Es gibt kaum ein Filmfestival, das derart eingedenk mit der eigenen Geschichte ist, wie jenes von Venedig. Das mag daran liegen, dass die 72. Filmfestspiele von Venedig, die heute, Mittwoch, eröffnet werden, schon per se die Patina im Namen tragen, ganz einfach deshalb, weil es sich hier um die ältesten Filmfestspiele der Welt handelt. Die Italiener waren die ersten, und das hatte einen Grund: Mussolini. Die Mostra del Cinema von Venedig wurde, je näher der Krieg rückte, zunehmend von deutschen und italienischen Preisträgern dominiert, um die faschistische Einheit der beiden Länder auch am Filmsektor zu unterstreichen. 1939 standen alle Zeichen auf Sieg für den französischen Film „La Grande Illusion“ von Jean Renoir. Doch der Goldene Löwe (der damals noch Coppa Mussolini hieß) ging in diesem Jahr an Leni Riefenstahls „Olympia“ und den italienischen Film „Luciano Serra, Pilota“, der von Mussolinis Sohn gemacht wurde. Indirekt führte dies zur Gründung des Festivals von Cannes, weil man diesem propagandistischen Treiben nicht länger tatenlos zusehen wollte.
Diese längst vergangenen Zeiten sind nicht allgegenwärtig am Lido, aber der Charme des alten Kinos, des italienischen Neorealismus, aber auch des felliniesken Firlefanz voller fantastischer Filme, all das ist hier noch immer spürbar. Auch, weil man in Venedig nach jahrelangem Tauziehen und Dutzenden in den Sand gesetzten Steuermillionen den ehrgeizigen Plan aufgegeben hat, hier doch noch einen modernen Kinokomplex, einen neuen „Palazzo del cinema“, zu bauen; das Prestigeprojekt wurde ersatzlos gestrichen, stattdessen wurde in ein bisschen Fassadenkosmetik für die von Mussolini erbauten, bestehenden Gebäude investiert. Alles hier ist „typisch italienisch“ gelaufen, sagen die Zyniker, und doch: Am Ende haben Venedig, die Stadt, und die Biennale, das Festival, eingesehen, worin ihr Alleinstellungsmerkmal liegt: In der Bewahrung der Tradition und in der Weitergabe der Begeisterung dafür. Nicht umsonst feiert man hier am 5. September den 40. Jahrestag der Oscarverleihung, bei der Fellinis progressives Meisterstück „Amarcord“ ausgezeichnet wurde. Zu diesem Anlass wird der Film frisch renoviert aufgeführt, die Farben erstrahlen in altem Glanz. Das Festival liebt solche Anlässe.
So sehr dieses Festival aber seine Tradition hochhält, so sehr ist es zugleich um Relevanz im internationalen Festivalzirkus bemüht. Mit Festivalchef Alberto Barbera ist dies weit weniger glamourös geglückt, als etwa unter seinem Vorgänger Marco Müller, jedoch hat der Kinopragmatiker Barbera das Festival mit sicherer und vor allem ruhiger Hand durch den Wellengang italienischer (Provinz-)Politik gesteuert. Es scheint, als hätten hier heute tatsächlich wieder die Programmierer das Wort, viel weniger die US-Studiobosse (die mittlerweile lieber nach Toronto gehen) und seit Ende der Ära Berlusconi noch weniger die (nationale) Politik.
Das gibt Barbera den Freiraum, seinen Wettbewerb unabhängig zu gestalten und vermehrt gesellschaftskritische Wagnisse einzugehen, die man vor seiner Zeit vielleicht eher in Berlin gesehen hätte. So bringt er heuer eine dichte Auseinandersetzung mit dem Holocaust an den Lido: Der armenisch-kanadische Filmemacher Atom Egoyan zeigt in „Remember“ einen Auschwitz-Überlebenden, der auf Rache an einem SS-Mann sinnt. Der Russe Alexandr Sokurov, der hier mit seiner „Faust“-Adaption 2012 den Goldenen Löwen holte, kommt dieses Jahr mit „Francofonia“ hierher zurück, einem Museums-Porträt des Louvre unter NS-Besatzung.
Politisch engagiertes Kino findet man auch bei Amos Gitai, der in „Rabin, the Last Day“ den letzten Tag im Leben des israelischen Premiers nachzeichnet, an dem er 1995 ermordet wurde. Cary Fukunagas „Beasts of No Nation“ handelt von Kindersoldaten im Westen Afrikas. Die Doku „Heart of a Dog“ der Amerikanerin Laurie Anderson forscht am Alltagsleben in New York nach 9/11. „Frenzy“ von Emin Alper berichtet von Polit-Unruhen in der Türkei.
Von Toleranz erzählt „The Danish Girl“ von Tom Hooper, der Eddie Redmayne in der Rolle einer Transgender-Pionierin zeigt. Und ganz passend für die katholischen Kräfte im Land erblickt die erste Filmproduktion aus dem Vatikan das Licht der Leinwand: „L’esecito più piccolo del mondo“ porträtiert die päpstliche Schweizergarde.
Da wirken Filme wie „A Bigger Splash“, das Remake von „La piscine“ („Der Swimmingpool“ mit Romy Schneider und Alain Delon von 1969) fast schon deplatziert, bei so viel politischem Filmaktivismus. Doch halt: Es passt natürlich, nämlich zum traditionsbewussten Teil des Festival. Im besten Falle sehen wir eine gelungene Neuinterpretation, im schlimmsten Fall ärgern wir uns über Dakota Johnson in der Rolle der verführerischen 18-jährigen, die im Original von Jane Birkin gespielt wurde. Wie auch immer: Nostalgie ist immer Trumpf in Venedig. Weshalb auch der einzig österreichische Beitrag in diesem Jahr seine Berechtigung hat: „Helmut Berger, Actor“ des Salzburgers Andreas Horvath porträtiert den Weltstar aus Österreich - und fokussiert wohl weniger auf dessen Zeit im Dschungelcamp als vielmehr auf die Glanzjahre bei Visconti und Co. Das ist es, was hier zählt: Alter Glanz, noch einmal kräftig aufpoliert.
Matthias Greuling
Dieser Beitrag ist auch in der Wiener Zeitung erschienen.
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