Samstag, 17. Februar 2018

Wes Anderson und die Hunde

Des Menschen liebste Vierbeiner stehen im Zentrum von Wes Andersons neuem Animationsfilm, der am Donnerstag die 68. Berlinale eröffnet hat - übrigens der erste Animationsfilm, dem eine solche Ehre zuteil wurde. Die Berlinale gibt sich dieser Tage leichtfüßig und beschwingt wie lange nicht, am roten Teppich scherzten Stars wie Bill Murray, Jeff Goldblum, Tilda Swinton oder Greta Gerwig um die Wette, und das trotz eisiger Minusgrade. Mittendrin Dieter Kosslick, der bei seiner vorletzten Berlinale (er wird 2019 abtreten) entspannter denn je wirkt, und das trotz des eisigen Gegenwindes der Filmbranche, die kürzlich einen Neustart der Berlinale forderte, um dem erstarrten Kosslick-System zu entkommen.
Wes Anderson (Foto: Katharina Sartena)

Aber davon wird nicht mehr gesprochen, zumindest nicht öffentlich, denn jetzt ist erst einmal Filmzeit in Berlin, da dreht sich alles nur um die laufenden Bilder und darum, das Kino zu feiern. „Das Kino ist ein Fest“, gibt Regisseur Tom Tykwer die Devise aus, der heuer den Jury-Vorsitz in Berlin innehat. Und genau so will er seine Jurytätigkeit auch verstanden wissen: Als eine Feier für das Kino, das Geschichtenerzählen auf der großen Leinwand. 
Greta Gerwig mit Tilda Swinton (Foto: Katharina Sartena)

Wes Anderson liefert dazu scheinbar den perfekten Eröffnungsfilm, eine spaßige Turbulenz, in der, nun ja, auch viel Ernst steckt: Weil die Hunde im Japan der Zukunft ihre Herrchen mit gefährlichen Grippeviren verseuchen, beschließt die Regierung, sie allesamt auf eine abgelegene Insel, die als Mülldeponie genutzt wird, zu verbannen. Das lassen sich die Köter natürlich auch nicht so ohne weiteres gefallen, und versuchen den Ausbruch.
Jeff Goldblum (Foto: Katharina Sartena)

Andersons japanische Hunde-Fabel ist amüsant, manchmal auch albern, immer aber mit dem ernsten Unterton durchsetzt, dass wir uns gefälligst überlegen sollten, wie wir miteinander umgehen und als was wir uns eigentlich sehen. Moralische Einsichten, die allerdings so harmlos daherkommen, dass es schon fast ein Kinderfilm sein könnte. Seinen schrägen Humor hat sich Anderson beibehalten, daneben zollt er auch seiner Liebe zum japanischen Kino Tribut und zitiert munter von Kurosawa bis Hayao Miyazaki.
Insgesamt ein launiger Eröffnungsfilm einer Filmschau, die ins Kreuzfeuer geraten ist, weil es hier schon seit Jahren den Trend zur Provinzialisierung gibt - und man inzwischen den Anschluss an die großen Konkurrenten wie Cannes und Venedig verloren hat. Die zeigen nämlich in jüngster Vergangenheit die prestigeträchtigeren Filme.
Bryan Cranston, Bill Murray und Tilda Swinton (Foto: Katharina Sartena)


Der Partylaune tat dies am Eröffnungsabend keinen Abbruch: Bei all den Ehrengästen und Hunderten Fans vor dem Berlinale-Palast hatte man keineswegs den Eindruck, die Berlinale wäre bereits „auf den Hund gekommen“.

Matthias Greuling, Berlin

Österreichische Filme bei der Berlinale 2018

Die Berlinale ist eröffnet, zeigte zum Auftakt mit „Isle of Dogs“ Wes Andersons neuesten Animationsfilm und brachte Stars wie Tilda Swinton, Bill Murray oder Jeff Goldblum nach Berlin. Sie alle leihen den animierten Hunden in „Isle of Dogs“ ihre Stimmen. Der Film erzählt in typischer Anderson-Manier schräg und skurril von einer japanischen Stadt, in der alle Hunde auf die Müllhalde verbannt werden, was diese natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Wes Andersons Fans kommen auf ihre Kosten, all jene, die Probleme mit seinem Universum haben, haben diese wohl weiterhin. Anderson entwirft ein spaßiges Kindermärchen, aber ein zutiefst politisches, das auch von unser aller Zusammenleben handelt und zeitgemäße Fragen aufwirft.
"Waldheims Walzer" von Ruth Beckermann (Foto: Ruth Beckermann Filmproduktion)

