tessin zu Arte France Cinema gezogen; Père hatte Locarno in seiner kurzen Amtszeit viel Glamour beschert – seine exzellenten Kontakte in Hollywood-Kreisen brachten große Namen wie Daniel Craig oder Harrison Ford hierher. Das ist fürs Erste vorbei: Chatrian ist keiner, der das Kino als Spielstätte des Glamours begreift; lange Jahre schon ist der 42-jährige Italiener Mitarbeiter und Kurator in Locarno. Er gestaltete bisher die Retrospektiven, saß im Filmauswahlkomitee und ist als Filmkritiker, Journalist, Essayist, Buchautor und Programmierer zahlreicher weiterer Filmschauen tätig. Ein Mann, der aus der Filmtheorie kommt, kein Praktiker, sondern einer, der gerne von Vielfalt im Diskurs über das Filmschaffen spricht. Es geht ihm um „die vielgestaltigen Realitäten des Filmschaffens“, nicht um die Quote, nicht um Aufreger, sondern um „Impulse, die dazu anregen, die Welt zu entdecken“, durch die Augen der Filmkamera.
Soweit die Theorie. Chatrian hat potenziellen Skeptikern schon im Vorfeld den Wind aus den Segeln genommen: Allzu viele Weichenstellungen werde es nicht geben, im Wesentlichen bliebe Locarno eine Filmschau der Entdeckungen und Überraschungen, nur das mit den Stars, das ist Chatrians Sache nicht. Hollywood bleibt in diesem Jahr zuhause,  mit den Alt-Stars Christopher Lee, Jacqueline Bisset  und Faye Dunaway kommen aber doch prominente Namen nach Locarno. Auf der Piazza Grande mit ihrem 8000 Zuschauer fassenden Open-Air-Kino bringt man traditionell die populäreren Filme, darunter die belgisch-deutsche Komödie „Vijay and I“ mit Moritz Bleibtreu, die Jennifer-Aniston-Komödie „We Are the Millers“ oder „Wrong Cops“ mit Marilyn Manson. Brisant dürfte „L’éxperience Blocher“ sein, eine Doku, die den umstrittenen Schweizer Rechts-Politiker Christoph Blocher begleitet. Blocher, sonst kein Fan des Festivals, soll sich zur Premiere des Films am 13. August persönlich angesagt haben.
Im Wettbewerb stehen dieses Jahr 20 Filme aus dem zeitgenössischen Autorenkino, mit neuen Arbeiten von Emmanuel Mouret, Sangsoo Hong, Shinji Aoyama, Thomas Imbach oder Claire Simon. Die Verfilmung von Charlotte Roches „Skandalbuch“ „Feuchtgebiete“ (Regie: David Wnendt) hat es wohl vor allem deshalb in den Wettbewerb geschafft, weil Hauptdarstellerin Carla Juri eine gebürtige Tessinerin ist. Das Thema des Films – von Hämorrhoiden über Analfissuren bis zu ausgefallenen Sexualpraktiken – ist wie geschaffen für einen Aufreger: So ganz an der Quote vorbei kann selbst Carlo Chatrian nicht.
Matthias Greuling
Dieser Beitrag ist in einer ausführlicheren Version auch in der "Wiener Zeitung" erschienen.

