In Frankreich gibt es seit Wochen hitzige Debatten. In Paris gehen Hunderttausende auf die Straßen. In jedem Bus und in jeder U-Bahn, beim Bäcker, in der Kirche und natürlich im Café diskutieren die Menschen derzeit nur ein Thema: Die Homo-Ehe, vom Kabinett Hollande beschlossen, sie darf und kann so nicht kommen. Sagen die einen. Oder eben: Die Homo-Ehe, sie MUSS kommen dürfen. Sagen die anderen.
Kechiche mit seinen beiden Darstellerinnen. Foto: Alexander Tuma |
Was das mit dem Filmfestival von Cannes zu tun hat, wenn im Staate der „Egalité“ die Wogen hochgehen? Bei den 66. Filmfestspielen wurde soeben der Film „La vie d’Adèle“ von Abdellatif Kechiche mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Es geht darin um die Liebe zwischen zwei Frauen, mit Sexszenen, die man lange nicht so explizit gesehen hat. Kein flammendes Plädoyer für die gleichgeschlechtliche Liebe, sondern eine ungemein sinnliche Filmerfahrung.
Die Goldene Palme, erstmals also eine politisch motivierte Auszeichnung, wie das die Berlinale so gern tut? Bei genauerer Betrachtung hält dieses Urteil nicht stand.
Steven Spielberg, dem Jury-Präsidenten, hatte man eigentlich nicht zugetraut, dass er diese Palme verleihen würde. Spielberg gilt als Konservativer, was sich in seinen durchwegs prüden Filmen widerspiegelt. Doch bei der Preisverleihung am Sonntag stieg ihm keinerlei Schamesröte ins Gesicht.
„La vie d’Adèle“ folgt der 18-jährigen Adele (Adèle Exarchopoulos), für die es eigentlich klar ist, dass Mädchen mit Burschen ausgehen – bis sie die extrovertierte Emma (Léa Seydoux) kennen lernt, die ihr beibringt, die eigenen Bedürfnisse zu erforschen. „Es ist die Geschichte einer absoluten Liebe zwischen zwei Frauen“, sagt Kechiche.
Wer frühere Arbeiten von Kechiche kennt, etwa „Couscous mit Fisch“ oder den wunderbaren „L’esquive“, der weiß, mit welcher Unmittelbarkeit sich der Filmemacher auf seine Themen stürzt. Er rückt seinen Protagonisten stets nah zu Leibe, um auch wirklich keine Regung in deren Gesichtern zu verpassen. Kechiche erzählt über diese kleinen Details ganz große Geschichten. Die drei Stunden von „La vie d’Adèle“ vergehen wie im Flug; es ist einer dieser Filme, bei denen man möchte, dass sie niemals aufhören.
Das sexuelle Erwachen ist wieder ein großes Thema im Kino, besonders in Frankreich, wo das Lolita-Tum wie nirgends sonst traditionell ganz ohne Scham zelebriert wird. Auch François Ozon hat im Wettbewerb einen Film gezeigt, der sich damit befasst: In „Jeune & Jolie“ folgt er einer 17-Jährigen (Marine Vacth), die sich freiwillig prostituiert, um sexuelle Erfahrungen zu sammeln. Der Film erregte keine Empörung, wohl aber Ozons Aussage, dass „viele Frauen darüber phantasieren, sich zu prostituieren. Begehrt und benutzt zu werden ist in der Sexualität nichts Neues. Es gibt eine Art von Passivität, nach der Frauen suchen“. Diese Aussagen zogen einen regelrechten Shitstorm in der französischen Presse nach sich. Ozon entschuldigte sich, er sei wohl missverstanden worden.
In Cannes steht dennoch die Filmkunst über dem Politikum, das zeigten die weiteren Preise. Der zweite Film, der sich mit Homosexualität befasste, Steven Soderberghs „Behind the Candelabra“ über den schwulen Las-Vegas-Star Liberace (Michael Douglas) und seinen Lover (Matt Damon), erwies sich als grandios gespieltes, sonst aber recht konventionelles TV-Movie, und blieb ohne Preis. Also keine Tendenz zu einem Polit-Plädoyer.
Der große Preis des Festivals ging an die Brüder Joel und Ethan Coen für „Inside Llewyn Davis“, eine stimmige und launige Auseinandersetzung mit der Folk-Musikszene im New York der 60er Jahre. Als besten Darsteller kürte man den 76-jährige Bruce Dern (Vater von Laura Dern), der in Alexander Paynes Schwarzweiß-Drama „Nebraska“ die Rolle eines zerstreuten Vaters spielt. Als beste Schauspielerin wurde Bérénice Bejo für Asghar Farhadis Ehedrama „Le passé“ ausgezeichnet, bester Regisseur wurde der Mexianer Amat Escalante für seinen Film „Heli“. Der Preis der Jury ging nach Japan an Kore-Eda Hirokazu für „Like Father, Like Son“. Jia Zhangke wurde zurecht mit dem Preis für das beste Drehbuch zu „A Touch of Sin“ ausgezeichnet, ein Film, der die wachsende Gewaltbereitschaft im modernen China nicht beim Regime, sondern bei den Menschen selbst verortet.
Spielberg und seine Jury (der auch Christoph Waltz angehörte) haben sich auf die Filmkunst konzentriert, und es ist bloß Zufall, dass der beste Film dieses sonst durchschnittlichen Wettbewerbs zufällig mit dem Thema Homo-Ehe korreliert. Am Ende bleibt Cannes nämlich das, was es immer war: Ein Festival, das den Film feiert, ein Glamour-Schaulauf, der mit Politik und gesellschaftlichen Tendenzen wenig zu tun haben will. Anders gesagt: In Cannes wird gerne das gefeiert, wogegen man in Paris auf die Straße geht.
Dieser Beitrag ist auch in "Die Furche" erschienen.