Nicht weniger zeitgemäß, dafür gar nicht spaßig, ist Ruth Beckermanns neuer Film, der einen Reigen österreichischer Beiträge bei der Berlinale eröffnet. Es ist eine Politaffäre ungemeinen Ausmaßes gewesen, der das politische Österreich nachhaltig verändert hatte. Die Kandidatur von Kurt Waldheim für das Bundespräsidentenamt im Jahr 1986 und die Frage nach seiner Verantwortung als ehemaliges Mitglied der SA ging als Politbeben in die Geschichte ein. Die Wiener Filmemacherin Ruth Beckermann hat in ihrer Doku „Waldheims Walzer“ nun analysiert, wie die Prozedur ins Rollen kam; Beckermann verwendet ausschließlich Videomaterial aus dem ersten Halbjahr 1986, zumeist aus ORF-Archiven, manches auch mit eigener Hand gedreht, um die mediale Dynamik des Falls Waldheim aufzuschlüsseln. Der Film hat heute, Samstag, bei der Berlinale in der Nebenreihe Forum seine Weltpremiere, eine Sektion, die dem innovativen, unkonventionellen Kino gewidmet ist. Beckermanns Film kommt zu einer Zeit, in der man in der internationalen Politik von „alternativen Fakten“ spricht und die Presse als „Lügenpresse“ verunglimpft wird. Das macht „Waldheims Walzer“ ungemein und ungeheuerlich zeitgemäß. „Ich stelle von Beginn an klar, dass es sich um einen Film aus der Position einer Aktivistin von damals handelt“, schildert Beckermann ihre Beweggründe. „Ich denke, es ist eine Funktion des Kinos, Stellung zu beziehen und transparent zu machen, aus welcher Perspektive man die Dinge betrachtet. Im Gegensatz zum Fernsehen, das die Dinge nivelliert oder zu den sozialen Medien, die in der eigenen Blase agieren. Es macht die Kraft des Kinos aus, widerständig zu sein und gleichzeitig klarzustellen, aus welcher Richtung die Autorin dieses Material aufbereitet“.
Ebenfalls im Forum läuft Ludwig Wüsts experimentelles Drama „Aufbruch“, in der der Regisseur selbst an der Seite von Claudia Martini zu sehen ist; beide spielen ein getrenntes Paar, das sich erneut begegnet. Mit „L’animale“ von Katharina Mückstein ist eine Jugendstudie in der Sektion „Panorama“ zu sehen, in der die Regisseurin Burschen und Mädchen beim Erwachsenwerden beobachtet. Auch einige Koproduktionen sind in Berlin zu sehen: In „The Interpreter“ (Regie: Martin Sulik), der gemeinsam mit der Slowakei entstand, geht ein alter Mann (Jirí Menzel) auf die Suche nach dem einstigen SS-Hinrichter seiner Eltern, findet aber nur dessen 70-jährigen Sohn (Peter Simonischek), der mit Alkoholproblemen zu kämpfen hat. „Styx“ von Wolfgang Fischer, eine Koproduktion mit Deutschland, zeigt Susanne Wolff als toughe 40erin, die sich auf einem Segelturn im Meer finden will, dafür aber nach einem Sturm mitten in die Wirren eines kenternden Bootes mit 100 Ertrinkenden gerät, und entscheiden muss, welche Verhaltensweise nun die richtige ist.

Mit Spannung erwartet wird vor allem von der deutschen Presse die französisch-deutsch-österreichische Produktion „3 Tage in Quiberon“ (Regie: Emily Atef), die von einer Begegnung zweier Journalisten mit Romy Schneider erzählt, als diese Anfang 1981 zur Reha im französischen Kurort Quiberon eingecheckt hatte. Interview und Fotos zeichnen das Bild einer lebensfrohen, aber kaputten Legende, und in der schwarzweißen Verfilmung dieser Begegnung schlüpft Marie Bäumer in die Rolle der Schneider - mit optisch verblüffender Ähnlichkeit zum Original. Ob sie auch inhaltlich authentisch ist, wird sich zeigen: Premiere ist am Montag im Wettbewerb um den Goldenen Bären. 

Matthias Greuling, Berlin

Berlinale 2018: Is’ doch prima!

