Carlo Chatrian (Foto: Festival Locarno) |
Vieles, was ein Festival auszeichnet, steht und fällt mit
seinem künstlerischen Leiter. Carlo Chatrian ist ein neuer Name auf der recht
engen Bühne der internationalen Filmfestivals. Er leitet seit kurzem das
Filmfestival von Locarno, das heute Abend mit der US-Actionkomödie „2 Guns“
(mit Denzel Washington und Mark Wahlberg) eröffnet wird. Sein Vorgänger Olivier Père hat es nach drei Jahren im Tessin zu Arte France Cinema gezogen; Père
hatte Locarno in seiner kurzen Amtszeit viel Glamour beschert – seine
exzellenten Kontakte in Hollywood-Kreisen brachten große Namen wie Daniel Craig
oder Harrison Ford hierher. Das ist fürs Erste vorbei: Chatrian ist keiner, der
das Kino als Spielstätte des Glamours begreift; lange Jahre schon ist der
42-jährige Italiener Mitarbeiter und Kurator in Locarno. Er gestaltete bisher
die Retrospektiven, saß im Filmauswahlkomitee und ist als Filmkritiker,
Journalist, Essayist, Buchautor und Programmierer zahlreicher weiterer
Filmschauen tätig. Ein Mann, der aus der Filmtheorie kommt, kein Praktiker,
sondern einer, der gerne von Vielfalt im Diskurs über das Filmschaffen spricht.
Es geht ihm um „die vielgestaltigen Realitäten des Filmschaffens“, nicht um die
Quote, nicht um Aufreger, sondern um „Impulse, die dazu anregen, die Welt zu
entdecken“, durch die Augen der Filmkamera.
Soweit die Theorie. Chatrian hat potenziellen Skeptikern
schon im Vorfeld den Wind aus den Segeln genommen: Allzu viele
Weichenstellungen werde es nicht geben, im Wesentlichen bliebe Locarno eine
Filmschau der Entdeckungen und Überraschungen, nur das mit den Stars, das ist
Chatrians Sache nicht. Hollywood bleibt in diesem Jahr zuhause, mit den Alt-Stars Christopher Lee, Jacqueline
Bisset und Faye Dunaway kommen aber doch
prominente Namen nach Locarno. Auf der Piazza Grande mit ihrem 8000 Zuschauer
fassenden Open-Air-Kino bringt man traditionell die populäreren Filme, darunter
die belgisch-deutsche Komödie „Vijay and I“ mit Moritz Bleibtreu, die
Jennifer-Aniston-Komödie „We Are the Millers“ oder „Wrong Cops“ mit Marilyn
Manson. Brisant dürfte „L’éxperience Blocher“ sein, eine Doku, die den
umstrittenen Schweizer Rechts-Politiker Christoph Blocher begleitet. Blocher,
sonst kein Fan des Festivals, soll sich zur Premiere des Films am 13. August
persönlich angesagt haben.
Im Wettbewerb stehen dieses Jahr 20 Filme aus dem
zeitgenössischen Autorenkino, mit neuen Arbeiten von Emmanuel Mouret, Sangsoo
Hong, Shinji Aoyama, Thomas Imbach oder Claire Simon. Die Verfilmung von Charlotte
Roches „Skandalbuch“ „Feuchtgebiete“ (Regie: David Wnendt) hat es wohl vor
allem deshalb in den Wettbewerb geschafft, weil Hauptdarstellerin Carla Juri
eine gebürtige Tessinerin ist. Das Thema des Films – von Hämorrhoiden über
Analfissuren bis zu ausgefallenen Sexualpraktiken – ist wie geschaffen für
einen Aufreger: So ganz an der Quote vorbei kann selbst Carlo Chatrian nicht.
Matthias Greuling
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