Samstag, 31. August 2013

Venedig 2013: NIGHT MOVES von Kelly Reichardt REVIEW

„Night Moves“ heißt ein Boot, in diesem Film von Kelly Reichardt. Es wird vollgestopft mit einer hochexplosiven Mischung aus Ammoniumnitrat-Dünger und Treibstoff, hernach an der Wand eines Staudamms platziert und in die Luft gejagt. Der Damm bricht, es ist Nacht, niemand soll zu Schaden kommen. Und doch ist es am nächsten Tag Gewissheit: Ein Camper wird vermisst, bald darauf seine Leiche geborgen.

Jesse Eisenberg in "Night Moves". Foto: La Biennale di Venezia
Die Schiffsbombe, sie ist das Werk dreier Umweltaktivisten, die nicht mehr länger zusehen wollen, wie die Amerikaner mit ihren Ressourcen umgehen: Der hydroelektrische Damm, den sie zerstören, erzeugt den Strom, der in Millionen All-American Homes tagtäglich für die permanent laufenden Riesen-Flatscreens verschwendet wird und für die Springbrunnen in den hübsch und kitschig zurecht gemachten Gärten.

Sehr früh in diesem asketisch und doch facettenreich gestalteten Film wird klar, dass die Aktivisten Josh (Jesse Eisenberg), Dena (Dakota Fanning) und Harmon (Peter Sarsgaard) nicht mit der Schuld leben werden können, die sie sich mit ihrer Aktion aufgeladen haben: Dena ist die Schwachstelle im Trio, mit ihr bricht schließlich der emotionale Damm aus Verlogenheit und Tatsachen-Negierung, mit fatalen Folgen für sie.

Kelly Reichardt, die besonders in ihrem letzten Film „Meeks Cutoff“ mit ihrer sparsamen, aber dafür umso effektiveren Inszenierungsweise gefiel, hat in „Night Moves“ ihren Stil perfektioniert. Erneut ging sie für ihre Geschichte von einer Landschaft und ihrer Eigentümlichkeit aus, diesmal aber ist es nicht die Prärie, sondern ein rurales Gebiet, irgendwo im US-Bundesstaat Oregon. Da, wo die Farmer Broccoli und Kürbisse anbauen und von der Welt nicht viel wissen: Für einen Blick ins Internet müssen sie in die Stadt fahren, zur öffentlichen Bibliothek, wo ein Computer steht. Das Setting ist urtümlich, aber doch bedrückend: Die Naturverbundenheit auch dieser Menschen endet beim Dünger, den sie von den großen Nahrungsmittelkonzernen per Vertrag aufgedrückt bekommen, um die Perspektive einer konventionellen Landwirtschaft mit stetig wachsendem Ertrag zu erfüllen.

Das ist zwar niemals Thema in „Night Moves“, jedoch schleicht sich diese Zustandsbeschreibung unserer absurd gewordenen Komfortwelt zwischen Naturausbeutung und Ertragssteigerung in jede Einstellung ein. Reichardt benutzt für das Thema die Charakteristika eines Suspense-Thrillers der alten Schule: Leicht pulsierende Sounds begleiten die Aktivisten vor und nach der Tat; das Unheilvolle liegt in der Luft. Niemals kommen sie zur Ruhe, in dieser von absoluter Ruhe geprägten ländlichen Gegend. Zu schwer wiegt bei Dena das Gewissen, etwas Unrechtes mit Unrecht bekämpft zu haben, und zu kaltschnäuzig ist Joshs Reaktion darauf. Er will für eine große Sache kämpfen, und da gibt es eben Kollateralschäden.

