In Cannes hat ein Film
schon am zweiten Festivaltag all das vergessen lassen, was man hier gemeinhin
unter dem Begriff des Festival-Trubels subsumiert: All die Partys, die Empfänge,
die Galas und die roten Teppiche - darauf hat keine Lust mehr, wer "Saul
Fia" des ungarischen Regisseurs László Nemes gesehen hat.
"Saul Fia" von László Nemes (Foto: Festival de Cannes) |
Nemes
war lange Zeit Assistent seines Landsmanns Bela Tarr, und das merkt man auch:
Seine Arbeit ist in mehrerlei Hinsicht äußerst bemerkenswert - sowohl formal
als auch inhaltlich. "Saul Fia" ("Der Sohn des Saul") dreht
sich um den KZ-Häftling Saul Ausländer (Geza Röhrig), einen ungarischen Juden,
der in einem "Sonderkommando" im KZ die Arbeit verrichtet, für die
sich die Deutschen zu vornehm sind: Man räumt die Taschen der gerade
angekommenen Juden leer, nachdem sich die Tore zur Gaskammer schließen, und hinterher
schrubbt man den Raum frei von all dem Erbrochenen, beseitigt diese Spuren des
Todeskampfs und schleift die Leichen aus dem Raum.
László Nemes (Foto: Katharina Sartena) |
Das
völlig Entmenschlichte abzubilden, das war für viele bisher ein Tabu, und noch
niemand hat es so drastisch getan wie dieser László Nemes, ein Regie-Debütant,
dem hierfür nichts weniger als die Goldene Palme gebührt, weil er selbst mit
dem Abbild dieses Massenmordes hadert: Wir erleben die Geschichte von Saul
stets in Close-ups, die ihn in langen Einstellungen von hinten, der Seite und
seltener auch von vorne durch das Lager begleiten. In streng kadrierten
4:3-Bildern, gedreht (und - Rarität- vorgeführt!) auf 35mm, ergibt sich ein
Bild des Grauens aus dem Spiel mit der Tiefenschärfe. Weil der Fokus stets auf
Saul selbst liegt, nie aber auf dem Grauen, das er durch seine Augen sieht,
bleibt vieles, was sich da unscharf im Hintergrund abspielt, zu einem gewissen
Teil auch Projektionsfläche für den Zuschauer. Es gibt selten Filme, die ihre
Stilistik so sehr mit dem Thema verzahnen und diese Paarung derart konsequent
durchführen wie dieser.
Auch
Nemes zeigt das Unzeigbare nicht; er belässt es in einer grauenerregenden
Unschärfe. So hat man den Holocaust noch nie gesehen: voller Unruhe, Angst und
Terror. Ein Film, der vieles der eigenen Fantasie überlässt und der in Ansätzen
so grausam ist, wie es die Erinnerungen der Überlebenden gewesen sein müssen.
Matthias Greuling, Cannes
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