Dieter Kosslick ist beleidigt. Er will in seiner Funktion als Berlinale-Chef „nicht mehr so viele Witze reißen, denn die Spaßbremsen mögen das ja nicht“, ätzte er bei der Programmvorstellung der diesjährigen Berlinale, die heute, Donnerstag, eröffnet wird. Die „Spaßbremsen“, das ist eine Vielzahl von Leuten. Da sind einmal die 79 Regisseurinnen und Regisseure, die im November in einem offenen Brief an die deutsche Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) appelierten, bei der Neuausschreibung des Berlinale-Chefpostens, der 2019 vakant wird, Transparenz walten zu lassen. Das sind außerdem diejenigen, die fordern, dass Kosslick, nach 17 Jahren im Amt, lieber gar keine Berlinale-Tätigkeit mehr ausüben soll, auch nicht die eines neu zu schaffenden „Präsidenten“. Und dann sind da noch die Leute in den eigenen Reihen, die Kosslick mit seinem charmant-untergriffigen Humor sogar der Belästigung bezichtig haben. 
Cecile de France mit Dieter Kosslick (Foto: Katharina Sartena)

Mit einem Wort: Kosslick steht im Eck, und er ist verbittert darüber. Zumal bei den Unterzeichnern des Briefes auch von Kosslick lange geförderte Filmemacher wie Fatih Akin („Aus dem Nichts“), Christian Petzold („Barbara“) und Maren Ade („Toni Erdmann“) dabei waren.
Ende Mai feiert Kosslick seinen 70. Geburtstag, und wäre somit ohnehin schon lange pensionsreif. Aber die Vertragsgestaltung und das Hängen am Job eines Kulturmanagers, der gerne und sehr medienwirksam die George Clooneys, Richard Geres, Meryl Streeps und Jane Fondas über den roten Teppich lobt, sind halt dann doch gute Argumente zum Bleiben gewesen. 
Das hatte aber auch zur Folge, dass die Berlinale ein wenig erstarrt ist in ihren Traditionen, denn wirkliche Innovationen in der Programmierung, mit neuen Filmreihen und ungewöhnlichen Zugängen, sucht man vergebens. Kosslicks Lieblings-Erfindung, die Filmreihe „kulinarisches Kino“, kann wohl kaum als ernster Beitrag zur Reflexion des Weltkinos verstanden werden, eher zum in Berlin zwischen Döner und Currywurst dringend notwendigen Umdenken in der Frage, was gut schmeckt und was nicht.
Kosslick übt sich trotz aller Kritik an seiner Person einstweilen in Zurückhaltung; er spricht lieber davon, wie wichtig das Kino ist, um sich selbst besser kennen zu lernen, anstatt auf die Vorwürfe seiner Gegner einzugehen. Auch das ist, aus seiner Sicht, eine berechtigte Reaktion: Schließlich war es Kosslick, der die Berlinale ab 2001 zu einem Festival mit klarer Ausrichtung gemacht hat: Hier zählt das politische, aufrührerische Kino, hier gewinnen Filme aus dem Iran, aus Ungarn oder aus der Türkei den Goldenen Bären, ganz einfach, weil Kosslick es für relevant hält, in die Nischen zu blicken und dort nach Juwelen zu suchen. Das ist immer seine große Qualität gewesen, und auch: Darüber nicht zu vergessen, dass die Besucher seiner Filmschau vor allem die großen Stars aus nächster Nähe sehen wollen. Durch seine Beziehungen konnte er sämtliche Weltstars nach Berlin holen, aber die Ausbeute wird immer schwächer: Heuer sind an großen Namen, die einer wirklich breiten Masse bekannt sind, nur wenige in der Stadt: Robert Pattinson kommt, ebenso Mia Wasikowska, dann Rupert Everett, Joaquin Phoenix, Peter Simonischek und Musiker Ed Sheeran, der der Premiere einer Musik-Doku über ihn beiwohnen will. Man sieht: Name Dropping fällt zusehends schwer, noch vor zehn Jahren wäre die Liste vier Mal so lang gewesen. 
Doch der Schwund an Stars  - und auch an erstklassigen Filmen - hat gar nicht so sehr mit der Berlinale (und schon gar nicht mit Kosslick) zu tun, sondern liegt auch an den drastischen Veränderungen in der Filmbranche: Die Streamingdienste Netflix und Amazon übernehmen rasend schnell die Funktion, die früher (Independent-)Studios innehatten, mit dem Unterschied, dass sie ihre Filme nach den Festival-Premieren gleich als Stream anbieten wollen, ohne Umweg über das Kino. Die Festivals sind zwar froh, dass Altmeister wie Woody Allen oder Jim Jarmusch mit Hilfe dieser Dienste weiterhin ihre Filme drehen können, aber es ist ein zweischneidiges Schwert: Filmfestivals, die das Kino zelebrieren - und die Berlinale gehört neben Cannes und Venedig dazu - tun nicht gut daran, diesen magischen Kinomythos gegen das Streamen von Filmen am Handy oder Tablet auszuspielen - das wäre gegen ihre Natur. Auch deshalb herrscht seit zwei, drei Jahren eine auffallende Flaute im Arthaus- und Kunstkino, weil die Festivals und die Streaminganbieter noch nicht den rechten Dialog zueinander gefunden haben dürften. 
Leidtragende ist im konkreten Fall die Berlinale, die zwischen den noch immer prestigeträchtigeren und zu wärmeren Jahreszeiten veranstalteten Festivals von Cannes und Venedig aufgerieben zu werden droht. Das Damoklesschwert, das über ihr schwebt, heißt: Provinzfestival.

