Das Filmfestival von Locarno ist für sein künstlerisch
hochwertiges (und darob manchmal auch sperriges) Wettbewerbsprogramm bekannt.
Auch die 69. Ausgabe der Filmschau im Tessin macht da keine Ausnahme:
Festivalleiter Carlo Chatrian zeigt abseits der Piazza Grande, die für die
populäreren Filme reserviert ist, Filmkunst auf höchstem Niveau. Zugleich ist
auch der Anteil von Filmen, die von Frauen gemacht wurden, überdurchschnittlich
hoch. Kein anderes A-Festival der Welt zeigt so viele Regiearbeiten von Frauen
wie dieses.
"Inimi cicatrizate" des Rumänen Radu Jude (Foto: Festival Locarno) |
Qualitätsmerkmal ist das per se noch keines, aber da hat
Locarno ohnehin längst den Diskurs erreicht, in dem Kritiker laut über zu viel
oder zu wenig Anspruch klagen, je nachdem, für welches Medium sie arbeiten.
Im Hauptbewerb um den Goldenen Leoparden, der heute,
Samstag, in Locarno verliehen wird, sind jedenfalls spröde, zugleich auch
kurzweilige, humorvolle Arbeiten mit Tiefgang zu finden. So hat die
Argentinierin Milagros Mumenthaler mit "La idea de un lago"
beschrieben, wie Persönliches oft von größeren Zusammenhängen bestimmt wird.
Eine schwangere Fotografin will vor der Geburt ihres Kindes mit der eigenen
Kindheit abschließen und ein Fotoalbum zusammenstellen. Darin ist auch die
einzige Aufnahme ihres Vaters zu finden, der seit Beginn der Militärdiktatur
spurlos verschwunden ist. Der Vater auf dem Foto, das an einem See aufgenommen
wurde, ist Projektionsfläche und Sehnsuchtspunkt gleichermaßen. Mumenthaler
lässt ihre Figuren keine Traurigkeit empfinden, aber doch einiges an Wehmut.
Wehmütig sollte auch der erst 29-jährige
Knochentuberkulose-Patient aus "Inimi cicatrizate" des Rumänen Radu
Jude sein. Der liegt nämlich einkaserniert in einem Sanatorium an der
Schwarzmeerküste darnieder, fest einbandagiert und ans Bett gefesselt. Die Zeit
des Siechtums bis zum absehbaren Ende wird hier aber nicht mit Trübsal gefüllt,
sondern mit Lebenslust kompensiert, bei der auch die Liebe zu einer Patientin
eine Rolle spielt. Radu Jude verleiht dem auf dem autobiografischen Roman
"Vernarbte Herzen" des rumänischen Schriftstellers Max Blecher
basierenden Film eine sympathisch-groteske Note, die "Inimi
cicatrizate" zu einem der Favoriten macht.
Ebenso humorvoll und ein Stück weit grotesk ist "Mister
Universo" des österreichischen Filmerpaares Tizza Covi und Rainer Frimmel.
Ein Zirkusdompteur geht auf die Suche nach seinem verlorenen Talisman und
bereist dafür halb Italien, bis er den ehemaligen Mister Universum ausfindig
macht, der ihm den Glücksbringer einst geschenkt hat. Unterwegs schildern Covi
und Frimmel in gewohnt dokumentarischen, aber nie zu distanzierten Bildern, wie
der Dompteur zwischen Bangen und Hoffnungslosigkeit pendelt, denn Aberglaube
ist ein gewichtiger Faktor im Zirkus. Die Welt außerhalb des Zirkuszelts ist
ein Italien der Stadtränder und Peripherien, der Armut und des Chaos, und doch
ist "Mister Universo" ein zutiefst optimistischer Film: Und zwar
einer, der sich wundersamen Phänomenen verschreibt und wo sogar das Wasser
bergauf fließen kann.
Aberglauben und Humor gibt es auch in "O Ornitólogo"
des Portugiesen João Pedro Rodrigues über einen Vogelkundler, dessen Reise in
die Wildnis auf ganz famos humorvolle Weise auch eine Reise zu sich selbst wird.
Matthias Greuling, Locarno
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