Die Lage war selten so vieldeutig: Die 72. Filmfestspiele von Venedig, die am Samstag mit der Preisverleihung zu Ende gehen, haben keinen richtigen Favoriten hervorgebracht, aber auch keine wirkliche Enttäuschung. Insgesamt ein solider Wettbewerb, dem die Spitzen fehlten, und die Jury um Alfonso Cuaron muss daraus nun ein Destillat filtrieren, das der Würde der Preise gerecht wird.
"Rabin, the Last Day" von Amos Gitai (Foto: La Biennale di Venezia) |
Am ehesten hätte der Russe Alexander Sokurov für seine schlaue, vielschichtige Museums-Doku über den Pariser Louvre zur Zeit der NS-Besetzung von Paris einen Goldenen Löwen verdient (er gewann hier bereits 2012 für seinen „Faust“). Sokurov verdichtet darin Historie aus einer völlig neuen Sicht: Für 90 Minuten wird die Geschichte ausnahmsweise einmal nicht von den Siegern geschrieben - und Sokurov findet dafür auch visuell eine beeindruckende Form.
Nicht weniger beeindruckend ist Laurie Andersons stimmiger, beinahe meditativer Filmessay „Heart of a Dog“, in dem die Witwe von Lou Reed anhand ihres Hundes die Befindlichkeit sowohl ihres Mannes als auch des traumatisierten Post-9/11-New Yorks auslotet. Es ist eine famos komponierte Bilderflut über ein langsames Absterben von Leben und Hoffnung.
Auch mit 9/11 zu tun hat Jerzy Skolimowskis „11 minut“, der in mehreren, jeweils elf Minuten langen Episoden von einer unheilvollen Zukunft berichtet; hier liegt eine kommende Katastrophe in der Luft, und der Film ist so rasant und modern gemacht, dass man sich gar nicht vorstellen kann, dass der Regisseur schon auf die 80 zugeht.
Damit ist die Auswahl, die Jurypräsident Cuaron zur Verfügung steht, aber noch nicht erschöpft: Charlie Kaufman und Duke Johnson verfilmten mit dem beeindruckenden „Anomalisa“ eines von Kaufmans Stücken als Stop-Motion-Film, Italiens Regie-Legende Marco Bellocchio zeigte mit „Sangue del mio sangue“ eine wirre Altersarbeit (aber das italienische Kino gewinnt in Venedig traditionell zumindest einen Preis) und die Filme des Argentiniers Pablo Trapero („El Clan“), des Südafrikaners Oliver Hermanus („The Endless River“) und des Türken Emin Alper („Abluka“) erwiesen sich als äußerst spröde, minimalistisch inszenierte Geschichten. Ganz anders „The Danish Girl“ von Tom Hooper, gelacktes Hochglanzkino mit viel Emotion, in dem Eddie Redmayne preisverdächtig die erste transsexuelle Frau der Welt spielt. Doch dieses Kino passt mehr nach Hollywood als an den Lido.
Einer, mit dem man dieses Jahr auch rechnen muss, wiewohl sein Kino stilistisch nicht jedermanns Sache ist: Der israelische Regisseur Amos Gitai hat in „Rabin: The Last Day“ minutiös die Umstände rekonstruiert, die 1995 zur Ermordung des israelischen Premiers geführt hatten. Gitai greift darin die israelische Rechte frontal an und montiert aus Archivmaterial und nachgestellten, dokumentarischen Szenen einen tiefgehenden Blick in die dunkle Seele Israels, von der man bis Rabins Tod gar nicht wußte, dass sie existiert. Gitai fürchtet inzwischen um sein Leben. „Ich hoffe, dass es mir nicht so geht wie Rabin“, sagt Gitai. „Ich werde einfach besser aufpassen als er“.
Gewiss ist: Politisch motiviertes Draufgängertum hat Jurys bei Festivals schon oft beeindruckt.
Matthias Greuling, Venedig
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