Und doch darf man sich bei der 68. Ausgabe der Berlinale in diesem Jahr auf fein anmutendes Kino freuen: Etwa auf Wes Andersons Eröffnungsfilm, „Isle of Dogs“, einen Animationsfilm, in dem ein Hund eine zentrale Rolle spielt. Oder auf „3 Tage in Quiberon“ mit Marie Bäumer als Romy Schneider. Oder auf Cédric Kahns Drogendrama „La prière“ und Gus van Sants „Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot“. Kosslick würde sagen: Ist doch prima. Und ja, ist es. 

Matthias Greuling

Freitag, 9. September 2016

Natalie Portman: „Die gefährlichste Rolle meines Lebens“

Portman war beim Filmfestival Venedig in „Jackie“ als Jackie Kennedy zu sehen - in den Tagen nach der Ermordung ihres Mannes.

Von Matthias Greuling, Venedig

Ihre Tränen versteckt sie gut: Wenn Jackie Kennedy einem US-Journalisten nur wenige Tage nach der Ermordung ihres Mannes ein großes Interview gibt, dann mimt sie Gefasstheit, die sie aber nicht hat. Sie bemüht sich nach Kräften, nicht zynisch zu sein, auch, wenn ihr das nicht gelingt. „Sie wollen doch sicher wissen, wie das Geräusch war, als die Kugel in seinen Kopf einschlug“, fragt sie den Journalisten. Später im Film wird er diese Frage tatsächlich stellen.
Natalie Portman (Foto: Katharina Sartena)
„Jackie“, das US-Debüt des Chilenen Pablo Larrain, ist ein Film über Trauer, noch mehr aber über Verlust und vielleicht am meisten über das Versteckspiel, das Kokettieren mit den Medien, das der Politik immanent ist; Wenn Jackie Kennedy sich ein Stück weit öffnet im Interview, wenn sie Details preisgibt, die ihre wahren Gefühle beschreiben, kehrt sie am Ende ganz rasch wieder in den Modus Teflon-Pfanne zurück: „Glauben Sie ja nicht, dass sie das schreiben dürfen“. Sie zieht nervös an ihrer Zigarette. „Und ich rauche natürlich nicht“. 
„Jackie“ ist eine sehr aufsichtige, geradezu frontale Untersuchung der vier Folgetage nach JFKs Ermordung in Dallas am 22. November 1963 - aber nicht um die Fakten geht es hier, sondern um die Befindlichkeit der First Lady, um das Leid für ihre Kinder, um den Ehemann, der nicht immer treu war, um ihre Wehmut beim Verlassen des Weißen Hauses und auch darum, wie rasch man sozusagen „aus dem Amt scheidet“, ein Amt, dass man auch mit Leidenschaft für das Land und für den Ehemann gestaltet hat. Jackie Kennedy hat sich der Etikette verweigert, hat das blutgetränkte Kleid, das sie im Wagen neben ihrem toten Ehemann getragen hatte, anbehalten, bis beide daheim in Washington gelandet sind, denn die Menschen da draußen sollten „sehen, was sie angerichtet haben“, sagt Jackie im Film.
Larrains Film ist kein Bio-Pic, sondern mehr als das: In seinem kurzen Darstellungsausschnitt von nur vier Tagen sagt er mehr über den Politbetrieb aus als viele andere, vergleichbare Polit-Filme. Der Mythos Kennedy wird dadurch aber keineswegs abgeschwächt, denn Larrain arbeitet sehr klug daran, sein Publikum nur nicht zu viel über die komplexen Innenwelten des Politbetriebes wissen zu lassen. Es geht auch darum, die Trauer einer Frau zu zeigen, der von einer Sekunde zur anderen der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Insofern ist „Jackie“ ein Film über Privates, Persönliches. Und hier entsteht der Widerspruch: Politik in dieser Größenordnung kann niemals privat bleiben. Die Kennedys markierten den Anfang des Medienzeitalters im Politikbetrieb. Sie mussten auch mit all seinen Konsequenzen leben.