Montag, 27. Mai 2013

Cannes feiert Kechiche und Léa Seydoux mit der Goldenen Palme

In Frankreich gibt es seit Wochen hitzige Debatten. In Paris gehen Hunderttausende auf die Straßen. In jedem Bus und in jeder U-Bahn, beim Bäcker, in der Kirche und natürlich im Café diskutieren die Menschen derzeit nur ein Thema: Die Homo-Ehe, vom Kabinett Hollande beschlossen, sie darf und kann so nicht kommen. Sagen die einen. Oder eben: Die Homo-Ehe, sie MUSS kommen dürfen. Sagen die anderen.
Kechiche mit seinen beiden Darstellerinnen. Foto: Alexander Tuma
Was das mit dem Filmfestival von Cannes zu tun hat, wenn im Staate der „Egalité“ die Wogen hochgehen? Bei den 66. Filmfestspielen wurde soeben der Film „La vie d’Adèle“ von Abdellatif Kechiche mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Es geht darin um die Liebe zwischen zwei Frauen, mit Sexszenen, die man lange nicht so explizit gesehen hat. Kein flammendes Plädoyer für die gleichgeschlechtliche Liebe, sondern eine ungemein sinnliche Filmerfahrung.
Die Goldene Palme, erstmals also eine politisch motivierte Auszeichnung, wie das die Berlinale so gern tut? Bei genauerer Betrachtung hält dieses Urteil nicht stand.
Steven Spielberg, dem Jury-Präsidenten, hatte man eigentlich nicht zugetraut, dass er diese Palme verleihen würde. Spielberg gilt als Konservativer, was sich in seinen durchwegs prüden Filmen widerspiegelt. Doch bei der Preisverleihung am Sonntag stieg ihm keinerlei Schamesröte ins Gesicht.
„La vie d’Adèle“ folgt der 18-jährigen Adele (Adèle Exarchopoulos), für die es eigentlich klar ist, dass Mädchen mit Burschen ausgehen – bis sie die extrovertierte Emma (Léa Seydoux) kennen lernt, die ihr beibringt, die eigenen Bedürfnisse zu erforschen. „Es ist die Geschichte einer absoluten Liebe zwischen zwei Frauen“, sagt Kechiche.
Wer frühere Arbeiten von Kechiche kennt, etwa „Couscous mit Fisch“ oder den wunderbaren „L’esquive“, der weiß, mit welcher Unmittelbarkeit sich der Filmemacher auf seine Themen stürzt. Er rückt seinen Protagonisten stets nah zu Leibe, um auch wirklich keine Regung in deren Gesichtern zu verpassen. Kechiche erzählt über diese kleinen Details ganz große Geschichten. Die drei Stunden von „La vie d’Adèle“ vergehen wie im Flug; es ist einer dieser Filme, bei denen man möchte, dass sie niemals aufhören.

Das sexuelle Erwachen ist wieder ein großes Thema im Kino, besonders in Frankreich, wo das Lolita-Tum wie nirgends sonst traditionell ganz ohne Scham zelebriert wird. Auch François Ozon hat im Wettbewerb einen Film gezeigt, der sich damit befasst: In „Jeune & Jolie“ folgt er einer 17-Jährigen (Marine Vacth), die sich freiwillig prostituiert, um sexuelle Erfahrungen zu sammeln. Der Film erregte keine Empörung, wohl aber Ozons Aussage, dass „viele Frauen darüber phantasieren, sich zu prostituieren. Begehrt und benutzt zu werden ist in der Sexualität nichts Neues. Es gibt eine Art von Passivität, nach der Frauen suchen“. Diese Aussagen zogen einen regelrechten Shitstorm in der französischen Presse nach sich. Ozon entschuldigte sich, er sei wohl missverstanden worden.

In Cannes steht dennoch die Filmkunst über dem Politikum, das zeigten die weiteren Preise. Der zweite Film, der sich mit Homosexualität befasste, Steven Soderberghs „Behind the Candelabra“ über den schwulen Las-Vegas-Star Liberace (Michael Douglas) und seinen Lover (Matt Damon), erwies sich als grandios gespieltes, sonst aber recht konventionelles TV-Movie, und blieb ohne Preis. Also keine Tendenz zu einem Polit-Plädoyer.
Der große Preis des Festivals ging an die Brüder Joel und Ethan Coen für „Inside Llewyn Davis“, eine stimmige und launige Auseinandersetzung mit der Folk-Musikszene im New York der 60er Jahre. Als besten Darsteller kürte man den 76-jährige Bruce Dern (Vater von Laura Dern), der in Alexander Paynes Schwarzweiß-Drama „Nebraska“ die Rolle eines zerstreuten Vaters spielt. Als beste Schauspielerin wurde Bérénice Bejo für Asghar Farhadis Ehedrama „Le passé“ ausgezeichnet, bester Regisseur wurde der Mexianer Amat Escalante für seinen Film „Heli“. Der Preis der Jury ging nach Japan an Kore-Eda Hirokazu für „Like Father, Like Son“. Jia Zhangke wurde zurecht mit dem Preis für das beste Drehbuch zu „A Touch of Sin“ ausgezeichnet, ein Film, der die wachsende Gewaltbereitschaft im modernen China nicht beim Regime, sondern bei den Menschen selbst verortet.
Spielberg und seine Jury (der auch Christoph Waltz angehörte) haben sich auf die Filmkunst konzentriert, und es ist bloß Zufall, dass der beste Film dieses sonst durchschnittlichen Wettbewerbs zufällig mit dem Thema Homo-Ehe korreliert. Am Ende bleibt Cannes nämlich das, was es immer war: Ein Festival, das den Film feiert, ein Glamour-Schaulauf, der mit Politik und gesellschaftlichen Tendenzen wenig zu tun haben will. Anders gesagt: In Cannes wird gerne das gefeiert, wogegen man in Paris auf die Straße geht.

