Dienstag, 14. Mai 2013

Cannes: Ein Festival zwischen Institution und Innovation

Mit Institutionen ist es ja genau andersrum wie mit Innovationen: Man kann sie so lange als solche bezeichnen, wie sie einem verlässlich das ewig Gleiche liefern. Das ist in der Welt von Finanzen, von Recht und Gesundheit womöglich der Weisheit letzter Schluss, denn genau dort braucht es Stabilität. Aber in der Kunst?
Die Ruhe vor dem Sturm auf der Croisette. Foto: Greuling
Das Filmfestival von Cannes steckt seit vielen Jahren in einer Zwickmühle zwischen Institutionszwang und Innovationsdrang fest, ohne dass seine mehr als ergrauten Chefs jemals den Ausbruch aus dieser Situation gefunden hätten: Gilles Jacob, der 83-jährige Präsident des Festivals, der dessen Geschicke seit 1977 lenkt, und sein künstlerischer Leiter Thierry Frémaux, 53, und seit 2001 in dieser Position, haben in ihren Festivalprogrammen der letzten Dekade konstant auf sichere Quotenbringer und den Arthaus-Mainstream gesetzt. Ja, sie haben diesen Begriff sogar erfunden, indem sie mit schöner Regelmäßigkeit die immer gleichen Regisseure in ihren Wettbewerb eingeladen haben und dabei auf innovative, frische Zugänge weitestgehend verzichteten. Die finden in der zeitgleich stattfindenden, aber vom Festival völlig entkoppelten Reihe „Quinzain des réalisateurs“ statt, in der auch Leute wie Haneke ihre ersten Cannes-Sporen verdienten. Irgendwann, wenn sie genug künstlerische Ausdauer bewiesen hatten, übernahm man sie in den Wettbewerb. Aber muss man Jacob und Frémaux das zum Vorwurf machen? Nein. Sie verteidigen nur den Mythos ihrer Institution.  
Am Programm der heute Abend beginnenden 66. Ausgabe des weltgrößten und berühmtesten Festivals ist das wieder überdeutlich abzulesen: Niemand hier ist wirklich ein Cannes-Neuling im Bewerb um die Goldene Palme, und auch außerhalb des Wettbewerbs bemüht sich Cannes um die größtmögliche Glamour-Show: Der Eröffnungsfilm kommt vom australischen Bombast-Könner Baz Luhrmann, der hier schon 2001 mit „Moulin Rouge“ die Sinne taumeln ließ: „Der große Gatsby“ heißt sein neues Werk, mit Leonardo DiCaprio, in 3D und mit jeder Menge Spektakel: Ein Bilderreigen nach dem Roman von F. Scott Fitzgerald, der schon diese Woche in unseren Kinos anläuft und seine Premiere bereits vergangene Woche in New York hatte. Bei allen Sicherheitsgedanken, die Cannes bei Eröffnungsfilmen traditionell hegt (große Stars bedeuten flächendeckende Berichterstattung in den Medien)  ist das immerhin eine Art Novum: Bisher war es für Jacob und Frémaux nämlich unabdingbar, dass Filme, die in Cannes gezeigt werden, Weltpremieren zu sein hatten; doch für das Kommen von DiCaprio und Co. machte man diesmal eine Ausnahme – und geht somit auch in die Knie vor den US-Studios, die sich dem Diktat der rigorosen Cannes-Regeln offenbar nicht mehr unterwerfen wollen: Es ist ein Wechselspiel der Kräfte. Cannes braucht Hollywood, und Hollywood braucht Cannes. Nur dass es derzeit so aussieht, als hätte Cannes da etwas Boden verloren. Es ist wie in Beziehungen: einer liebt immer mehr – und ist am Ende der Verlierer.
 
Die Selbstverständlichkeit, mit der Cannes sein Programm füllt, läuft dem festivaleigenen Statut, neue Wege in der Filmkunst zu fördern, zuwider. Auch, wenn der „Cannes Regular“ Lars von Trier mit seinem Werk „Nymphomaniac“ überraschenderweise fehlt, weil er angeblich nicht rechtzeitig fertig wurde (böse Zungen behaupten, von Trier sei nach seinem Nazi-Sager 2010 noch immer „persona non grata“ in Cannes), stammen die meisten Filme von den üblichen Verdächtigen: Allein aus Frankreich sind acht Filme im Bewerb, darunter die neuen Arbeiten von Francois Ozon, Abdellatif Kechiche und Valeria Bruni-Tedeschi. Wieder mal an der Croisette sind die Coen-Brüder, Steven Soderbergh, James Gray, Roman Polanski oder Jim Jarmusch. Mag sein, dass unter ihren Arbeiten einige neue Meisterwerke alter Meister zu finden sein werden, jedoch stellt sich erneut heraus, was bereits im Vorjahr eines der drängendsten Probleme des Festivals war: Es ist – wie auch bei den Oscars – in Wahrheit eine Altherrenveranstaltung, die sich zum gemeinsamen Feiern ausgetretener Pfade versammelt. Vielleicht gilt das für Cannes im Speziellen und für das Filmschaffen im Allgemeinen: Im sich selbst perpetuierenden System der Dominanzen in einer hierarchisch wenig demokratischen Branche kann die Innovation nur störend wirken; denn sie stellt die Institution in Frage. Der Kunstbetrieb in Cannes deckt diese Tatsachen gerne mit viel Pomp und Glamour zu, damit man vor lauter Funkeln nicht mehr sieht, dass darunter leise fließt, was eigentlich brodeln sollte.
Matthias Greuling, Cannes


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