In Venedig gab es bei der Premiere etliche „Bravo“-Rufe für Portman, die danach davon sprach, dass „sich diese Rolle wie meine bisher gefährlichste anfühlte“. Portman meinte: „Jeder hat sein eigenen Bild von Jackie Kennedy im Kopf - und man kann meine Darstellung mögen oder nicht. Ich war nie eine gute Imitatorin“, so Portman. Dennoch klappt ihre angestrengte Interpretation erstaunlich gut. Ein Umstand, der sie auch für den Preis als beste Darstellerin beim Filmfestival von Venedig qualifiziert. Und vermutlich auch beim Oscar-Rennen 2017.

Auch in der WZ erschienen

Endspurt in Venedig: Wer die besten Chancen hat

Das Filmfestival in Venedig kürt am Samstag seine Preisträger. Favoriten gibt es viele, aber das lässt eine Jury meist kalt.

Von Matthias Greuling

Es gibt bei Filmfestivals von der Größenordnung wie Cannes, Berlin oder Venedig einen beliebten Indikator, wer am Ende die begehrten Preise holen könnte. In den täglichen Festivalmagazinen veröffentlichen Kritiker aus aller Herren Länder ihre Sternewertung für die einzelnen Wettbewerbstitel, und daraus wird das Mittel errechnet, damit man die so genannten Favoriten auf einen Blick erkennen kann. 
"Jackie" (Foto: La Biennale di Venezia)
Das hat natürlich nur begrenzte Aussagekraft, denn die Einzelmeinungen des „Corriere della sera“, von „Variety“ oder der „Süddeutschen“ mögen jede für sich Gewicht haben, über den Kamm scheren lässt sich aber nichts. Kritiker, so sollte es zumindest sein, sind genau solche Individuen wie die Mitglieder einer bunt zusammengewürftelten Festival-Jury, nur meistens abgebrühter, kritischer, oder zumindest weniger leicht zu verführen. Weshalb es bei diesen Wertungen meistens am Ende die völlig falschen Erwartungen gibt. Beim 73. Filmfestival von Venedig, das heute, Samstag, mit der Preisverleihung endet, stehen etliche Filme hoch in Kritikergunst, die erfahrungsgemäß eher wenig Preischancen haben - was mitunter auch an schlichten logistischen Problemen liegen mag. So führt das Kritiker-Ranking etwa noch immer der Eröffnungsfilm des Festivals, das Musical „La La Land“ an, aber es ist eher unwahrscheinlich, dass zum Beispiel Emma Stone für ihre brillante Darstellung einen „Coppa Volpi“ bekommen wird. Dafür sollte sie nämlich nach Möglichkeit anwesend sein, und es erscheint unrealistisch, dass Stone noch ein zweites Mal nach Venedig reist, nur um sich diesen Preis abzuholen.
Wer böte sich also an? Am besten jemand, der sowieso noch in der Stadt ist, also einen relativ späten Auftritt beim Festival hatte. Natalie Portman zum Beispiel. Sie spielt in „Jackie“ des Chilenen Pablo Larrain („No!“) die von Trauer völlig übermannte Jackie Kennedy, die eine Woche nach JFKs Ermordung einem Journalisten ein Interview gibt und dabei verzweifelt und erfolglos um Fassung ringt. Larrain inszeniert sein US-Filmdebüt als frontalen Blick auf die zerrissene Gefühlswelt seiner Protagonisten, die irgendwo festhängt zwischen dem Schock über die Gehirnteile ihres Mannes, die ihr in Dallas plötzlich um die Ohren flogen, zwischen dem Mannsbild und Vater Kennedy, dessen zahlreiche Affären hier auch durchklingen und zwischen dem Erbe, das der tote Präsident hinterlassen soll. Jackie versucht in diesen vier erzählten Tagen nach dem Tod ihres Mannes alles, um an seinem Bild in der Nachwelt zu arbeiten, das man heute kennt, das damals aber auch in eine andere Richtung hätte geschrieben werden können. Larrain ist formal wie inhaltlich die Abbildung eines Getöses gelungen, man kann es nicht anders sagen, und auch deshalb heulen hier die Streicher verzweifelt jammernd über den Score, und auch deshalb beherrschen sich Portmans traurige Gesichtszüge so stark, man könnte meinen jede Träne würde sofort versteinern. Es ist grandios und abstoßend zugleich.
Jemand wie Terrence Malick hat solche filmischen Ausrufezeichen nicht nötig, denn seit seinem „Tree of Life“, für den er 2011 (wie immer in Abwesenheit) in Cannes die Goldene Palme erhielt, befasst sich dieser Einzelgänger des Kinos vermehrt mit der Sinnsuche in Bezug auf Leben, Liebe und Mutter Natur. Letztere ist Gegenstand seiner essayistischen Betrachtung „Voyage of Time“, die in perfekt animierten Hochglanz-Bildern von Urknall und Zellteilung, vom Universum und dem Leben philosophiert, mit einer Anrufung an die „Mutter“, aus dem Off, stimmig vorgetragen von Cate Blanchett, die mit „Oh Mutter“ immer auch das Schöpferische, das Göttliche meint, es aber nicht religiös formuliert, sondern sehr menschlich. Die Schöpfung als 90-minütiger Trip in ein fantastisches Bilder-Sammelsurium, dass man dann und wann auch bei „Universum“ im Fernsehen sehen kann, dann aber natürlich ohne Blanchetts sehnsüchtiges Hauchen.
Es gibt auch etliche potenzielle Preisträger unter weniger bekannten Wettbewerbsteilnehmern, darunter etwa das Sexismus- und Homophobie-Drama „La Región Salvaje“ des Mexikaners Amat Escalante, der darin auf absurde Weise zeigt, welche Auswirkungen das Unterdrücken unserer sexuellen Wünsche haben kann. Ein Monster kommt darin auch vor. Nicht weniger absurd der argentinische Beitrag „El ciudadano ilustre“ von Mariano Cohn und Gastón Duprat, der von einem Schriftsteller erzählt, der nach vielen Jahren in seine Heimat zurückkehrt, wo ihm allerdings nicht nur Wohlwollen entgegenschlägt, was sich bis zur Eskalation steigert. 

