Die Ruhe vor dem Sturm auf der Croisette. Foto: Greuling |
Das Filmfestival von Cannes steckt seit vielen Jahren in
einer Zwickmühle zwischen Institutionszwang und Innovationsdrang fest, ohne
dass seine mehr als ergrauten Chefs jemals den Ausbruch aus dieser Situation
gefunden hätten: Gilles Jacob, der 83-jährige Präsident des Festivals, der
dessen Geschicke seit 1977 lenkt, und sein künstlerischer Leiter Thierry
Frémaux, 53, und seit 2001 in dieser Position, haben in ihren
Festivalprogrammen der letzten Dekade konstant auf sichere Quotenbringer und
den Arthaus-Mainstream gesetzt. Ja, sie haben diesen Begriff sogar erfunden,
indem sie mit schöner Regelmäßigkeit die immer gleichen Regisseure in ihren
Wettbewerb eingeladen haben und dabei auf innovative, frische Zugänge
weitestgehend verzichteten. Die finden in der zeitgleich stattfindenden, aber
vom Festival völlig entkoppelten Reihe „Quinzain des réalisateurs“ statt, in
der auch Leute wie Haneke ihre ersten Cannes-Sporen verdienten. Irgendwann,
wenn sie genug künstlerische Ausdauer bewiesen hatten, übernahm man sie in den
Wettbewerb. Aber muss man Jacob und Frémaux das zum Vorwurf machen? Nein. Sie
verteidigen nur den Mythos ihrer Institution.
Am Programm der heute Abend beginnenden 66. Ausgabe des weltgrößten
und berühmtesten Festivals ist das wieder überdeutlich abzulesen: Niemand hier
ist wirklich ein Cannes-Neuling im Bewerb um die Goldene Palme, und auch
außerhalb des Wettbewerbs bemüht sich Cannes um die größtmögliche Glamour-Show:
Der Eröffnungsfilm kommt vom australischen Bombast-Könner Baz Luhrmann, der
hier schon 2001 mit „Moulin Rouge“ die Sinne taumeln ließ: „Der große Gatsby“
heißt sein neues Werk, mit Leonardo DiCaprio, in 3D und mit jeder Menge
Spektakel: Ein Bilderreigen nach dem Roman von F. Scott Fitzgerald, der schon
diese Woche in unseren Kinos anläuft und seine Premiere bereits vergangene
Woche in New York hatte. Bei allen Sicherheitsgedanken, die Cannes bei
Eröffnungsfilmen traditionell hegt (große Stars bedeuten flächendeckende Berichterstattung
in den Medien) ist das immerhin eine Art
Novum: Bisher war es für Jacob und Frémaux nämlich unabdingbar, dass Filme, die
in Cannes gezeigt werden, Weltpremieren zu sein hatten; doch für das Kommen von
DiCaprio und Co. machte man diesmal eine Ausnahme – und geht somit auch in die
Knie vor den US-Studios, die sich dem Diktat der rigorosen Cannes-Regeln
offenbar nicht mehr unterwerfen wollen: Es ist ein Wechselspiel der Kräfte.
Cannes braucht Hollywood, und Hollywood braucht Cannes. Nur dass es derzeit so
aussieht, als hätte Cannes da etwas Boden verloren. Es ist wie in Beziehungen:
einer liebt immer mehr – und ist am Ende der Verlierer.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Cannes sein Programm
füllt, läuft dem festivaleigenen Statut, neue Wege in der Filmkunst zu fördern,
zuwider. Auch, wenn der „Cannes Regular“ Lars von Trier mit seinem Werk
„Nymphomaniac“ überraschenderweise fehlt, weil er angeblich nicht rechtzeitig
fertig wurde (böse Zungen behaupten, von Trier sei nach seinem Nazi-Sager 2010 noch
immer „persona non grata“ in Cannes), stammen die meisten Filme von den
üblichen Verdächtigen: Allein aus Frankreich sind acht Filme im Bewerb,
darunter die neuen Arbeiten von Francois Ozon, Abdellatif Kechiche und Valeria
Bruni-Tedeschi. Wieder mal an der Croisette sind die Coen-Brüder, Steven
Soderbergh, James Gray, Roman Polanski oder Jim Jarmusch. Mag sein, dass unter
ihren Arbeiten einige neue Meisterwerke alter Meister zu finden sein werden,
jedoch stellt sich erneut heraus, was bereits im Vorjahr eines der drängendsten
Probleme des Festivals war: Es ist – wie auch bei den Oscars – in Wahrheit eine
Altherrenveranstaltung, die sich zum gemeinsamen Feiern ausgetretener Pfade
versammelt. Vielleicht gilt das für Cannes im Speziellen und für das
Filmschaffen im Allgemeinen: Im sich selbst perpetuierenden System der Dominanzen
in einer hierarchisch wenig demokratischen Branche kann die Innovation nur
störend wirken; denn sie stellt die Institution in Frage. Der Kunstbetrieb in
Cannes deckt diese Tatsachen gerne mit viel Pomp und Glamour zu, damit man vor
lauter Funkeln nicht mehr sieht, dass darunter leise fließt, was eigentlich
brodeln sollte.
Matthias Greuling, Cannes
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