Beachtlich ist, wie mühelos Reichardt auf der Klaviatur des Spannungskinos spielt, ohne je bemüht zu wirken und zugleich dem ausgetretenen Pfad einer klassischen Thriller-Inszenierung ausweicht. Es geht um große, hehre Ziele, um politisch motivierten Aktionismus, der von illegalen Taten befeuert wird; es geht um die Konsequenzen einer tödlichen Tat und um die Kälte, mit der sie ausgeführt wird. Prinzipientreue ist in „Night Moves“ nicht nur Motor und unbedingte positivistische Lebenseinstellung; sie ist auch ein Zustand, der ins Verderben führt.
Matthias Greuling, Venedig

Dienstag, 6. August 2013

Locarno 2013: Kein neuer Weg trotz neuem Chef

Carlo Chatrian (Foto: Festival Locarno)
Vieles, was ein Festival auszeichnet, steht und fällt mit seinem künstlerischen Leiter. Carlo Chatrian ist ein neuer Name auf der recht engen Bühne der internationalen Filmfestivals. Er leitet seit kurzem das Filmfestival von Locarno, das heute Abend mit der US-Actionkomödie „2 Guns“ (mit Denzel Washington und Mark Wahlberg) eröffnet wird. Sein Vorgänger Olivier Père hat es nach drei Jahren im Tessin zu Arte France Cinema gezogen; Père hatte Locarno in seiner kurzen Amtszeit viel Glamour beschert – seine exzellenten Kontakte in Hollywood-Kreisen brachten große Namen wie Daniel Craig oder Harrison Ford hierher. Das ist fürs Erste vorbei: Chatrian ist keiner, der das Kino als Spielstätte des Glamours begreift; lange Jahre schon ist der 42-jährige Italiener Mitarbeiter und Kurator in Locarno. Er gestaltete bisher die Retrospektiven, saß im Filmauswahlkomitee und ist als Filmkritiker, Journalist, Essayist, Buchautor und Programmierer zahlreicher weiterer Filmschauen tätig. Ein Mann, der aus der Filmtheorie kommt, kein Praktiker, sondern einer, der gerne von Vielfalt im Diskurs über das Filmschaffen spricht. Es geht ihm um „die vielgestaltigen Realitäten des Filmschaffens“, nicht um die Quote, nicht um Aufreger, sondern um „Impulse, die dazu anregen, die Welt zu entdecken“, durch die Augen der Filmkamera.
Soweit die Theorie. Chatrian hat potenziellen Skeptikern schon im Vorfeld den Wind aus den Segeln genommen: Allzu viele Weichenstellungen werde es nicht geben, im Wesentlichen bliebe Locarno eine Filmschau der Entdeckungen und Überraschungen, nur das mit den Stars, das ist Chatrians Sache nicht. Hollywood bleibt in diesem Jahr zuhause,  mit den Alt-Stars Christopher Lee, Jacqueline Bisset  und Faye Dunaway kommen aber doch prominente Namen nach Locarno. Auf der Piazza Grande mit ihrem 8000 Zuschauer fassenden Open-Air-Kino bringt man traditionell die populäreren Filme, darunter die belgisch-deutsche Komödie „Vijay and I“ mit Moritz Bleibtreu, die Jennifer-Aniston-Komödie „We Are the Millers“ oder „Wrong Cops“ mit Marilyn Manson. Brisant dürfte „L’éxperience Blocher“ sein, eine Doku, die den umstrittenen Schweizer Rechts-Politiker Christoph Blocher begleitet. Blocher, sonst kein Fan des Festivals, soll sich zur Premiere des Films am 13. August persönlich angesagt haben.
Im Wettbewerb stehen dieses Jahr 20 Filme aus dem zeitgenössischen Autorenkino, mit neuen Arbeiten von Emmanuel Mouret, Sangsoo Hong, Shinji Aoyama, Thomas Imbach oder Claire Simon. Die Verfilmung von Charlotte Roches „Skandalbuch“ „Feuchtgebiete“ (Regie: David Wnendt) hat es wohl vor allem deshalb in den Wettbewerb geschafft, weil Hauptdarstellerin Carla Juri eine gebürtige Tessinerin ist. Das Thema des Films – von Hämorrhoiden über Analfissuren bis zu ausgefallenen Sexualpraktiken – ist wie geschaffen für einen Aufreger: So ganz an der Quote vorbei kann selbst Carlo Chatrian nicht.
Matthias Greuling
Dieser Beitrag ist in einer ausführlicheren Version auch in der "Wiener Zeitung" erschienen.