„Spira Mirabilis“, eine dokumentarische Bildersammlung der Italiener Massimo D ’Anolfi und Martina Parenti, arbeitet sich am Mythos von Unsterblichkeit ab, indem sie die Elemente Erde, Luft, Feuer und Wasser aufeinander loslässt: Die scheinbar wahllos zusammengestellten Szenen - von angeblich unsterblichen Quallen bis zur Indianderbestattung - sind dann und wann mit überraschenden Momenten versehen, aber auch dieser Bilderwahn ist bald so abstrakt wie jener von Terrence Malick. Der Wechsel zwischen Abstraktion und konkreter, sehr cineastischer Erzählung, wie etwa in Francois Ozons „Frantz“ oder dem eher verunglückten „The Light Between Oceans“ mit Alicia Vikander, ist ein Merkmal dieser 73. Filmfestspiele. Und so werden am Ende wohl diejenigen ganz oben auf der Gewinnerliste der Jury rund um Sam Mendes stehen, die sonst keiner auf der Rechnung hatte. Schon gar nicht die Kritiker.

(auch in der WZ erschienen)

Mittwoch, 7. September 2016

Nick Cave trauert in 3D

Mit „One More Time With Feeling“, nur heute, am 8. September 2016, in den Kinos zu sehen, verarbeitet Nick Cave den Tod seines Sohnes Arthur.

Von Matthias Greuling, Venedig

Nick Cave ist mit seinem neuen Album „Skeleton Tree“ derzeit in aller Munde. Am heutigen 8. September beschert der australische Musiker seinen Fans ein gewaltiges Zusatzgeschenk in Form eines schwarzweißen Dokumentarfilms in 3D, der nur an diesem Tag weltweit in den Kinos zu sehen sein wird.

Nick Cave (Foto: La Biennale di Venezia)

