Die Berlinale bemüht sich, diesem Anspruch gerecht zu
werden, allerdings nicht ganz mit Erfolg. Auch die kompromissloseste Arbeit
muss keine gelungene sein, wie man das im diesjährigen Wettbewerb feststellt.
Wong Kar-wais Eröffnungsfilm „The Grandmaster“ (außer Konkurrenz) ist ein
120-minütiger Kampfsportunterricht quer durch die Vielfalt asiatischer
Körperverrenkungen – mehr aber auch nicht. Zwar fotografiert Wong Kar-wai (er
ist heuer auch Jurypräsident) die Kampfhandlungen in wunderbaren Bildern, aber
hinter der immerzu brillanten visuellen Umsetzung macht sich in warmfarbenen
Schauwerten schnell Leere und – für unsere Breiten – Unkenntnis der
historischen Zusammenhänge breit. Wong
Kar-wai gilt als Kompromissloser, aber das ist nicht gleichbedeutend mit
Qualität.
James Franco als Hugh Hefner in "Lovelace" (Foto: Berlinale) |
Auch Ulrich Seidl gehört zu den Kompromisslosen. Man hat dem
beliebten Provokateur nur allzu gerne die Bühne für den Abschluss seiner
„Paradies“-Trilogie geboten, doch sein Film „Hoffnung“ über eine 13-jähriges
Mädchen, das sich im Diät-Camp für dicke Teenager in ihren 50-jährigen Arzt
verliebt, ist in Berlin überwiegend als der schwächste der drei Teile der
Trilogie bezeichnet worden.
„Paradies: Hoffnung“ ist der kürzeste Film der Trilogie,
aber auch in den 90 Minuten seiner Laufzeit gibt es immer wieder repetitive
Elemente, die – wie schon bei den Vorgängerfilmen – vor allem von der
ursprünglichen Struktur des Projekts herrühren: Seidl wollte aus allen drei
Geschichten einen Episodenfilm machen, doch die Fülle seines Materials
verleitete ihn dazu, es mit drei Filmen in Spielfilmlänge zu versuchen. Mit dem
Nachteil einer schwerfälligen Struktur, die am besten in „Glaube“ funktioniert,
sonst aber etliche dramaturgische Leerstellen aufweist. Umgekehrt könnte man
sagen: Das Spiel mit der Erwartungshaltung nach einem „Skandalfilm“ hat gefruchtet,
zumindest, was die Aufmerksamkeit für den österreichischen Film betrifft, den
Berlinale-Chef Dieter Kosslick als „mutig und durchaus in der Lage, mehr
Selbstvertrauen zu haben“, bezeichnet.
Seidl hat mit „Paradies: Hoffnung“ nicht enttäuscht, aber
eben auch nicht überrascht. Als Künstler muss er das nicht, solange er seinen
eigenen unkorrumpierbaren Weg geht, aber ein Festival wie die Berlinale braucht
Überraschungen.
Die bekommt es leider auch nicht aus Deutschland. Der
deutsche Film bei der Berlinale hat einen beinahe noch schlechteren Stand als
der heimische in Österreich. Das deutsche Feuilleton ist bekannt für seine
lautstark (und zurecht) geäußerte Skepsis gegenüber deutschen
Wettbewerbsbeiträgen. Thomas Arslans „Gold“ mit Nina Hoss in der Hauptrolle ist
wieder so ein Problemfall des neuen deutschen Innovationsdrangs. Es geht um
eine Gruppe von Deutschen, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Amerika
auswandern und dort am Klondike nach Gold suchen wollen, zu einer Zeit, als die
Nuggets noch hühnereigroß waren und den mittlerweile zerstörten Mythos vom
kapitalistischen Amerika festigten. Es wird viel geritten in diesem Film und
dabei auf der Tonspur nervtötendes Gitarrenwummern abgelegt. Arslan beschreibt
die Reise der Goldgeilen, nicht etwa die Goldsuche an sich. Der Weg zum Klondike
ist beschwerlich, und in der Gruppe gibt es Spannungen – doch all das
inszeniert Arslan mit plakativen, sehr konstruiert aneinandergereihten Szenen,
der man in Spiel, Dekor und Duktus die Künstlichkeit ansieht. Der Weg ist das
Ziel? Nein, eher der Schlaf.
Auch international ist es mit der Innovationsfreude, der
Provokation, der Frische nicht weit her: Gus van Sant verfilmte mit „Promised
Land“ einen Öko-Thriller von und mit Matt Damon, der durchwegs einnehmend, aber
auch sehr vorhersehbar wirkt. Frederik Bond scheitert an seinem konfusen
All-Star-Sammelsurium „The Necessary Death of Charlie Countryman“ – da nützt
auch die Mitwirkung von Shia LaBeouf, Til Schweiger oder Mads Mikkelsen nichts.
Nur abseits des Wettbewerbs tut sich so manche
Experimentierfreude auf: Sex in allen Spielformen ist hier das große Thema –
als gäbe es keine anderen Erregungen als nackte Haut und entsprechend
schlüpfrige Dialoge. Schauspieler Joseph Gordon-Levitt hat mit seinem
Regiedebüt „Don Jon’s Addiction“ sich selbst in der Rolle eines Porno-Süchtigen
vortrefflich besetzt; der Film macht keinen Bogen um fleischliche Provokation,
und auch, wenn Vieles hier noch nach Anfängerfehlern aussieht, so ist „Don
Jon’s Addiction“ zumindest in Ansätzen, was man erregt und sexy nennen darf.
Rein künstlerisch natürlich.
Eine sexuelle Provokation führt auch Sara Forestier in
Jacques Doillons „Love Battles“ vor, in dem sie mit viel Körpereinsatz und der
perversen Lust am Schlagen und Geschlagen werden zum Höhepunkt kommt. In
„Lovelace“ von Rob Epstein und Jeffrey Friedman wiederum ist Amanda Seyfried
als die bekannte 70er-Jahre-Pornoqueen Linda Lovelace im „Einsatz“ und wird von
James Franco in der Rolle des jungen Hugh Hefner hofiert. Franco wiederum hat als
Regisseur mit „Interior: Leather Bar“ die dereinst aus dem 80er-Jahre-Thriller
„Cruising“ entfernten Schwulenszenen nachgestellt, die ihrer expliziten Machart
zum Opfer fielen.
Sex kann also noch immer ein bisschen provozieren. Die
erhofften, riskanten Impulse für das Weltkino bringen aber auch diese Filme
nicht. Wer will schon riskieren? Investoren sicher nicht. Denn die haben noch
immer ganz weiche Knie von der Krise. Schon beim Sparbuch lernen wir: Wer auf
Nummer Sicher geht, behält sein Geld. Aber reich wird er nicht. Das gilt auch
für die Filmkunst.
Matthias Greuling, Berlin
(Dieser Text erschien in einer modifizierten Fassung auch in der "Wiener Zeitung")
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