Matthias Greuling, Cannes

Dieser Beitrag ist auch in "Die Furche" erschienen.

Samstag, 25. Mai 2013

Cannes 2013: Finale mit Polanski und Jarmusch

Mit den außergewöhnlichen Arbeiten zweier arrivierter Filmkünstler ist am Samstag der Wettbewerb um die Goldene Palme von Cannes komplettiert worden. Jim Jarmuschs „Only Lovers Left Alive“ erwies sich als vielschichtige Vampir-Farce, während Roman Polanski mit „Venus in Fur“ eine simple, aber umso geschicktere Heirat aus Theater und Kino herstellt. Beiden Regisseuren merkt man an, dass sie mit ihrem Kino die Welt nicht (mehr) verändern wollen; sie machen sich fast schon einen Jux daraus, mit den Spielformen des Kinos jovial und durchaus auch trivial umzugehen.

Jim Jarmuschs „Only Lovers Left Alive“ kam als letzter Film in den Wettbewerb von Cannes, sozusagen eine Nachreichung – in einen Wettbewerb, der bis zuletzt auf den großen Wurf warten ließ, den man in Cannes eigentlich erwartet (und auch immer wieder zu sehen bekam). Dieses Jahr kam er nicht.
"Only Lovers Left Alive" von Jim Jarmusch (Foto: Festival de Cannes)
Jarmusch, dessen Ruf als Ausnahmeerscheinung im US-Independentkino von lange zurückliegenden Filmen wie „Stranger than Paradise“, „Down by Law“ oder „Night on Earth“ herrührt, findet mit der skurrilen Geschichte um ein Vampir-Pärchen zu alter Hochform zurück. Zwischen Detroit und Tanger, wo Jarmusch die Handlung ansiedelt, sind der Untergrund-Musiker und Gitarrensammler Adam (Tom Hiddleston) und seine Frau Eve (Tilda Swinton) stets darauf bedacht, ihren Konsum von Menschenblut aus sauberen Krankenhaus-Blutkonserven zu stillen. Man lebt ja schließlich im 21. Jahrhundert, da beißen Vampire keine Menschen mehr zu Tode! Bis Ava (Mia Wasikowska), die junge Schwester von Eve, auftaucht, die sich über einen Freund der Vampire hermacht. „You drank Ian! Get out of my house“, tobt Adam. Familienzank auf Vampirisch.  
Jarmusch inszeniert einen überaus leisen und langsamen Film; nichts hier ist dem vermeintlich zugrunde liegenden (Sub-)Genre des Vampirfilms geschuldet, alles ist ihm diametral entgegengesetzt erzählt, und selten – schon gar nicht im verstaubten „Twilight“ – gab es lässigere Blutsauger. Jarmusch durchsetzt den Film mit unzähligen Anspielungen auf die Film-, TV- und Literaturgeschichte. Wenn Eva ins Flugzeug steigt – sie fliegt mit der „Air Lumière“ – dann nennt sie sich gerne Daisy Buchanan, eine schöne Anspielung auf „Der große Gatsby“. Und weil Vampire ja hunderte Jahre alt werden, gibt es hier sogar einen kurzen Auftritt von John Hurt in der Rolle von Christopher Marlowe, der auf Shakespeare schimpfen darf, weil sämtliche Stücke natürlich von ihm selbst stammten.
Jarmschus „Only Lovers Left Alive“ ist ein leidenschaftliches Traktat über das Außenseitertum; die Vampire sind Metaphern für Ausbrecher aus einer kurzsichtig agierenden Gesellschaft. Der Film will Weitblick, eröffnet ihn aber – auch in seiner musikalischen Untermalung mit etlichen Vinyl-Raritäten – wirklich nur engmaschig eingeweihten Kennern. Und er ist ein Jux, wie auch jener von Polanski.