Hintergrund für die Doku „One More Time With Feeling“ war der Tod von Caves erst 15-jährigem Sohn im Sommer 2015. Damals war Arthur Cave, nach Einnahme von LSD, von einer Klippe gestürzt und tödlich verunglückt. Diese schwere Zeit der Trauer hat Cave nicht nur in seinem Album, sondern auch in besagtem Film verarbeitet, den sein langjähriger Freund Andrew Dominik („Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“) in Szene gesetzt hat. 
„Nick wollte, dass ein Freund diese Arbeit macht, aber einer, der nicht allzu nahe an seinem Familienleben dran ist. Ich war sehr oft in Nicks Zuhause, aber ich war nie der beste Freund, mit dem er alles teilte. Genau das suchte er, um seine Gefühle über den Verlust des Sohnes besser transportieren zu können“, sagt Dominik im Interview mit der Wiener Zeitung beim Filmfestival von Venedig.
Dominik sammelte hunderte Stunden teils sehr intimes Videomaterial, das er zu einem Film verdichtete. „Man muss sich das so vorstellen: Aus 100 Stunden machst du 10, aus 10 machst du zwei, aus zwei machst du 20 Minunten - und dann hast du den ersten Teil deines Films fertig“. Viel Arbeit? „Sehr viel Arbeit!“
Aber der Film ist rechtzeitig fertig geworden und funktioniert nicht nur als Illustration zu Caves neuer Platte, weil er sämtliche Songs (bis auf einen) in Bilder umsetzt, sondern ist auch ein Blick auf eine geschundene Seele. „Ich kann definitiv sagen: So wie hier hat man Nick Cave noch nie gesehen“, verspricht Dominik.
Andrew Dominik (Foto: Katharina Sartena)
Der Regisseur, ein Landsmann des Sängers, hat ihn vor 30 Jahren kennen gelernt. „Wir hatten desselben Drogendealer“, gesteht er. „Nick war damals der wilde berühmte Musiker, der gegen alle Regeln verstieß. Irgendwann lernten wir uns kennen und sind uns über die Jahre hinweg immer wieder begegnet“.
Für „One More Time With Feeling“ hat sich Cave schließlich eine Besonderheit einfallen lassen, um seine neue Platte zu vermarkten. „Nick weiß, dass Musiker Interviews geben müssen, wenn sie neue Tonträger rausbringen“, so Dominik. „Aber nach dem Tod seines Sohnes wollte er verständlicherweise mit niemandem darüber reden. Also hat er diesen Film bei mir in Auftrag gegeben - und nun sitze ich hier und rede darüber“.
Cave hat Dominik den Film „abgekauft“, er wollte die finale Kontrolle über den Look und den Inhalt. „Aber Nick hat meinen Schnitt schließlich nicht verändert“, freut sich Dominik. 
Auch aus dem Off spricht Cave im Film zu seinen Fans, sinniert über das Leben und über den Tod. „Ich gab ihm thematische Vorgaben, er nahm daraufhin all seine Gedanken dazu auf“, so Dominik. „Aus diesem Audiomaterial entstand schließlich der Sound-Teppich und das Voice Over“.
Dass der Film nach seiner Premiere beim Filmfestival von Venedig nur einen einzigen Tag lang im Kino gezeigt wird, ist auch eine Idee des Musikers. „Nick wollte das so. Ob es „One More Time With Feeling“ eines Tages auf DVD geben wird oder ob einzelne Sequenzen als Videos ausgekoppelt werden, das kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist allein Nicks Entscheidung“. 

Die Kinokarten dürften also knapp werden.

(Auch in der WZ erschienen)

Rocco Siffredi: Ein Leben für Pornos und Sex

Rocco Siffredi ist Italiens bekanntester Pornostar und Gegenstand einer ernst gemeinten filmischen Auseinandersetzung mit dem Thema Sex

