In Cannes
möchte man in diesem Jahr gerne aus Konventionen ausbrechen. Denn so ganz
klischeefrei, tolerant, weltoffen und routiniert, wie man sich hier gerne gibt,
ist die Filmschau nicht. Zu lange hat man in Cannes auf die großen, überwiegend
männlichen Namen der Filmgeschichte gesetzt, und dabei übersehen, dass dies
auch mit Protesten gegen diese einseitige Programmierung einhergehen kann. So
wie vor zwei Jahren, als man im Programm weibliche Regisseure mit der Lupe
suchen musste.
Catherine Deneuve mit Emmanuelle Bercot. (Foto: Katharina SartenaI |
Und so hat
Thierry Frémaux, der künstlerische Leiter des Festivals, den Altherrenclub ein
wenig anderen Einflüssen geöffnet, auch, wenn man nur ein paar Spuren davon
wirklich zu spüren kriegt.
Da ist zum
Beispiel die Goldene Ehrenpalme für Agnès Varda, diese noch immer höchst agile
alte Dame der Nouvelle Vague, deren Mitglied sie eigentlich nie war. Cannes
zollt ihr erst Tribut, nachdem man Varda bereits bei anderen Filmschauen
gewürdigt hat, darunter auch bei der Viennale und im Vorjahr in Locarno.
Dann gibt
es in diesem Jahr gleich mehrere Filme in der offiziellen Auswahl, die von
Frauen inszeniert wurden - leider ein Umstand, auf den man in Cannes gesondert
hinweisen muss. Das einstige Model Maiwenn, hier schon vor einigen Jahren mit
ihrem Regieerstling „Polisse“ im Wettbewerb, bringt ihre neue Arbeit „Mon roi“
mit, ebenso wie die Französin Valerie Donzelli, die „Marguerite & Julien“
im Wettbewerb zeigt. Nathalie Portman darf außerhalb des Wettbewerbs ihr
Regiedebüt „A Tale of Love and Darkness“ zeigen. Und als Eröffnungsfilm
erwählte Frémaux das Sozialdrama „La tête haute“ (dt. Erhobenen Hauptes), den
Schauspielerin und Regisseurin Emmanuelle Bercot gedreht hat.
Normalerweise
ist der prestigeträchtige Platz für den Eröffnungsfilm am ersten Abend des
Festivals reserviert für bombastische Filmspektakel oder opulente Romanzen aus
Hollywood, aber Frémaux ging diesmal bewusst einen anderen Weg. In „La tête
haute“, der außer Konkurrenz gezeigt wird, begegnet eine Jugendrichterin dem
als schwer erziehbar eingestuften Malony (Rod Paradot), der von seiner hysterischen,
drogensüchtigen Mutter (Sara Forestier) vernachlässigt wird und sich darob zu
einem Kind der Straße entwickelt. Früh schon stiehlt er Autos und unternimmt
damit folgenreiche Spritztouren, landet in Jugendhaft und in Heimen, die helfen
sollen, den gewalttätigen Burschen zu resozialisieren. Vieles an „La tête
haute“ wirkt ein wenig konstruiert und klischeegetränkt, dafür agiert wiederum
das Ensemble außergewöhnlich stark. Im Unterschied zu sozialer Tristesse, die
solchen Filmen meist innewohnt, entwirft Bercot dann doch einen Funken
lebensbejahende Hoffnung.
Wenn es
dieses Jahr schon kein Blockbuster ist – die Stars gibt es am roten Teppich
beim Eröffnungsfilm trotzdem: In „La tête haute“ spielt nämlich neben Forestier
und Benoît Magimel auch Catherine Deneuve (als Jugendrichterin) mit. Wann immer
diese große Diva des französischen Films irgendwo auftaucht, sind ihr die
Titelseiten sicher.
Allein: Mit
„La tête haute“ entfacht Cannes nicht unbedingt internationale Strahlkraft.
Cannes, die 68., hat den Vorhang mit einem Stück Provinzkino geöffnet. Auch das
ist ein Bruch mit der Konvention.
Matthias Greuling, Cannes
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