Auf Herrn Manfred ist Verlass. Der (mittlerweile
pensionierte) Barkeeper eines Grazer Innenstadthotels kehrt einmal im Jahr in
seinen früheren Beruf zurück, um die Gäste der Diagonale mit dem von ihm
kreierten „Kalaschnikov“ zu versorgen. Ein kleiner Shot aus Wodka, Kahlua und
Zitrone, der es beim Filmfestival längst zum Kultgetränk gebracht hat. Jeder
hier hat einen der Festivalabende schon einmal mit ein paar Kalaschnikovs
beendet. Es ist wie ein Ritual.
"Talea" von Katharina Mückstein. Foto: Diagonale |
Wenn Rituale und Kontinuitäten fehlen, dann gerät der Mensch
aus dem Gleichgewicht. Das zeigt sich in Graz nicht nur im diesmal verregneten
Wetter (sonst sitzt man hier um diese Zeit in der Sonne), sondern auch im
Programm. Eine Reihe von Erstlingsfilmen, aber auch die Arbeiten arrivierter
Filmemacher befassen sich mit diesem Thema, darunter auch die Debütantin
Katharina Mückstein, die an der Wiener Filmakademie bei Haneke Regie studiert
hat. In „Talea“ erzählt sie die einfache
und doch menschlich komplizierte Geschichte der 14-jährigen Jasmin (talentiert:
Sophie Stockinger) und ihrer gerade aus der Haft entlassenen Mutter Eva (Nina
Proll). Die Annäherung zwischen den beiden ist geprägt von der Absenz jeglicher
Kontinuität, die ein Kind in Jasmins Alter so dringend nötig hätte. Bei einer
Reise aufs Land versuchen sie, sich zu finden: Ihre Nähe zueinander entwickelt
sich aber nur recht zaghaft. Mückstein setzt ihre unspektakuläre filmische Identitätssuche
in beinahe schon bedrückend schöne, dichte Bilder um, in denen ihre beiden
Darstellerinnen wie in einer Blase kurz die Welt um sich herum vergessen und
jede Angst vor einer Zukunft ohne Kontinuität absorbieren.
All das, was zu den landläufig als lebensnotwendig
erachteten Kontinuitäten gehört, führt ein anderer Erstlingsregisseur in seinem
Debüt „Soldate Jeanette“ ad absurdum: Daniel Hoesl zeigt die einst vermögende
Fanni (Johanna Orsini-Rosenberg) beim Abstreifen jeglichen Reichtums; sie wird
zwangsdelogiert, weil sie mit der Miete im Rückstand ist. Sie wird mehr und
mehr die Sicherheit, die ihr das Vermögen gab, durch eine andere Art von Lebenskontinuität
ersetzen: Zum Glück braucht es keine materiellen Güter – eine alte Weisheit,
die Hoesl aber in eine innovative Erzählstruktur taucht, die sich angenehm
radikal von dem von Stuck und Konservativismus geprägten, muffigen Wien abhebt.
„Soldate Jeanette“, begonnen ohne Drehbuch, für nur 65.000 Euro realisiert und
mittlerweile Preisträger beim Filmfestival Rotterdam, ist ein stilistischer
Durchbruch zu neuen Ufern. Hoesls Frauenfiguren haben eine Intensität wie jene
bei Fassbinder, und sie spucken dem Materialismus mit ganzer Kraft ins Gesicht.
Wider die Kontinuität im Sinne der Wiederholung immer gleicher Fehler, das bedeutet:
Sich wirklich treu zu bleiben.
Treu bleibt sich auch Caspar Pfaundler. Er zeigt in „Gehen
am Strand“ die Befindlichkeit der Studentin Anja (einnehmend: Elisabeth
Umlauft), die mit der Finalisierung ihrer Diplomarbeit hadert und sich
zunehmend sozial isoliert. Die Isolation erhält lebensbedrohlichen Charakter,
eine Reise ans Meer bietet Anja die Chance auf eine Rückkehr ins „normale“
Leben. Pfaundler ist gewohnt sensibel im Vortrag seiner simplen Geschichte. Wie
er auch schon in seinem letzten Film „Schottentor“ mit größtmöglicher Präzision
versucht hat, existenzielle Nöte einzufangen, gelingt ihm das auch hier
vortrefflich.
Zwei Dokus sprechen auf der Diagonale vom Kontinuum des
eigenen Willens: „Schlagerstar“ von
Marco Antoniazzi und Gregor Stadlober folgt dem Volksmusiker Marc Pircher durch
Bierzelte, Autogrammstunden, Lederhosenromantik. Keine Musiksparte macht mit
Konzerten und CD-Verkäufen mehr Geld als die Volksmusik, aber der Traum, den
Pircher lebt, ist hart erkämpft: Lächeln und gute Laune sind obligatorisch, und
zwar 24 Stunden täglich, kontinuierlich. Die Doku macht sich über ihren
Protagonisten niemals lustig, auch wenn vieles hier belächelt werden könnte.
"Robert Tarantino" von Houchang Allahyari. Foto: Diagonale |
Ähnlich ist das in Houchang Allahyaris „Robert Tarantino“,
einer Doku über einen leidenschaftlichen Wiener Trash-Filmer, die ebenfalls den
Respekt wahrt und sich nicht über die Splatter-Horror-Filme lustig macht, die
„maximal 40 Euro kosten, für das bisserl Kunstblut“. Sein Künstlername ist
seinen Vorbildern Robert Rodriguez und Quentin Tarantino geschuldet, in deren
Liga er so gerne spielen würde. Allahyari hat den Traum von Hollywood aber
schnell heruntergebrochen auf die ursprünglichste Sehnsucht nach Kontinuität:
Robert Tarantino verliebt sich in die Hauptdarstellerin seines neuesten Films.
Eine unerhörte Liebe, ein großer Schmerz.
Ein Kalaschnikov von Herrn Manfred könnte über einen solchen
Schmerz hinweghelfen. Aber nicht kontinuierlich, sondern nur vorübergehend.
Matthias Greuling
Dieser Beitrag ist zuerst in der "Wiener Zeitung" erschienen.
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