"Venus in Fur" von Roman Polanski (Foto: Festival de Cannes)
Polanski hat mit „Venus in Fur“ den überraschend launigen Schlusspunkt des sonst mediokren Wettbewerbs gesetzt. Es ist die Adaption von David Ives‘ Boulevard-Stück vom Broadway,  das wiederum auf Leopold von Sacher-Masochs „Venus im Pelz“ von 1870 basiert, das seinerzeit einen unglaublichen Skandal auslöste: Die Macht- und Unterwerfungsphantasien, die Masoch darin veröffentlichte, begründeten schließlich den Masochismus-Begriff.
Der Theaterregisseur Thomas (Mathieu Amalric) empfängt bei einem Casting widerwillig noch eine letzte Schauspielerin (Polanskis Ehefrau Emmanuelle Seigner), um eine selbst verfasste Adaption des Masoch-Buches für die Bühne zu besetzen. Bislang waren alle Kandidatinnen ungeeignet, doch Vanda scheint nicht nur durch ihre perfekte Kenntnis der Rolle wie geschaffen für den Part. In einer ständig zwischen Rollenauslotung und Inszenierung pendelnden Leseprobe lassen sich sowohl Amalric als auch Seigner mehr und mehr in die Figuren der beiden sexuell aufgeladenen Protagonisten fallen, und Vanda kitzelt peu-a-peu Thomas‘ wahre Phantasien aus ihm heraus; Mehr und mehr vermischen sich die Bühnenrollen mit den Persönlichkeiten ihrer beiden Darsteller, und bald wird das Bühnenstück selbst zur sexuellen Obsession. Polanskis Regieeinfälle dazu reichen von der akzentuiert eingesetzten Musik bis hin zur Lichtstimmung auf der Bühne, die Vanda zur Verblüffung von Thomas stets der geprobten Szene anpasst. Kaminfeuer inklusive.
In einer Szene spielt Polanski dann gar auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs an: Vanda macht Thomas des Vorwurf, seine Adaption handle von Kindesmissbrauch. Thomas verteidigt sich: „Ist denn heute alles gleich Kindesmissbrauch? Gibt es gar keine Zwischentöne mehr?“ Bei Polanski klingt das wie Ironie, aber auch wie ein Stück verschämte Selbstkritik.
Wie schon in „Der Gott des Gemetzels“ wahrt Polanski bei der Adaption dieses Stücks ebenfalls die Einheit von Zeit und Ort: Ein Film, der in Echtzeit über eine Pariser Theaterbühne geht; Man mag „Venus in Fur“ schon ab der allerersten Einstellung, in der eine Kamera zu einem Unwetter über einen leeren Pariser Boulevard schwebt, bis sie schließlich die Türen zum Theater aufstößt. Ab diesem Moment beginnt das raffinierte, temporeiche und mit glänzenden Dialogen ausstaffierte Verführungs- und Obsessionsspiel, das bei Polanski gar nicht theaterhaft, sondern überraschend filmisch aussieht.
Ob die Späße der Kino-Altmeister auch auszeichnungswürdig sind? Man wird sehen, wie Steven Spielberg und seine Jury am Sonntag Abend entscheiden werden. Emmanuelle Seigner ist im Wechsel zwischen Schauspielerin und Bühnenfigur allerdings derart souverän, dass man ihr den Darstellerinnen-Preis gönnen würde. Für Jarmusch müsste man einen eigenen Preis erfinden: Jenen für die wohlschmeckendste Blutkonserve.
Matthias Greuling, Cannes
Dieser Beitrag ist auch auf wienerzeitung.at erschienen.