Von Matthias Greuling, Venedig

Wenn Rocco Siffredi, bürgerlich Rocco Antonio Tano, geboren 1964 in der italienischen Provinz, vor einem steht und die Hände schüttelt, könnte man denken, man hat es mit einem smarten, überaus gepflegten Geschäftsmann zu tun, Anfang 50, gut situiert, seriös und vor allem eloquent. Und genau all das ist er auch, nur das Geschäft, in dem er tätig ist, steht im Verruf. „Ich mache Pornos, seit ich denken kann und die Leute finden es schmuddelig“, sagt Siffredi. „Aber ich wollte meine Sexsucht eben zu meinem Lebensinhalt machen“. 
Rocco Siffredi (Foto: Katharina Sartena)
Siffredi ist das Thema der Doku „Rocco“ von Thierry Demaiziere und Alban Teurlai, die in Venedig ihre Uraufführung außerhalb des Wettbewerbs erlebte und gefeiert wurde. Die beiden Filmemacher haben sich dem „Italian Stallion“ (wie ihn seine Website bewirbt) auf eine sehr persönliche Weise genähert. Rocco, der in knapp 1700 Pornofilmen vor allem zeigen durfte, wie groß sein bestes Stück ist, und auch wie ausdauernd, erzählt hier aus dem Nähkästchen, wie Muttern ihm dereinst den Weg gewiesen hat, als er mit dem Wunsch, Pornostar zu werden, ankam: „Sie meinte: Wenn das wirklich das ist, was du machen willst, dann tu es!“, erzählt Siffredi und sagt: „Meine Mutter war und ist die wichtigste Frau in meinem Leben“. Ein Satz, den die meisten italienischen Männer wohl unterschreiben würden.
Rocco Siffredi rechnet überschlagsmäßig: „Ich habe 1700 Filme gemacht, im Durchschnitt jedesmal drei Frauen gehabt, hinzu kommen die Sonderdrehs an Wochenenden“. Wer rechnen kann, weiß: Dieser Mann hatte sehr früh aufgehört zu zählen. Und außerdem: „Es gab Filme, da war Rocco mit 100 Frauen zugange. Aber glauben Sie mir: Das macht keinen Spaß mehr“.
Rocco Siffredi erinnert sich an die Anfänge: „Das Ganze begann, als ich acht Jahre alt war, damals habe ich zum ersten Mal masturbiert. Und seit damals hat sich das Verlangen nach Sex immer nur noch mehr gesteigert. Als Pornoschauspieler habe ich 20 Jahre lang nicht mitbekommen, dass ich sexsüchtig war. Erst als ich ausgestiegen bin, wurde mir bewusst, wie süchtig ich wirklich bin“. 
Rocco hat seine Sucht zum Beruf gemacht. Seine Website und die Filme verkaufen sich weltweit bestens, ein Dreh mit Rocco hatte den Ruf, „dass sich die teilnehmenden Pornodarstellerinnen danach erst einmal drei, vier Tage Urlaub nehmen mussten“,erzählt sein Cousin im Film, der bei allen Rocco-Produktionen die Kamera führt. Der Italian Stallion hielt, was er versprach. Und gibt den Mädchen, die er hier der Reihe nach flachlegt, auch gleich gute Ratschläge: „Wenn du nicht bereit bist, Analsex-Szenen zu drehen, dann wirst du im Pornogeschäft nur sehr wenige Aufträge bekommen“. 
Für Rocco Siffredi, der bis heute ein Bild seiner verstorbenen Mutter bei sich trägt „und es mindestens einmal am Tag anschaut“, ist die Lust auf Sex auch mit 52 nicht weniger geworden, „ich kanalisiere sie nur anders“, verrät er. Worüber seine Ehefrau, eine ehemalige Make-up-Artistin bei den Pornodrehs, bestens bescheid wisse. Und auch seine zwei Söhne hätten von Anbeginn an gewusst, „was Papa arbeitet. Ich wollte nie ein Versteckspiel spielen“, so Siffredi.
Die Doku „Rocco“ lässt jedenfalls tief blicken in die Seele eines Mannes, der trotz der verpönten Arbeit, der er nachgeht, gar nicht anders konnte, als sie auszuüben. „Meine Frau hat mich immer verstanden, was auch der Grund ist, weshalb wir verheiratet sind. Sie versteht mich wie kein anderer Mensch“. Eifersucht gäbe es keine, denn „Rocco macht ja nur seine Arbeit“, sagt die Gattin einmal im Film.
Bedenklich findet Siffredi allerdings die Weise, wie sich die Pornobranche durch das Internet verändert hat. „Als ich anfing, da gab es in Pornos sogar noch eine Handlung. Heute muss es einfach möglichst rasch zur Sache gehen“, so Siffredi. „Die Auswirkungen auf unsere Jugend, die sich wie selbstverständlich schon im Alter von 12, 13 Jahren diese Pornos auf ihren Smartphones ansehen, wird man erst in 10, 20 Jahren erkennen. Ich halte diese stetige Verfügbarkeit für ein Problem, gegen das kein Gesetzgeber dieser Welt etwas tut“. 
Denn Siffredi hat bei all dem Sex auch ein soziales und moralisches Gewissen. „Wenn bei Veranstaltungen junge Paare auf mich zukommen und mir das Mädchen sagt, ich möge doch bitte ihrem Freund beibringen, wie man sie richtig fest ins Gesicht schlägt, sie fesselt oder sie anspuckt, dann hört für mich der Spaß auf“, sagt Siffredi. „Was die Zuschauer begreifen müssen, ist: Wir Pornodarsteller machen hier keine Sexualkunde und keinen Unterricht. Wir machen eine Form der Unterhaltung“.
Schließen will Siffredi aber mit versöhnlichen Gedanken und auch damit, dass bei seinen Produktionen Frauen niemals unterdrückt oder ausgenutzt wurden. „Es ist ganz im Gegenteil so, dass sie bestimmen, wie weit man gehen darf. Sie sind es, die die Grenzen ziehen, und genau so sollte es sein. Erniedrigung und Unterdrückung haben keinen Platz beim Sex, nur das, was man seinem Gegenüber zu dessen Befriedigung schenken kann“. 
Das klingt nach einer heilen Welt. Im Netz lässt sich kinderleicht nachprüfen, wie Roccos Frauen so drauf sind.

(Auch in der WZ erschienen)