VIDEO: Bernardo Bertolucci im Cannes-Interview

Er war der Regisseur von Skandalfilmen und Meisterwerken: Bernardo Bertolucci, 72, hat Filme wie "1900", "Der letzte Tango in Paris" oder "Prima della Revoluzione" gedreht, und jetzt erscheint sein episches Drama "Der letzte Kaiser" in einer neu gestalteten 3D-Fassung. In Cannes stellte Bertolucci den Film voller Enthusiasmus vor. Ein neues Projekt hat er auch schon im Kopf und im August wird er als Jury-Präsident beim Filmfestival von Venedig fungieren. Bertolucci, der seit einer misslungenen Rückenoperation im Rollstuhl sitzt, empfängt uns gut gelaunt zu einem kurzen Gespräch im Hotel Carlton in Cannes.
 
 
Herr Bertolucci, war es Ihre Idee, "Der letzte Kaiser" als 3D-Version herauszubringen?
Bernardo Bertolucci: Nein, es waren die Produzenten, die auf mich zukamen. Aber ich bin ein großer Fan von 3D-Filmen. Ich wollte ja schon meinen letzten Film ‚Io e te‘ in 3D drehen, aber damals kam das Budget dafür nicht zustande. Außerdem improvisiere ich sehr gerne beim Drehen, und das lässt das 3D-Equipment einfach nicht zu. Es ist zu unflexibel, und jede Einstellung muss millimetergenau geplant werden. Aber ich bin überzeugt davon, dass 3D dem Kino wirklich etwas Neues bringt, wenn man es richtig einsetzt. Die Illusion von Tiefe kann eine weitere Erzählebene sein, die es bisher so nicht gab.
 
Sie haben am Wochenende der Cannes-Premiere von "Der letzte Kaiser 3D" beigewohnt. Wie war das denn für Sie?
Es war toll zu sehen, dass der Film 25 Jahre nach seinem Entstehen wieder zurück auf die Leinwand kommt. An dem Abend, als der Film in Cannes in einem Zeltkino Premiere hatte, regnete es so stark, dass man die ganze Zeit über das Prasseln an der Saaldecke hören konnte. Das hat überraschend gut zu den dramatischen Momenten des Films gepasst. Wir waren dadurch beinahe schon in der vierten Dimension, man spürte den Film regelrecht.
 
Sind Filme wie "Der letzte Kaiser" heute aus der Mode gekommen? Es gibt kaum noch Epen dieses Ausmaßes…
"Der letzte Kaiser" war noch einer dieser großen, epischen Filme, bei denen es Massenszenen mit tausenden Statisten gab. Heute weiß man in Hollywood nicht mehr, wie man große Epen erzählt. Ein Produzent aus Amerika hat mir nach der Premiere gesagt: Ich mag den Film, weil er mich an die Gründe erinnert, weshalb ich überhaupt Filme machen wollte. Der Umstand, dass der Film heute als Klassiker gilt, macht mich sehr froh. Aber es macht mich natürlich auch ein bisschen älter (lacht).
 
Spüren Sie immer noch die Leidenschaft fürs Filmemachen?
Ja, ich fühle mich noch sehr jung, was meine Gedanken betrifft. Ich bereite ein neues Projekt vor, oder besser gesagt, ich forme gerade einige Ideen dafür zurecht. Seit ich nicht mehr gehen kann und auf den Rollstuhl angewiesen bin, sind neue Projekte allerdings schwieriger geworden. Anfangs konnte ich mit dieser Situation gar nicht umgehen, und dachte: Jetzt ist es vorbei. Jetzt wirst du nie mehr einen Film machen können. Man kann im Rollstuhl ja nicht wirklich durch die Kamera schauen. Erst, als ich meine Situation akzeptiert hatte, war ich in der Lage, "Io et te" zu machen, der im Vorjahr erschienen ist.
 
Können Sie einen Film aus Ihrem Schaffen nennen, den Sie selbst besonders gerne sehen?
Ich schaue mir meine Filme niemals an. Wenn Sie mich über meine Filme fragen, kann ich nur aus der eigenen Erinnerung antworten. Manchmal kommt es vor, dass ich Filme verwechsle. Aber ich schaue sie nicht an. Ich würde nur die Fehler finden und außerdem finde ich es gut, wenn man eine gewisse Distanz zum eigenen Werk hat.

Welche Erinnerungen haben Sie noch an "Der letzte Tango in Paris"?
Der Film war 1972 ein Riesenskandal! Ich habe das nie verstanden. Ich wurde in Italien zu zwei Monaten Haft verurteilt. Das war für mich fast wie eine Auszeichnung! Aber die Zeiten damals waren anders. Ich selbst war manchmal meiner Zeit voraus, aber noch viel öfter hinkte ich der Zeit hinterher. Überhaupt heute, wo alles so schnelllebig geworden ist.

Im August werden Sie Jury-Präsident beim 70. Filmfestival von Venedig sein. Was reizt Sie daran?
Ich hoffe, dort viele neue Talente zu entdecken, die mir zeigen, was sie können. Es ist sehr schwierig, die heutige Zeit adäquat einzufangen und auf die Leinwand zu bringen. Deshalb freue ich mich so sehr auf diese Aufgabe und all die Filme. Und ich glaube nach wie vor an die Jugend. Nur sie kann unsere Welt verändern, davon bin ich überzeugt.
 
Interview: Matthias Greuling, Cannes
 
Dieser Beitrag ist auch auf wienerzeitung.at erschienen
 

Sonntag, 19. Mai 2013

Joel & Ethan Coen mit starkem "Inside Llewyn Davis" in Cannes

Wenn in Cannes ein neuer Film der Brüder Joel und Ethan Coen gezeigt wird, sind die Kinosäle überfüllt wie selten. Das mag auch am miserablen, stürmischen Regenwetter gelegen haben, der die Kritiker ins Kino trieb, aber letztlich will jeder schlicht dabei sein, wenn die Coens ihre jetzt schon famose Filmografie mit viel Verve weiterschreiben.

"Inside Llewyn Davis" (Foto: Festival de Cannes)

Die Erwartungen wurden nicht enttäuscht: „Inside Llewyn Davis“ heißt das neue Opus, in dem die Coens in das New York der frühen 60er Jahre eintauchen; es ist die Zeit, in der in den Clubs von Greenwich Village Legenden wie Bob Dylan aus der lebhaften Folk-Musikszene geboren wurden. Der Film folgt dem Sänger Llewyn Davis (Oscar Isaac), der mit viel Inbrunst und Leidenschaft an seiner Musikkarriere arbeitet, dem aber letztlich trotz seiner wunderbaren Songs und der Qualität seines Könnens der Aufstieg aus den Hinterhof-Clubs verwehrt bleibt.
Die Odyssee, die Davis im Laufe des Films durchlebt, ist voller Rückschläge und enttäuschter Hoffnungen. Das reicht von der Zurückweisung durch seine Ex-Freundin (Carey Mulligan) über wenig Hoffnung verbreitende Vorsingen bei Konzertveranstaltern bis hin zu einer den ganzen Film dramaturgisch begleitenden entlaufenen Katze. Ja, bei den Coens darf trotz der Misere auch gelacht werden:  „Inside Llewyn Davis“ ist vielleicht der schönste Katzenfilm aller Zeiten.
Joel und Ethan Coen finden für die rauchige Atmosphäre in den Clubs den richtigen desaturierten Look, arbeiten in Bildsprache und Rhythmus angenehm zurückhaltend, ohne dabei ihre Handschrift zu verwässern. Es gibt famose Songs und außerdem einige Szenen, die Kultstatus erlangen könnten, darunter eine gemeinsame Jam-Session zwischen Isaac und seinem Musikerkollegen im Film, gespielt von Justin Timberlake.
Neu ist, dass die Regisseure hier nicht alles dem subtilen, schwarzen und sarkastischen Humor unterordnen, der ihre Filme kennzeichnet. Sie sind in der Lage, in voller Ernsthaftigkeit zu inszenieren und dabei durchaus metaphernschwanger den größten Trumpf dieser Geschichte des Scheiterns auszuspielen: Die Erkenntnis, dass Talent und Leidenschaft zwar Bedingung, aber keineswegs Garant für eine große Karriere sind. Irgendwo am Wegesrand muss sich Glück und Berechnung hinzugesellen. Und: Man sollte wissen, wo man hingehört. Die Katze im Film macht es vor.
Matthias Greuling, Cannes

Dieser Beitrag ist auch auf WZ-Online erschienen.

Valeria Golino mit Regiedebüt in Cannes

Bis Mitte der 90er Jahre gehörte sie zu den gefragtesten europäischen Schauspielerinnen im US-Kino: Valeria Golino, 46, spielte in Filmen wie „Rain Man", „Hot Shots 2" oder „Leaving Las Vegas", ehe sich ihre Karriere wieder vermehrt in Europa abspielte. Jetzt hat die in Neapel aufgewachsene Tochter eines Italieners und einer Griechin ein neues Karriere-Kapitel aufgeschlagen und präsentierte in der Reihe „Un certain regard" in Cannes ihr überaus gelungenes Regiedebüt „Miele". Der Film, der um die „Camera d’Or" für das beste Erstlingswerk konkurriert, wird auch in Österreich zu sehen sein, ein Verleih hat sich bereits gefunden.

Valeria Golino (l.) mit Jasmine Trinca. Foto: Festival de Cannes
„Miele" erzählt von einer jungen Italienerin, die mit viel Demut und Nüchternheit einen belastenden und verbotenen Beruf ausübt: Irene (herausragend: Jasmine Trinca) gibt unheilbar Kranken Sterbehilfe. Mit einem Gift, das zum Einschläfern von Hunden dient, und das sorgfältig angerührt werden muss, damit es beim Menschen wirkt. Die Tragödie des freiwilligen Sterbens folgt dabei konkreten Regeln, die nicht gebrochen werden dürfen: Die Patienten müssen das Gift unbedingt selbst einnehmen, Angehörige dürfen es nicht verabreichen. Im Hintergrund läuft dabei jene Musik, die sich Irenes „Kunden" wünschen.

Golino findet für das schwierige und anstößige Thema in „Miele" genau die richtige Mischung aus Nähe und Distanz, wunderbar verkörpert von der kühlen und zugleich herzlich-emotional agierenden Jasmine Trinca. Es ist ein Regiedebüt von großer inszenatorischer Dichte, in dem die für viele italienische Produktionen typische Verkitschung der Gefühle ausbleibt. Nur am Ende setzt Golino dann doch noch einige Noten zu viel in dieser ansonsten so stimmigen Sinfonie über die scheinbare Diskrepanz zwischen Leiden und Lebenslust.

„Das Thema Sterbehilfe ist derzeit im Kino sehr gefragt", sagt Golino. „In Frankreich und Italien wird es stark diskutiert, auch in den Filmen, und letztlich ist selbst Hanekes ‚Amour‘ ein Beitrag dazu". Golino, die sowohl das Drehbuch verfasste als auch Regie führte, wollte selbst aber nicht im Film mitspielen. „Ich habe eine Zeit lang überlegt, ob ich eine Rolle für mich darin sehe. Aber ich habe mich dagegen entschieden, denn ich wollte voll auf den Job hinter der Kamera fokussieren". Insgesamt vier Jahre bereitete Golino den Film vor, „weil es vor allem sehr schwer war, eine Finanzierung auf die Beine zu stellen", sagt sie. Das liege auch am Thema. „Niemand will sich gerne mit dem Sterben konfrontieren, deshalb ließen viele Produzenten die Finger von dem Projekt. Aber es ist wichtig und auch die Aufgabe des Kinos, unangenehme Themen zu verhandeln".

Matthias Greuling, Cannes